Die Begriffe »Moderne« und »Modernisierung« sind häufig nur Kampfbegriffe. Sie werden im Meinungsstreit eingesetzt, um eigene politische Positionen oder Züge der eigenen Kultur für überlegen zu erklären, gewünschten Veränderungen die Aura historischer Unvermeidlichkeit zu verleihen und sie gegen mögliche Einwände zu immunisieren. Lange Zeit blickten etwa in Deutschland die Protestanten auf die religiösen Praktiken der Katholiken als auf etwas Vormodernes herab, als Relikte der mittelalterlichen Zeiten, mit denen die Reformation angeblich gebrochen hatte. Dieselben Protestanten mussten aber auch oft erleben, dass ihr christlicher Glaube von aufklärungsbegeisterten Ungläubigen für historisch überholt erklärt wurde. Katholiken neigen dazu, dem orthodoxen Christentum in derselben Haltung entgegenzutreten, und alle Christen zusammen rieten lange Zeit den Juden zur Assimilation, um endlich an die historische Entwicklung Anschluss zu finden. Neuerdings konfrontiert mit Millionen muslimischer Mitbürger, neigen europäische Christen aller Schattierungen zusammen mit Säkularisten aller Art dazu, den Islam als untauglich für die Moderne zu betrachten. Aber keineswegs nur auf religiösem oder religionspolitischem Gebiet wird der Verweis auf die Moderne als Trumpfkarte gezogen. Soziale Bewegungen zum Schutz der Umwelt wurden und werden oft als antimodern zumindest belächelt, wenn nicht polemisch attackiert. Der Erhalt der Wohlfahrtsstaaten kann ebenso als nicht länger in die Zeit passend abgelehnt und in diesem Sinne unmodern abqualifiziert werden wie die Bemühungen, in den Einrichtungen des Bildungssystems auf Freiräume der Selbstentfaltung für viele oder auf die enge Verknüpfung von Forschung und Lehre Wert zu legen. Selbst dort, wo nicht einfach für die eigene Seite im Meinungskampf »Modernität« in Anspruch genommen wird, werden Einwände gegen laufende Veränderungen recht leicht zu bloßen Spannungen in einem letztlich unvermeidlichen Modernisierungsprozess erklärt.
Angesichts der Häufigkeit, mit der so von Moderne und Modernisierung mit Nachdruck gesprochen wird, sollte man meinen, dass immerhin allen Beteiligten klar ist, worauf sich diese Begriffe genau beziehen. Doch zeigt schon ein kleines Gedankenexperiment, dass dies keineswegs der Fall ist. Wann beispielsweise soll eigentlich die Epoche genannt Moderne begonnen haben? Die Daten, die auf diese Frage hin genannt werden, streuen vom fünfzehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert. Manche nennen die Erfindung des Buchdrucks, die »Entdeckung« Amerikas oder die Reformation; andere zielen eher auf den Westfälischen Frieden 1648, die amerikanische und die Französische Revolution Ende des achtzehnten Jahrhunderts oder die in England beginnende, sich dann aber immer weiter ausbreitende industrielle Revolution. Philosophen erklären häufig das Denken von Descartes oder Kants »kopernikanische Wende« zum Beginn der Moderne. Dort, wo weniger Politik, Wirtschaft und Technik im Vordergrund stehen, sondern Kunst und Kultur, wird die Zäsur zur Moderne häufig noch anders gesetzt. Es kann dann erst die Entstehung der abstrakten Malerei, der Bruch mit der spätromantischen Musik, ein multiperspektivisches Erzählen zum Beginn der Moderne erklärt werden oder auch die sexuelle Revolution der 1960er Jahre und der generelle Bruch mit Autoritäten und Traditionen in dieser Zeit.
Abhängig von diesen so stark variierenden chronologischen Bestimmungen ist dann selbstverständlich auch, welche Weltgegenden als modern klassifiziert werden und welche nicht. Erst recht ist von den Vorstellungen über den Zeitraum, der »Moderne« genannt wird, beeinflusst, ob wir uns nun eigentlich immer noch als in der Moderne befindlich einschätzen oder nicht. Seit den späten 1970er Jahren, als von Frankreich ausgehend der vorher nur vereinzelt in Debatten über Architektur und Literatur auftauchende Begriff »Postmoderne« plötzlich zum Signum eines neuen Zeitalters zu avancieren schien, über die in den 1980er und 1990er Jahren geführten Diskussionen über eine »reflexive« oder »zweite« oder vielleicht sogar »dritte« Moderne, häuften sich Überlegungen, denen zufolge die Moderne zumindest in Europa für ein abgeschlossenes historisches Kapitel erklärt wurde. Klassische Konzepte zum Verständnis der Moderne – wie Nationalstaat, Klasse, Geschlechtsrollen – wurden dabei leicht für ungeeignet zum Verständnis der Gegenwart erklärt. Doch haben sich alle diese Debatten inzwischen etwas erschöpft. Epochenbrüche sind mit großer Sicherheit erst aus zeitlicher Distanz zu erkennen, und die Neigung, Gegenwartsereignissen historische Bedeutung zuzusprechen, ist so inflationär geworden, dass sich zunehmend Skepsis ausbreitet, wenn von später Moderne oder Postmoderne die Rede ist.
