Immer dabei und stets anständig geblieben
Welche Triebkräfte stecken hinter derart unverfrorenen Gleichsetzungen? Die Antwort ist leicht gefunden. Nur so können schier alle heutigen Deutschen zu Nachfahren von »Opferfamilien« werden. Viele finden einen Nazivater, den später die Kommunisten einsperrten oder die Russen holten, andere einen Judenmörder, der hernach Heimatvertriebener wurde, einen stalinistischen Großonkel, den SA-Männer folterten, oder einen Vetter, einstmals Leutnant der großdeutschen Wehrmacht, der in der DDR als sogenanntes Bürgerkind nicht studieren durfte. So lässt sich Hitlers Volksgemeinschaft Stück für Stück in tadellose Opfergruppen auflösen. Übrig bleiben wenige »Täter«, die seltsame Uniformen trugen und unangenehm aussahen.
Wie die meisten anderen könnte auch ich mich einer solchen Konkurrenz mühelos stellen. Schließlich lebte mein 1904 geborener Onkel Otto Schellhass (alias Karoline von Homosalien oder Baronin Schneehase) seine Homosexualität derart freudig aus, dass die Wehrmacht freiwillig auf seinen Ehrendienst verzichtete. Auf Uniformierte stand er besonders. 1940 musste er wegen eines Verstoßes gegen Paragraph 175 des Strafgesetzbuches für einen Monat ins Gefängnis (nicht ins KZ, wenn ich ehrlich Auskunft gebe). Im Mai 1944 erwischte man ihn auf einer Parkbank abermals. Das Amtsgericht Berlin-Tiergarten verurteilte den einschlägig Vorbestraften »wegen Unzucht mit einem Mann in zehn Fällen« zu sieben Monaten. Als U-Häftling landete Otto zunächst im Gefängnis Lehrter Straße. Dort gehörte sein Mitgefühl den politischen Häftlingen und den geschnappten Deserteuren, die es wesentlich härter traf als ihn. Die Strafhaft saß er im Gefängnis Spandau ab. Im November 1944 wurde er pünktlich und unversehrt entlassen.
Ich hätte noch weitere Opfer zu bieten: einen vertriebenen Schlesier, einen Großonkel, der im Bombenkrieg den Tod fand, einen Verwandten, der im DDR-Gefängnis Rummelsburg einsaß, und – etwas ziemlich Seltenes – meine Tante, die Theologin Renate (Rena) Scherer, geboren 1910. Sie durchlebte die NS-Zeit mit ihrer Freundin glücklich, weil sie, was ihr seinerzeit nur der Krieg ermöglichte, eine Stelle als Gemeindepfarrerin zugewiesen bekam und sich nicht länger nur als Religionslehrerin herumplagen musste. (Leider kam der Herr Amtsbruder, den sie vertreten hatte, 1945 schnell zurück.) Früher meinte meine Mutter, »Rena fand nicht den Richtigen«, später, 2001, nach Renas Beerdigung auf dem Heidelberger Bergfriedhof, bemerkte sie: »Heute würde man sagen, sie war lesbisch.« Obwohl wir das damals nicht ahnten, wissen Aktivistinnen der heutigen deutschen Schwulen- und Lesbenbewegung ganz genau: Gleichgültig, was ihre Mitglieder in den NS-Jahren getan hatten – hier trauerte eine Opferfamilie; sie trug eine »wegen ihrer sexuellen Präferenz Verfolgte des Nazi-Regimes« zu Grabe.
Wann soll derartiger Unsinn enden? Statt historischer Tatsachen haben angenehme Selbstbilder Konjunktur, gemalt nach diesen Mustern: Hitler meinte es mit den Frauen nicht gut, verfolgte Schwule, Gewerkschafter, Arbeiter, Konservative, Kommunisten, Sozialdemokraten, Liberale, adelige Offiziere, Bummelanten und chronisch Kranke, er hasste Juristen, Diplomaten und Generalstabsoffiziere, war intellektuellenfeindlich, kein Freund der Moderne und der christlichen Kirchen. Auf diese Weise lassen sich im Handumdrehen zwei, drei familiengeschichtliche Anknüpfungspunkte finden, mit denen es sich fast jeder Gegenwartsdeutsche gemütlich machen kann.
Wenn es wenigstens dabei bliebe! Doch der nationale Putzfimmel fordert immer neue Aktivitäten. Wer zu den Guten gehören möchte, der muss das hin und wieder beweisen. Nichts leichter als das. Man nehme einen preußischen General, Minister oder Historiker, dessen Name auf einem Straßenschild steht, sodann lege man sogenanntes bürgerschaftliches Engagement an den Tag, stelle fest, dass der Namensgeber zu den Bösen unserer Vergangenheit zählt, und fordere, die fragliche Straße umgehend nach einer frühvollendeten schwarzafrikanischen Schriftstellerin umzubenennen, wahlweise nach einer Vorkämpferin der Frauenbewegung oder einer jüdischen Zwangsarbeiterin – und schon empfinden sich die »zivilgesellschaftlich« Beteiligten als geschichtlich wohlriechende Deutsche.
