Tut endlich was!
Höret des Herrn Wort, ihr Herren von Sodom! Nimm zu Ohren die Weisung unsres Gottes, du Volk von Gomorra! Was soll mir die Menge eurer Opfer?, spricht der Herr. Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fettes von Mastkälbern und habe kein Gefallen am Blut der Stiere, der Lämmer und Böcke. Wenn ihr kommt, zu erscheinen vor meinem Angesicht – wer fordert denn von euch, dass ihr meine Vorhöfe zertretet? Bringt nicht mehr dar so vergebliche Speisopfer! Das Räucherwerk ist mir ein Gräuel! Neumond und Sabbat, den Ruf zur Versammlung – Frevel und Festversammlung – ich mag es nicht! Meine Seele ist feind euren Neumonden und Jahresfesten; sie sind mir eine Last, ich bin's müde, sie zu tragen. Und wenn ihr auch eure Hände ausbreitet, verberge ich doch meine Augen vor euch; und wenn ihr auch viel betet, höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Blut. Wascht euch, reinigt euch, tut eure bösen Taten aus meinen Augen. Lasst ab vom Bösen, lernt Gutes tun! Trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führt der Witwen Sache!
(Jesaja 1,10–17)
„Heute findet hier kein Gottesdienst statt, liebe Gemeinde. Ich muss Sie daher bitten, die Kirche umgehend wieder zu verlassen. Sind Sie gekommen, um Worten wie Orgeltönen zu lauschen? Suchen Sie Trost? Gemeinschaft der Heiligen? Vergebung der Sünden? Ich muss Sie enttäuschen. Gehen Sie jetzt bitte. Aber nehmen Sie Folgendes mit auf den Weg: Begehen Sie eine gute Tat. Jetzt gleich, auf der Stelle. Sie haben eine knappe Stunde Zeit, so lange wie dieser Gottesdienst gedauert hätte, für den Sie sich die Zeit ja auch genommen haben. Sie denken, ich sei übergeschnappt? Ich hätte mich nicht vorbereitet? Ich drückte mich vor dem Predigen? Mitnichten, meine Damen und Herren, Gott selbst hat das durch den Propheten Jesaja so angeordnet. Er will heute keinen Gottesdienst. Es ist ihm leid. Hier ist sein Auftrag, hört nur genau hin: „Wascht euch, reinigt euch, tut eure bösen Taten aus meinen Augen, lasst ab vom Bösen! Lernet Gutes tun, trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führet der Witwen Sache.“ Und nun ein bisschen plötzlich, wenn ich bitten darf, die Zeit läuft. Ach ja, noch eins, bevor ich’s vergesse: Euer Opfergeld, das könnt Ihr heute auch behalten. Überlegt Euch selber, was Ihr damit Gutes tun könnt. Und seid nicht knauserig. Lasst es Euch ruhig was kosten. Ich werde hier warten. Vielleicht kommt ja der eine oder die andere zurück. Und jetzt beeilt Euch!“
Die verdutzte Gemeinde wartet einen Augenblick, dass dieser Predigteinstieg sich auflöst. Gleich werden sie aufatmen können. Sie kennen das schon: Erst werden Zweifel geschürt, dann lindernde Gewissheit ausgegossen, eine Kurve von Dur zu Moll und wieder zurück zum strahlenden Dur und dann der Segen und raus zur Tür, zum Sonntagsbraten. Aber der Segen bleibt aus. Und alles andere auch. Stattdessen setzt die Orgel ein, laut und lärmend, und der Pfarrer schreitet unmissverständlich zur Kirchentür und sperrt sie auf. Heraus spaziert! Das ist wohl ernst gemeint.
Die meisten gehen einfach nach Hause und zu ihren Tages- und Nachtgeschäften über. Dann halt nicht. War sicher das letzte Mal, dass man am Buß- und Bettag nach einem langen Arbeitstag oder aus alter Verbundenheit in die Kirche gegangen ist. Die Welt verbessern? Das wird ohne sie stattfinden müssen. Andere schütteln wenigstens den Kopf und legen die Stirn in Falten. Immer diese neuen Ideen. Warum nicht einfach in Ruhe Gottesdienst feiern so wie all die Jahre? Richtig empört sind nur wenige, eigentlich nur einer. Er wird gleich einen geharnischten Brief aufsetzen. Schon sprudeln in seinem Kopf die Formulierungen und tummeln sich die Ausrufezeichen. Die Kirche der Reformation verkauft ihre Botschaft für Pfadfinderweisheiten! Das allein selig machende Hören auf Gottes Wort wird durch schnöde Appelle zum Handeln ersetzt! Die Rechtfertigungslehre außer Kraft gesetzt! Gesetz für Evangelium! Ethik statt Spiritualität! Was dieser Pfarrer sich einbildet!