Noch etwas kommt hinzu. Wenn die Moderne auch, aber nicht nur chronologisch gemeint ist, dann hat sie auch einen normativen Gehalt. Dann werden mit diesem Begriff Aspekte hervorgehoben, die befürwortet werden, deren Entstehung für gut gehalten und deren weitere Verwirklichung unterstützt wird. Dann ist etwa vom »Projekt« der Moderne die Rede, um diesen Appellcharakter ganz deutlich werden zu lassen. Erneut – wie schon bei der Frage nach der Chronologie – ist aber erstaunlich unklar oder umstritten, was in diesem normativen Sinn zur Moderne gehört. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit würden wohl heute von allen »Befürwortern« der Moderne an vorderster Stelle genannt werden, aber schon bei der »sozialen Marktwirtschaft« dürfte Uneinigkeit ausbrechen. Erst recht ist dies der Fall, wenn etwa Säkularisierung (in welchem genauen Sinn auch immer) oder Verzicht auf die gewalttätige Austragung internationaler Konflikte aufgeführt werden. Dann leben wir vielleicht noch gar nicht in der ersehnten Moderne, die andere gleichzeitig schon für beendet erklären. Ein ständiges Problem ergibt sich dann bei der Einordnung der Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts in ein auf den »Moderne«-Begriff hin ausgerichtetes Geschichtsbild. Im Rückblick mögen uns heute Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus als rückständig und sogar kulturell altbacken erscheinen. Aber in der Zeit ihrer Entstehung und massenhaften Attraktivität war das ganz anders. Gerade junge Menschen sahen in ihnen oft etwas zuhöchst Modernes, und die Totalitarismen pflegten umgekehrt einen veritablen Kult der Jugend. Avantgardistische Künstler sympathisierten auch deshalb mit ihnen; die Regime selbst stellten sich als großen historischen Schritt nach vorn dar. Die normativen Gehalte, die heute mit der Moderne als einem Projekt verknüpft gedacht werden, waren aber gerade nicht Teil ihres Verständnisses von Moderne. Eine liberal-demokratische Ordnung wurde vielmehr als bloßes anachronistisch gewordenes Relikt des neunzehnten Jahrhunderts betrachtet.
Der Begriff der Moderne scheint nach dem bisher Gesagten von solcher Mehrdeutigkeit, er scheint so zutiefst umstritten und durch seine Verwendung als Kampfbegriff kompromittiert, dass man auf die Idee kommen kann, auf ihn am besten ganz zu verzichten. In der Tat habe ich selbst schon mit dem Gedanken gespielt, ähnlich wie andere dies mit ähnlich schwierigen Begriffen wie dem der Funktion getan haben, ein Moratorium ins Spiel zu bringen – dafür zu plädieren, die Rede von der »Moderne« für ein paar Jahre oder Jahrzehnte schlicht bleibenzulassen und stattdessen jeweils neutralere chronologische Angaben zu verwenden oder eindeutigere normative Urteile zu äußern. Gegner können ja auch dann noch abgelehnt werden, wenn ihre Klassifizierung als un- oder antimodern unterbleibt.[3]
Abgesehen davon, dass es vermessen wäre, mit der Befolgung eines solchen Appells ernsthaft zu rechnen, lässt sich gegen das vorgeschlagene Moratorium natürlich auch einwenden, dass ein solcher für das Selbstverständnis zentraler Begriff nicht einfach aus dem Wortschatz getilgt werden kann. Er scheint ja von vielen als unentbehrlich empfunden zu werden; deshalb ist wohl fruchtbarer als vollständiger Verzicht eine offensive Wendung der Debatte, eine Einbeziehung einer Vielzahl von Ansichten der Moderne, eine Berücksichtigung der Vielfalt der Moderne weit über das übliche Maß hinaus.
Diese Idee stand am Anfang der Veranstaltungsreihe, die auf Wunsch von Bundespräsident a.D. Horst Köhler in den Jahren 2008 und 2009 an seinem Amtssitz im Berliner Schloss Bellevue stattfand. Bei der Erarbeitung der genaueren Konzeption, der Auswahl der Teilnehmer und der Leitung der Diskussion bot mir der Bundespräsident eine zentrale gestaltende Rolle an. Nach seiner eigenen Auskunft ging ein entscheidender Impuls für ihn selbst von Erfahrungen aus, die er vor seiner Amtszeit als Bundespräsident als Präsident des Internationalen Währungsfonds gemacht hatte. Insbesondere die tiefgehende Krise Argentiniens 1998/99 hatte ihm, dem professionellen Ökonomen, unabweislich vor Augen geführt, wie wenig rein ökonomische Modelle die Ursachen der Krise zu erklären und realistische Abhilfestrategien zu konzipieren erlauben, wenn diese Modelle unsensibel sind gegenüber den kulturellen, sozialen und politischen Bedingungen des Wirtschaftens. Dies lenkte sein Interesse u.a. auf Max Weber, der so tiefschürfend wie vielleicht kein anderer über die religiösen und generell kulturellen Vorstellungen richtigen wirtschaftlichen Handelns, die beabsichtigten und unbeabsichtigten Wirkungen solcher Vorstellungen und ihren historischen Wandel nachgedacht und vergleichend geforscht hatte.[4] So imponierend seine Forschungen waren, so unbestreitbar sind auch ihr fragmentarischer...