In den 1960er-Jahren mussten für solche Zwecke noch gröbere Mittel eingesetzt werden, zum Beispiel die berühmte Ohrfeige, die Beate Klarsfeld 1968 Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger versetzte, wobei sie zischte: »Nazi! Nazi! Nazi!« Die Tat entlastete jüngere Deutsche im Eiltempo von der damals noch schier unaussprechlichen »jüngsten Vergangenheit«, auch mich und, nicht zuletzt, Frau Klarsfeld selbst – 1939 geborene Künzel, aufgewachsen in Berlin-Wilmersdorf. Wie verhielten sich Vater und Mutter Künzel zwischen 1933 und 1945? Die Frage erscheint berechtigt, weil die Tochter ihren Angriff auf den Bundeskanzler hinterher mit einem seltsamen Satz erläuterte: »Für ein Deutschland, befreit von jeglichem Hang nach Sühne.«
Der in dem Kapitel über die kleinen Nutznießer des Kriegführens und Mordens ausführlich geschilderte einstige Wehrmachtssoldat Heinrich Böll (hier) schickte der Klarsfeld einen Strauß roter Rosen, der spätere Holocaustleugner Horst Mahler verteidigte sie im Strafprozess, Angehörige linker Grüppchen, die bald darauf den »Kampf gegen den Zionismus« entdeckten, warfen beteiligten Gerichtspersonen die häuslichen Fensterscheiben ein. Wie viel Falschheit den Protest beflügelte, bezeugt der Offene Brief an Kiesinger, den Günter Grass 1966 verfasst hatte: »Wie sollen wir«, fragte der Mann, der so gerne die Richtlinien der Moral bestimmte und über seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS weitere 30 Jahre schwieg, »der Toten von Auschwitz und Treblinka gedenken, wenn Sie, der Mitläufer von damals, es wagen, heute hier die Richtlinien der Politik zu bestimmen?« Grass und Beate Künzel-Klarsfeld behaupteten von sich, im Sinne der Ermordeten zu handeln. Daraus bezogen sie ihre Legitimation, auf den westdeutschen Nachkriegsstaat verbal oder in »direkter Aktion« einzuschlagen.
Übrigens: Im Kabinett Kiesinger/Brandt, das von 1966 bis 1969 regierte, saßen sieben Mitglieder, die einst der NSDAP angehört hatten. Einer von der CSU, drei von der CDU und drei von der SPD.[1] Bei der vorangegangenen Bundestagswahl hatte die SPD 40 und die CDU/CSU knapp 50 Prozent der Stimmen errungen. Relativ und rein quantitativ betrachtet, stand die SPD auf dem Minister-Nazometer nicht wesentlich besser da als die Konservativen. Ihr antifaschistisches Selbstbild beeinträchtigte das nicht. Die linken und linksliberalen Empörer erhoben »Altnazi Kiesinger« zum Generalfeind, weil sie die Fretwursts in den eigenen Reihen nicht sehen wollten.
Um sich aus der nationalen Geschichte zu stehlen, hatte der junge Hans Magnus Enzensberger 1964 einen äußerlich etwas vornehmeren Weg als Beate Klarsfeld beschritten. Seinen bei Suhrkamp erschienenen Sammelband »Politik und Verbrechen« leitete er mit dem Text »Reflexionen vor dem Glaskasten« ein und erweckte den Anschein, als denke er über den Jerusalemer Eichmannprozess und die ihm zugrundeliegenden Tatvorwürfe nach. Die ersten 15 Seiten dieses Textes füllte er mit allerlei Montagen, nur nicht mit Gedanken zu Eichmann, erst dann kam er mit den folgenden vier, durchaus prägnanten Sätzen zur Sache: »Planspiel. Im April 1961 wurde vor dem Landgericht in Jerusalem der Prozess gegen den ehemaligen Obersturmbannführer A. Eichmann eröffnet. Die Anklage ging nicht dahin, dass der Beschuldigte die Gasöfen mit eigener Hand bedient hätte. Eichmann hat den Mord an sechs Millionen Menschen gewissenhaft und minutiös geplant. Ebenfalls im Jahre 1961 ist in Princeton, New Jersey, ein Werk aus der Feder des Mathematikers, Physikers und Militärtheoretikers Herman Kahn Über den thermonuklearen Krieg erschienen.«
Ausführlich referierte der Autor die gefühlskalt formulierten Todesszenarien, die Kahn für den Fall eines Atomkriegs durchgespielt hatte. Seine Prognosen bezog der amerikanische Forscher sowohl auf die US-Bürger, falls diese von einem atomaren Angriff heimgesucht würden (was Enzensberger verdeckte), als auch auf die russischen Bürger, falls diese »für ihre Aggression« bestraft werden müssten. Am Ende fragte Enzensberger: »Kann man K. und E. vergleichen?«, und antwortete: »Die ›Endlösung‹ von gestern ist vollbracht worden. Die Endlösung von morgen kann verhindert werden.« Aber welcher Unterschied bestand nach H.M.E. zwischen E. und K.? Immerhin habe der eine »seine Opfer noch mit eigenen Augen gesehen«, aber »den Planern des Letzten Weltkrieges«, allen voran Herman Kahn, werde dieser Anblick erspart bleiben.
Dem Grundzug dieses apokalyptischen Essays folgend, nahmen seit 1967 hunderttausende junge Deutsche Reißaus vor der nationalen Vergangenheit. Sie suchten und fanden das »faschistische« Böse immer seltener im eigenen Land. Stattdessen wälzten sie die nationale Last auf andere ab, verwandelten sie zur Protestaufgabe der Gegenwart und skandierten bald auf hunderten Demonstrationen...