Sie war die letzte, die die Kirche verließ. Automatisch schlug sie den Weg nach Hause ein. Sie ging langsam, aber zielstrebig. „Führt der Witwen Sache!“ hämmerte ihr der letzte Satz aus dem Predigttext im Kopf herum. Zuhause wartete ihre Mutter wie jeden Abend, dass sie von der Arbeit zurück kam und mit ihr zu Abend aß. Nach dem Tod ihres Vaters war es für sie selbstverständlich gewesen, die Mutter bei sich aufzunehmen. Es war eine gute Entscheidung gewesen, und nachdem das erste Trauerjahr vorbei war, hatten sie sich ganz gut arrangiert. Erst in letzter Zeit war das Zusammenleben schwieriger geworden. Eigentlich war sie heute nur zum Gottesdienst gegangen, um die Begegnung mit der Mutter noch ein wenig hinauszuzögern. Jetzt, wo der Pfarrer den Gottesdienst vorschnell beendet hatte, würde sie mit ihr reden. Die Stunde war gekommen. Sie legte sich Sätze im Kopf zurecht und verwarf sie wieder. So konnte es nicht weiter gehen. Die Mutter musste in ein Pflegeheim umziehen. Sie konnte die Verantwortung nicht länger übernehmen. In den letzten Wochen hatten sich die Anzeichen vermehrt. Am Anfang hatte sie es übersehen, einfach nicht wahrhaben wollen: Die Schuhe im Vorratsschrank neben dem Brotkorb, die verschwundene Perlenkette, das ständige Beharren, bestohlen worden zu sein, die Wäschestücke, die sie in einem großen Topf auf dem Herd vorgefunden hatte. Früher hätten sie die Wäsche doch auch gekocht, hatte die Mutter nach einer Weile mit verzweifelter Stimme gesagt. Sie hatte genickt und ihr wortlos die Hand auf den Unterarm gelegt. Jetzt steckte sie entschlossen den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Haustür. Aus dem Wohnzimmer hörte sie den Fernseher fröhlich lärmen. „Guten Abend, Mama!“, rief sie in den dunklen Flur.
Derweil standen drei Frauen noch immer unschlüssig vor der Kirche. Sie kannten sich flüchtig, in erster Linie von Gottesdienstbesuchen. Über ein freundliches Nicken beim Kommen und Gehen war ihre Kommunikation bisher nicht hinaus gekommen. Eine fasste sich schließlich ein Herz und sagte lachend: „Wollen wir zusammen eine gute Tat vollbringen?“ Die anderen willigten sofort ein. Sie hätten ohnehin nicht gewusst, was sie mit dem angebrochenen Abend sonst hätten anfangen sollen. Hilfesuchend blickten sie sich um. „Gar nicht so einfach“, meinte die dritte im Bunde und zog den Mantel enger um sich. Es war nicht mehr viel los auf der Straße um diese Zeit. Die zweite drehte ein Zweieurostück zwischen den Fingern. „Vorhin stand dort noch der Mann, der die Obdachlosenzeitung verkauft. Man hätte ihm für das Opfergeld eine abkaufen können.“ Wo er jetzt war? Wo übernachtete ein Obdachloser im November? Darüber hatten sie sich noch nie Gedanken gemacht. Gab es in der Stadt irgendwelche Unterkünfte? Bestimmt, aber keine der drei hätte sagen können, wo. Schließlich einigten sie sich darauf, in das kleine Bistro gegenüber zu gehen. Dort bestellten sie sich einen Tee und nahmen das Thema wieder auf. „Ich will mich ja nicht drücken“, sagte die erste, „aber der Sozialstaat macht es dem einzelnen Menschen doch eher schwer, anderen zu helfen. Wir haben unsere Verantwortung an Institutionen abgegeben. Und nun ist da kein Platz mehr für Barmherzigkeit. Fällt Ihnen spontan jemand ein, dem Sie helfen könnten? Mit Geld, mit Zeit, mit guten Worten?“ „Und wie kann ich helfen, ohne die Menschen zu beschämen?“ stimmte die andere ein. Die dritte summte vor sich hin: „Brich mit dem Hungrigen dein Brot…“. Dieses Lied mit seinen endlosen Aufforderungen, die sich immer im Kreis drehen. Aber wo ist ein Anfang? Wo könnten wir heute Abend anfangen? Sie diskutierten angeregt weiter.
Auf dem Parkplatz vor dem Bistro stieg derweil ein gut gekleideter Mann in seinen nagelneuen Alfa Romeo und manövrierte ihn vorsichtig aus der engen Parklücke. Er hatte den Wagen erst seit ein paar Tagen. Rund um die Kirche waren die Parkplätze knapp. Er war spät dran gewesen. Beim Aussteigen hatte er noch gedacht: Hoffentlich sieht mich keiner! Er wollte nicht angesprochen werden, denn er schämte sich ein wenig seines offen zur Schau gestellten Reichtums. Bei den Kirchenwahlen im vergangenen Herbst hatten sie ihn gefragt, ob er nicht kandidieren wolle. Aber er hatte abgelehnt. Er war Anwalt und ein viel beschäftigter Mann. Die Organisation von Gemeindefesten war seine Sache nicht. So jedenfalls hatte er sich das Engagement vorgestellt, dass hier von ihm erwartet wurde. Gelegentlich ging er gerne zum Gottesdienst. Ein wenig aus Liebe zu seiner früh verstorbenen Mutter, die eine fleißige Kirchgängerin gewesen war. In ihrer Kirchenbank fühlte er sich ihr näher, als wenn er das Grab auf dem Friedhof besuchte. Manchmal kam er aber auch, weil im Gottesdienst keiner etwas von ihm wollte und ihn trotzdem eine angenehme und zuweilen anregende Atmosphäre umgab. So hätte er es vielleicht beschrieben, wenn man ihn gefragt hätte. Heute Abend beim Ausparken wusste er plötzlich genau, was er tun...