Einleitung
Deutschland hat ein zwiespältiges Verhältnis zur Einwanderung. Entsprechend unterliegt die gesellschaftliche Diskussion über Migrantinnen und Migranten seit Jahrzehnten mannigfaltigen Veränderungen. Dominierte die Debatten der 1990er-Jahre etwa noch die Angst vor der Überfremdung angesichts wachsender Flüchtlingsströme, ertönt heute, in Zeiten von Fachkräftemangel und überalternder Gesellschaft, plötzlich wieder der stetige Ruf nach qualifizierten Zuwanderern*, ohne die Deutschland seinen Wohlstand riskiere.
Was auf den ersten Blick wie ein Fortschritt wirkt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung eher als Akzentverschiebung, die sich weitgehend mit volkswirtschaftlichen Nützlichkeitsüberlegungen erklären lässt. Bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren schwärmten Beamte nach Südeuropa aus, um ausländische Arbeitskräfte für die boomende Schwerindustrie zu gewinnen. Gastarbeiter auf Zeit wurden für Deutschland geworben – doch es kamen Menschen, die meist auf Dauer hier geblieben sind. Schon damals wurde ein Defizit sichtbar, das die Debatten trotz aller Wandlungen im Detail und in der Tonlage bis heute wie ein Schatten begleitet: Migrationspolitische Weichenstellungen unterliegen nur allzu oft kurzfristigen Kalkülen, während die langfristigen Folgen dieser Kalküle zu wenig in den Blick geraten.
Genau dieses fundamentale Missmanagement ist aber ein zentraler Grund dafür, dass der migrationspolitische Diskurs seit Jahrzehnten flankiert wird von einem monotonen Defizitdiskurs, in dem Migranten wahlweise mangelnde Integrationsleistungen, fehlende Integrationswilligkeit oder eine problematische Bildungsferne attestiert wird. Zugleich – auch das ein Ausdruck des erwähnten zwiespältigen Verhältnisses zur Einwanderung – ist unübersehbar, dass diesem Defizitdiskurs zum Trotz zivilgesellschaftliche Akteure und zunehmend auch staatliche Einrichtungen sich seit Ende der 1990er-Jahre intensiver darum bemühen, bessere Integrationsangebote für zugewanderte Menschen anzubieten. Langsam, aber stetig: Deutschland ändert sich.
Das Buch »Vielfältiges Deutschland« will Bausteine liefern für ein anderes, ein vielschichtiges Bild bundesdeutscher Wirklichkeit. Es will Orientierungspunkte skizzieren für eine im Wandel befindliche Gesellschaft, die ihre Zukunftsfähigkeit gerade in einem reflektierteren Umgang mit kulturellem Pluralismus gewährleistet sieht. In nur wenigen Jahren werden demographische Effekte Deutschland radikal verändern. Diese Veränderungen im gesellschaftlichen Gefüge sind Chance und Risiko zugleich. Einerseits mutiert die Gruppe der Zuwanderer mit Blick auf Arbeitsmarkt und Sozialsysteme allein schon aus nüchternem ökonomischem Kalkül zur begehrten Humanressource – Migrantinnen und Migranten gewinnen in Deutschland zunehmend Kontur als Leistungsträger. Andererseits birgt eine so tiefgreifende Veränderung einer Gesellschaft das Risiko krisenhafter Verläufe. Krisen aber sind erfahrungsgemäß ein Nährboden für restaurative öffentliche Diskurse – in denen Migranten zum Sündenbock für alles gemacht werden.
»Vielfältiges Deutschland« will vor dem Hintergrund einer präzisen Analyse vergangener Entwicklungen den Horizont skizzieren, in dem der Blick auf Migranten mehr zutage fördert als eine Humanressource – was sie zweifellos auch sind. Wenn eine zukunftsfähige Gesellschaft einen anderen Umgang als bisher mit dem Thema »Migration« kultivieren will, dann ist die ökonomische Perspektive zwar eine wichtige, aber eben nur eine Perspektive, die in den Fokus geraten muss. Das Bild von Gesellschaft muss sich ändern. Selbstbeschreibungen, in denen ganz selbstverständlich ein nationales »Wir« von einem fremden »Die anderen« unterschieden wird, taugen nicht mehr als Grundlage für eine zukunftsfähige Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Was aber trägt stattdessen? Diese alles andere als triviale Frage durchzieht »Vielfältiges Deutschland« wie ein roter Faden.
Aus unterschiedlichen Blickwinkeln liefert das Buch Mosaiksteine für mögliche Antworten.
