3. „Jeder bitte nur ein Problem ...“
Das Kapitel über das Denken und Fühlen von Scannern
Aus meiner Coachingarbeit kenne ich viele Aussagen von Scannerpersönlichkeiten, die sich immer wieder ähnlich wiederholen. Mir sind diese Sätze meist sehr vertraut, denn als vielbegabte Frau habe ich nicht wenige auch selbst benutzt. So lautete ein Satz, der mich früher prägte: „Ich bin mir wieder selbst zu viel!“ Mein bester Freund konnte das irgendwann nicht mehr hören und forderte mich beherzt auf, endlich mit diesem Selbstmitleid aufzuhören. Er fand dafür ein sehr schönes Bild, das ich heute gerne hin und wieder aufgreife: Das des armen Häschens, das in einer Grube sitzt und jammert und jammert und darüber völlig vergisst, dass es ein Häschen ist und Hasen bekanntlich von der Natur auf eine Art ausgestattet sind, die ihnen enorme Sprünge ermöglicht.
Haben Sie mal einen Hasen in einem Freigehege beobachtet, das zu niedrig ist und über keine Abdeckung verfügt? Über kurz oder lang ist er weg, denn er kann das Hindernis problemlos überwinden. Ich staunte nicht schlecht, als ich kürzlich las, dass es sogar eine entsprechende Sportart gibt: Kaninhop, ein Hindernisspringen für Kaninchen.
Aber das arme Häschen namens Annette hatte damals noch gar nicht bemerkt, dass es ein Häschen und deshalb keinesfalls so arm war, wie es sich fühlte. Die Sprungkraft sollte erst entdeckt werden und sie hieß für mich „Ich bin vielbegabt!“. Doch bis es so weit war, konnte man auch von mir Sätze hören wie:
- „Ich kann nichts richtig!“
- „Ich kann einfach nichts zu Ende bringen.“
- „Ich mache mir ständig um etwas Gedanken.“
- „Ich bin manchmal total deprimiert.“
- „Mir scheint der Kopf zu zerspringen.“
- „Ich weiß gar nicht, wohin mit all meiner Energie (meinen Ideen).“
- „Ich kann keine Ordnung halten.“
- „Ich kann mich von nichts trennen – alles ist irgendwie wichtig.“
- „Ich mache ständig mehrere Dinge gleichzeitig.“
- „Ich bin irgendwie anders.“
- „Mich versteht einfach keiner.“
- „Ich kann mich total schwer entscheiden.“
- „Irgendwann wird’s einfach langweilig.“
- „Diese Engstirnigkeit macht mir Stress (bringt mich auf die Palme).“
- „Ich bräuchte zwei Leben! – Nein, drei!“
- „Ich hätte fünf verschiedene Berufe erlernen können.“
- …
Diese typischen Scannergedanken bergen großes Stresspotenzial, denn Stressreaktionen entwickeln sich auf der Grundlage unserer Gedanken, Körperempfindungen und Gefühle. Ein negativer Gedanke kommt auf und ein komisches Gefühl macht sich breit. So entsteht der erste Stress, und die oben beschriebenen immer wiederkehrenden Gedanken gleichen Negativmustern, die eine Scannerpersönlichkeit gefangen halten und immer neuen Stress verursachen.
In meiner Praxis habe ich festgestellt, dass Scannerpersönlichkeiten oft einen oder mehrere Kernsätze haben, die sie, wenn sie sie hören, sofort unterschreiben würden. Vergleichbar sind diese Kernsätze mit sogenannten Lebensthemen, die man für sich entdeckt und die eine Art immer wiederkehrender Begleiter werden. Beispiele für solche Themen sind Verletzung, das Gefühl, alleine zu sein oder kämpfen zu müssen, Liebesbedürftigkeit, Eifersucht, Faulheit und viele andere.
Die Entdeckung, dass ich nicht „unnormal“, sondern lediglich eine vielbegabte Scannerpersönlichkeit bin, war für mich – wie für viele andere auch – eine Entlastung. Zwar würde ein Leben immer noch nicht reichen, um mich allem zuzuwenden und alles auszuprobieren, was in meinem Kopf so an Ideen unterwegs ist, aber das Wissen um meine Vielbegabung war der erste Schritt, und Akzeptanz sollte der Schlüssel zu einem Leben sein, das mich versöhnt mit meiner Persönlichkeit sein ließ.
Sehr schmunzeln musste ich, als eine Klientin bei einer Coachingübung, die sie in ihr 80-jähriges Selbst führte, sagte: Mit 80 würde sie noch mal von vorne anfangen wollen, um all das zu tun, was sie nicht geschafft habe!
Barbara Sher beschreibt in ihrem Buch „Du musst dich nicht entscheiden, wenn du tausend Träume hast“ Scanner als Menschen, die auf eine ganz bestimmte Art und Weise denken und fühlen. Dieses Denken und Fühlen spiegelt sich in den typischen und immer wiederkehrenden Scannersätzen. Sich mit dieser „Denk-Art“ zu versöhnen braucht Zeit. Für Vielbegabte ist das eine herausfordernde Feststellung, denn wir wollen am besten immer alles sofort.
