Neue Rechte, Rechtspopulismus und die Flüchtlingseinwanderung: Herausforderungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt
Patrick Gensing
Die Bundesrepublik Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer pluralen und weltoffenen Gesellschaft entwickelt. In großen Teilen des Landes ist das Zusammenleben unterschiedlicher Menschen mit verschiedenen Lebensentwürfen erprobter Alltag. Der Schutz vor Diskriminierung ist mittlerweile institutionell und gesetzlich verankert – auch wenn es weiterhin viel zu tun gibt auf diesem Gebiet (vgl. z.B. Dernbach 2015).
Die kontinuierliche Ausdifferenzierung der Gesellschaft sowie der Fortschritt beim Schutz von Minderheiten wird von einigen politischen Milieus strikt abgelehnt – oder sogar bekämpft. Insbesondere der Rechtspopulismus hat sich zu einer sozialen Bewegung entwickelt, die Fortschritt rückgängig machen will – und auf eine Spaltung der Gesellschaft setzt.
Eine neue rechte Bewegung
Das Jahr 2015 hat die politische Landschaft in Deutschland nachhaltig verändert. Zwar ist noch nicht seriös abzuschätzen, ob sich die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) langfristig parlamentarisch etablieren kann (vgl. z.B. Neuerer 2015). Viel entscheidender ist aber das Aufkommen einer rechten Bewegung, die sich aus der AfD und der NPD als parlamentarischen Armen sowie einer rechten außerparlamentarischen Opposition zusammensetzt.
Diese neurechte Bewegung stellt grundlegende Regeln des Zusammenlebens und des demokratischen Diskurses offen und aggressiv infrage. Die Bundesrepublik Deutschland sei ein unfreies Land, gelenkt von einem Marionettenregime um Kanzlerin Angela Merkel, die sich wiederum einer mächtigen Propagandamaschinerie, der angeblich »gleichgeschalteten Lügenpresse«, bedienen könne – so sieht grob skizziert das Weltbild aus, das auf Pegida-Demonstrationen und zahlreichen rechtsradikalen Publikationen und Blogs verbreitet wird.
»Es ist dank einer völlig verkorksten Politik unserer Berliner Diktatoren – und ich sage bewusst Diktatoren – mittlerweile außer Kontrolle geraten« (Pegida-Gründer Lutz Bachmann) (Lindner 2015).
Man selbst sei eigentlich unpolitisch, strikt neutral und vor allem objektiv, folge lediglich dem gesunden Menschenverstand und vertrete »das Volk«. Der Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick analysierte, Pegida lebe »von dem Selbstbild, die Mitte zu sein und Volkes Meinung zu vertreten« (research_tv Universität Bielefeld 2015). Doch der Ruf »Wir sind das Volk!« klingt nicht mehr wie im Jahr 1989 nach Freiheit, sondern nach Ab- und Ausgrenzung.
Die neue rechte Bewegung stellt die demokratische Öffentlichkeit vor immense Herausforderungen. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird durch rabiate Rhetorik und radikale Forderungen angegriffen, differenzierte Diskussionen werden lächerlich gemacht, Konflikte überzeichnet und gezielt angeheizt, politische Gegner bedroht, beleidigt und eingeschüchtert, Minderheiten diskriminiert, Grundrechte verletzt. Die Zahl der Angriffe auf Medienvertreter ist stark gewachsen (vgl. z.B. DJV 2015), ebenso die der Drohungen und Angriffe auf Politiker und Einrichtungen von Parteien (Gensing 2015b). Dazu kommen Hunderte Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte (von der Heide, Kampf und Baars 2015), von denen die wenigsten aufgeklärt sind.
Ein Rechercheteam der »Zeit« ist 222 gewalttätigen Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte aus dem Jahr 2015 nachgegangen. Dabei handelte es sich ausnahmslos um Attacken, bei denen Menschen zu Schaden kamen oder hätten kommen können. Das Ergebnis: Nur in vier Fällen haben Gerichte bisher Täter verurteilt, in weiteren acht Fällen wurde Anklage erhoben. Das sind gerade einmal fünf Prozent aller Angriffe. In weniger als einem Viertel aller Fälle konnte die Polizei überhaupt einen Tatverdächtigen ermitteln. Fast alle Taten sind also bis heute nicht aufgeklärt (Blickle et al. 2015).
»Mit der ganzen Härte des Rechtsstaats« werde der Staat gegen Menschen vorgehen, die Flüchtlinge angreifen, versprach Bundeskanzlerin Merkel im September 2015. Leider kann davon kaum die Rede sein; die neue rechte Bewegung kokettiert nicht nur in ihrer Rhetorik mit Gewalt, sie verfügt offenkundig auch über ein Potenzial an Personen, die auf Worte Taten folgen lassen. Bereits 2014 hat die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ergeben, dass die Gewaltbereitschaft sogar in dem Teil der deutschen Bevölkerung gewachsen ist, der nicht rechtsextrem orientiert ist. So stieg die Zustimmung zu der Aussage »Ich bin bereit, mich mit körperlicher Gewalt gegen Fremde durchzusetzen« unter den nicht rechtsextrem eingestellten Personen auf 15 Prozent. Bei den Personen mit rechtsextremer Orientierung nahm die Zustimmung zwischen 2006 und 2014 von 21,7 auf 52,5 Prozent zu (Zick und Küpper 2015: 8).