Auf der Basis einer profunden Analyse der integrationspolitischen Debattenverläufe seit der Jahrtausendwende in Deutschland (Friedrich Heckmann, Dirk Halm) und Kanada (Triadafilos Triadafilopoulos) – noch immer das Land mit der elaboriertesten Einwanderungspolitik weltweit – trägt »Vielfältiges Deutschland« die Ergebnisse jahrelanger Arbeit in der Bertelsmann Stiftung zum Themenkomplex »Integration und Bildung« zusammen. Das Buch zeigt, wie eine zukunftsfähige Zuwanderungssteuerung aussehen kann (Christal Morehouse) und stellt positive Praxisbeispiele eines weltweiten Netzwerkes an Kommunen vor, die sich dem Vielfaltsgedanken geöffnet haben (Claudia Walther). Zwei von der Stiftung initiierte Studien untersuchen Konzepte und Status quo der Willkommenskultur in Deutschland (Roland Roth) und berechnen die positiven Auswirkungen von Einwanderern auf den hiesigen Arbeitsmarkt und den Sozialstaat (Herbert Brücker). Orkan Kösemen analysiert die politische Parteienlandschaft hinsichtlich der Frage, wie offen diese für zukunftsfähige Migrationspolitik und wie durchlässig sie für Politiker mit Migrationsbiografie ist. Der Beitrag von Ulrich Kober und Rita Süssmuth beschreibt die programmatischen Herausforderungen, die sich für diverse Politikfelder zwingend ergeben, wenn sie sich gegenüber dem Vielfaltsgedanken öffnen.
Außerdem versammelt diese Publikation weitere Stimmen aus Wissenschaft und Medien, die an ausgewählten Fragestellungen deutlich machen, welche Hürden und Altlasten noch zu bewältigen wären auf dem Weg hin zu einer Vorstellung von gesellschaftlicher Vielfalt, die weder ausgrenzend noch geschichtsvergessen ist. Naika Foroutan erläutert am Beispiel der Idee eines nationalen Narrativs, warum eine Gesellschaft solcher gemeinschaftsstiftender Erzählungen bedarf – und weshalb die bisher kursierenden Deutschlandbilder nicht gemeinschaftsbildend wirken können, solange sie die Lebensleistung vom Migrantinnen und Migranten nur ungenügend berücksichtigen. Paul Mecheril analysiert Grenzen und Chancen des Begriffs »Inklusion« für eine Debatte, die auf die problematischen Implikationen des Integrationsbegriffs verzichten will und sich dennoch auf einen konzeptionellen Referenzpunkt verständigen muss. Passend dazu rehabilitiert der kanadische Philosoph Will Kymlicka für eben diese Debatte den Begriff des Multikulturalismus, der aus seiner Sicht zu Unrecht in Misskredit geraten ist.
Kien Nghi Ha bürstet die aktuelle Fachkräftedebatte pointiert gegen den Strich, indem er an (post-)koloniale Traditionen erinnert, in die sich dieser globale Wettbewerb der Industrienationen um die qualifiziertesten Menschen aus der Dritten Welt einbettet – und der, um diese unselige Tradition nicht fortzuführen, nach fairen Regeln verlangt, wie zukünftig der Umgang mit qualifizierten Fachkräften international zu handhaben ist. Anke Knopp referiert die Ergebnisse einer von der Bertelsmann Stiftung beauftragten Emnid-Umfrage zum Stand der Willkommenskultur in Deutschland. Sie zeigt, dass insbesondere junge Leute mit der Vision eines vielfältigen Deutschland sympathisieren – und dass dennoch in Teilen der Bevölkerung Vorbehalte gegen dieses Gesellschaftsmodell bestehen, die eine kluge Politik der Gestaltung nicht übergehen darf.
Insofern sind die konstruktive Auseinandersetzung, der intensive öffentliche Dialog und Austausch über ein künftig vielfältiges Gesellschaftsbild unabdingbar, um die Vision eines neuen Gesellschaftsvertrags demokratisch zu legitimieren. Schirin Amir-Moazami, Jürgen Kaube und Konstantina Vassiliou-Enz beschäftigen sich in ihren Beiträgen mit unterschiedlichen Facetten derartiger öffentlicher Debatten. Sie zeigen einerseits, dass die Frage, wer in solchen Debatten mit welchem Recht wen repräsentiert und somit überhaupt gehört wird, ebenso entscheidend wie schwer zu beantworten ist. Denn im Rahmen des liberal-säkularen, auf Repräsentanz fußenden Demokratiemodells, innerhalb dessen diese öffentlichen Debatten in Deutschland geführt werden, sind bereits viele Vorgaben implizit, die die gleichberechtigte Teilhabe mancher Diskursteilnehmer aus anderen sozialen, kulturellen und religiösen Kontexten erschweren. Gleichwohl gibt es keine vernünftige Alternative zu dieser öffentlichen Auseinandersetzung. Aber sehr wohl lassen sich die Voraussetzungen für die Auseinandersetzung verbessern, etwa dadurch, dass Medien ihre Verantwortung für die informierte öffentliche Debatte auch beim Thema »Migration« ernster nehmen als bisher und sich in ihrer Berichterstattung stärker an wissenschaftlicher Evidenz orientieren.
So zentral die Referenz auf wissenschaftlich gesicherte Wissensbestände auch ist, genügt sie doch nicht, um den neuen Gesellschaftsvertrag der Vielfalt mit Leben zu füllen. Es bedarf mehr als der zumeist...