3.1 Die häufigsten Fragen und Alltagsprobleme Vielbegabter
Es ist gut, sich einige der typischen Scanner-Sätze genauer anzuschauen. Anschaulich werden zu lassen, was sie möglicherweise für Menschen bedeuten. Nichtscanner können, wie schon bemerkt, die Mechanismen dieses Denkens oft nicht nachvollziehen. Und häufig stoßen Vielbegabte auf Unverständnis und gut gemeinte Ratschläge, die sie aber nicht weiterbringen, sondern eher verunsichern und zurückwerfen. Die Folge sind oft Schuldgefühle, das Empfinden, „nicht richtig“ zu sein oder nicht ins System zu passen. Und ich glaube, es gibt Systeme, in denen Scanner es schwer haben und vielleicht sogar fehl am Platz sind. Hier stellt sich die Frage: Inwiefern wirken sich mein Scanner-Denken und meine Vielbegabung auf das Funktionieren und Überleben des jeweiligen Systems aus? Und / oder: Kann ich mein Scanner-Sein in anderen Lebensbereichen (aus-)leben?
Nicht jeder Vielbegabte hat einen Beruf oder einen konkreten Arbeitsplatz, der seiner Vielbegabung Raum gibt. Dennoch braucht sie einen Ort oder einen Lebensbereich, in dem sie ausgelebt werden kann. Wer beruflich nicht ständig etwas Neues ausprobieren kann, erfüllt sich aber vielleicht zu Hause seine Bedürfnisse, indem er beispielsweise kulinarisch immer wieder auf „Weltreise“ geht und experimentiert. Wenn Partner oder Familie damit gut klarkommen, ist die Welt in Ordnung. Wessen Arbeitsalltag hingegen von Wechsel, Improvisation oder kreativem Tun geprägt ist, kann den Feierabend und die Freizeit für sich oder mit der Familie vielleicht ungemein genießen, weil diese Zeit einen beständigen Gegenpol bildet.
Stellen wir uns einen vielbegabten Konditor vor: Immer wieder überrascht er seine Kunden mit neuen süßen Kunstwerken und scheinbar hat er so einen guten Weg gefunden, der Vielbegabung Raum zu geben. Aber vielleicht füllt ihn das Tortenbacken eines Tages nicht mehr aus und er träumt davon, Reiseführer zu schreiben. Er sammelt Magazine und Bilder, fotografiert, ist auf den Webseiten von Reiseanbietern unterwegs und hat 50 Reiseblogs abonniert – nur traut er sich nicht, seinem neuen Traum Raum zu geben. Seine Konditorei läuft gut, die Kuchen und Torten finanzieren den Lebensunterhalt seiner Familie. Also bleibt er bei seinen „Leisten“. Doch: Die Kuchen werden langweilig, die Ideen nehmen ab …
Wir wissen jetzt nicht, was unser Konditor macht. Deshalb schauen wir uns typische Scanner-Sätze an, um die dahinter liegenden Denkmuster zu entdecken. Die hier ausgewählten Beispiele stehen exemplarisch für die Vielzahl möglicher Aussagen, wie ich sie zu Beginn des Kapitels aufgeführt habe. Diese Aussagen kommen auch in der Regel nicht in „Reinform“ vor, sondern mischen sich häufig. Das ähnelt den in Kapitel 2 beschriebenen Scanner-Typen, von denen es auch fast immer Mischformen gibt.
Scanner-Satz 1: „Ich kann nichts richtig!“
Diesen Satz kenne ich von vielen Scannern und lange Zeit hielt ich ihn auch für mich als wahr. Herauszufinden, warum ich das glaubte, kostete mich viel Zeit und erforderte einiges an Reflexion.
„Ich kann nichts richtig!“ Für viele Scanner äußert sich in diesem Satz ein Kernempfinden gegenüber ihrer eigenen Person. Was aber sagt dieser Satz eigentlich aus? Er sagt nicht, dass ich nichts kann. Ich kann sehr wohl etwas. Aber was ich kann, ist in diesem Moment schon nicht mehr relevant, denn ganz gleich, was es auch ist, ich kann es ja nicht richtig. Mein Können, meine Begabung oder mein Interesse werden bewertet. Von mir – sollte man denken, denn schließlich handelt es sich um eine Aussage in der Ich-Form. Aber selbst wenn ich diesen Satz für richtig halte, meine eigene Bewertung ist es nicht. Es ist ein Glaubenssatz. Und was genau das ist, möchte ich im folgenden Exkurs erläutern.
Exkurs: Glaubenssätzen auf der Spur
Was also sind Glaubenssätze? Jeder Mensch hat sie. Es sind innere Wahrheiten, etwas, das wir verinnerlicht haben und das zu unserer erlebten Realität gehört. Wir haben sie entweder immer wieder gehört oder am vorgelebten Beispiel erlernt, von Eltern oder anderen wichtigen Bezugspersonen.
Glaubenssätze haben meistens nicht wirklich etwas mit uns selbst zu tun. Man kann sie sich als eine Art Wissen vorstellen, das wir von anderen aufgenommen und auf uns selbst transferiert oder übertragen haben. Der Grund hierfür liegt in der Art und Weise, wie wir lernen. Von klein auf lernen wir an Modellen – unser Leben lang. Unsere Modelle sind Eltern, Großeltern, unsere Geschwister, Freunde, Lehrer und andere Menschen, mit denen wir zu tun haben. Als Kinder bieten Modelle uns eine Orientierung und Beispiele für mögliches Verhalten, mögliche Problemlösungen und auch für mögliche Werte. Und das ist gut. Das Jugendalter ist geprägt von Eigenorientierung und Rebellion. In Auseinandersetzung mit dem, was uns z. B. von unseren Eltern vorgelebt wurde, finden wir unsere eigenen Werte und Richtungen im Leben.
Wir tragen aber immer...