Warum scheinen sich Teile der Bevölkerung zu radikalisieren? Wie konnte die neue rechte Bewegung so erfolgreich werden? Welche Akteure spielen eine Rolle? Welche Folgen hat die neue Kultur des Hasses für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Bundesrepublik Deutschland? Fragen, die dieser Beitrag untersuchen möchte.
»Asyltouren« und »Lichtellauf«: Systematische Hetze gegen Geflüchtete
Anfang November 2013: In Schneeberg versammeln sich fast 2.000 Menschen, um an einem »Lichtellauf« teilzunehmen. Er danke den Anwesenden für ihren »Mut und ihre Entschlossenheit«, sagte ein »Exil-Schneeberger« am Mikrofon (»Schneeberg wehrt sich« 2013). Der namenlose Redner gibt sich betont moderat: Er sei weder politisch aktiv noch einer Partei nahestehend. Dass er zu Beginn seiner Rede neben einem NPD-Funktionär steht, fällt den Zuhörern offenbar nicht auf. Parteipolitik soll hier keine Rolle spielen: Es gehe lediglich um den Schutz der Heimat.
Der »Lichtellauf« von Schneeberg war der erste größere Erfolg einer gezielt angelegten Kampagne der NPD: Bereits im Herbst 2012 war die rechtsextreme Partei mit einer »Anti-Islam-Tour« durch Sachsen gezogen (z.B. Bündnis 90/Die Grünen 2012). Im Sommer 2013 organisierte die NPD dann in mehreren Bundesländern »Asyltouren«: Kundgebungen vor Unterkünften, die sich explizit an die Anwohner richteten (z.B. Cruzcampo 2013). In einem NPD-Video tauchte im selben Jahr bereits das Logo »Asylantenheim? Nein Danke« auf, das später zahlreiche Facebook-Seiten von angeblichen Bürgerinitiativen schmücken sollte (weiterdenkenTV 2013).
Nach dem Erfolg von Schneeberg intensivierten die Rechtsextremen ihre Kampagnen gegen geflüchtete Menschen massiv. Die NPD startete weitere »Asyltouren« vor Flüchtlingsheimen. Die sächsische NPD veranstaltete im März 2014 eine Aktionswoche unter dem Motto »Heimat schützen – Asylmissbrauch bekämpfen«. Dafür hatte sie in elf sächsischen Städten und Gemeinden an zentralen Plätzen und vor Wohnheimen von Geflüchteten Kundgebungen angemeldet.
In Tröglitz im Süden Sachsen-Anhalts organisierte ein NPD-Funktionär Anfang 2015 Proteste gegen den Plan, Flüchtlinge in dem Ort unterzubringen. Eine Demonstration sollte auch am Haus des Bürgermeisters vorbeiziehen. Im Folgenden wurden der Bürgermeister und weitere Politiker bedroht – und im April brannte es schließlich in dem Haus, in dem 40 Geflüchtete untergebracht werden sollten. Die Polizei sprach von besonders schwerer Brandstiftung, zwei Menschen konnten sich aus dem Haus retten (»Streit um Asylbewerber. Der Fall Tröglitz – eine Chronik« 2016).
In Freital entstand aus der Facebook-Gruppe »Freital wehrt sich« sogar eine Bürgerwehr. Gegner der Unterbringung von Asylbewerbern riefen im Internet gezielt zu Aktionen gegen das Flüchtlingsheim und seine Bewohner auf. In internen Chats, aus denen das ARD-Magazin »Fakt« zitierte, formulierte einer der Organisatoren der Facebook-Gruppe »Freital wehrt sich. Nein zum Hotelheim« Strategien, um Flüchtlinge zu provozieren (»Aufrufe im Internet zu Aktionen gegen Flüchtlingsheim« 2015). Die Atmosphäre in Freital war explosiv in diesen Tagen: Bundesinnenminister Thomas de Maizière besuchte im Juni 2014 ein Bürgerforum zum Thema »Asyl«. Pegida-Anführer Lutz Bachmann – der auf Twitter Bürger aufforderte, auf die Straße zu gehen, um sich zu wehren – und seine Mitstreiterin Tatjana Festerling saßen im Publikum. Vor dem Veranstaltungsgebäude demonstrierten AfD, NPD-Vertreter und »besorgte Bürger« gegen die Asylpolitik der Bundesregierung.
Auch im sächsischen Heidenau setzten Rechtsextreme auf eine Tarnorganisation, die Facebook-Gruppe »Heidenau hört zu!«. Im Anschluss an eine Demonstration gegen geflüchtete Menschen, die in Heidenau untergebracht werden sollten, eskalierte im August 2015 die Situation: Rechtsextreme lieferten sich eine Straßenschlacht mit der Polizei, Augenzeugen berichteten von...