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Volkes Stimmen

»Ehrlich, aber deutlich« - Privatbriefe an die DDR-Regierung

Verlagdtv Deutscher Taschenbuch Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl576 Seiten
ISBN9783423429269
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
In Tausenden von Briefen an die Staatsspitze, Parteifunktionäre und Medien machten DDR-Bürger ihrem Herzen Luft, manche ganz offen, die meisten anonym:  Verbesserungsvorschläge, Ängste, Kritik an Versorgungsengpässen und unhaltbaren Zuständen in den Betrieben: »SED = selten etwas da«. Sehr deutlich spiegeln die Briefe Gedanken, Kritik, Ängste und die zunehmende Wut der Bevölkerung wider. Ihre Adressaten erreichten diese Schreiben nie, dafür sorgte die Stasi, die täglich ca. 100.000 Briefe kontrollierte.

Siegfried Suckut, geboren 1945, ist promovierter Politologe. Von 1978 bis1992 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Geschichte und Politik der DDR an der Universität Mannheim. 1992 Mitbegründer der Abteilung Bildung und Forschung in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR in Berlin, dort Fachbereichsleiter und von 1997 bis 2005 Leiter dieser Abteilung.

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Leseprobe

DDR-Bürger schreiben ihrer Regierung


Dokument 1
März 1964: Anonymer Brief aus Ost-Berlin an Ministerpräsident Chruschtschow, Moskau347


Berlin, den 12. März 1964

An die vier Siegermächte!

Bitte nehmen Sie Vernunft an und bereinigen Sie 19 Jahre nach Kriegsschluß endlich die deutsche Frage. Sie ist kein Problem! Bundesrepublik und DDR sind erst nach dem Kriege entstandene Gebilde und waren laut Abkommen der Siegermächte nur als Provisorien gedacht. Sie haben nie einen Krieg geführt, können auch keinen Friedensvertrag abschließen. Selbstbestimmungsrecht für alle Völker der Erde, auch für die Deutschen! Freie gesamtdeutsche Wahlen für eine gesamtdeutsche Volksvertretung, mit der alle vier Siegermächte den Friedensvertrag abschließen. Ausgangspunkt ist das Deutschland von 1937. Alle vier Siegermächte müssen korrekt angeben, was sie bereits als Kriegsbeute entnommen haben. Darüber entscheiden erst die Friedensverhandlungen.

Man werfe uns Deutschen nicht ewig die Nazizeit vor. Die breite Masse des Volkes konnte sich gegen den Nazi-Terror genau so wenig wehren wie wir Ostdeutschen jetzt gegen den Kommunisten-Terror. Unsere Geschichte ist nicht halb so grausig wie die der Siegermächte. Wir haben kein Massenmorden bei Revolutionen und Thronstürzen veranstaltet. Wir haben unsere Herrscherfamilien nicht abgeschlachtet, als sie wehrlos waren. Die Siegermächte mögen sich mal die Landkarte ansehen. Was für enorme Gebiete haben sie sich in Europa, Asien, Afrika und Übersee einverleibt. Unserem begabten und tüchtigen, aber nicht so gerissenen Volke blieb kaum die Luft zum Atmen. Sind dann Explosionen verwunderlich?

Und das jüdische Volk sei gefragt: Wer hat den Rassenhaß in die Welt gesetzt? Wer preist sich als das auserwählte Volk, das alle anderen Völker wie Aussatz ansieht und Vermischung mit ihnen als Besudelung ihres edlen Blutes ablehnt? Die Juden mögen sich dann nicht wundern, wenn überall der Bumerang zurückschnellt. Die Deutschen haben jedenfalls die Judenpogrome nicht erfunden, die kommen aus dem Osten. In Deutschland ging es den Juden Jahrhunderte lang besser als in anderen Völkern. Wenn die Juden ihre eigene Wurst gebraten haben wollen, dann auf ihrem eigenen Herd. Sie müssen sich schon ein eigenes Vaterland erkämpfen wie all die anderen Völker. Nur immer zum Absahnen in fremde Staaten kommen, muß Unwillen hervorrufen.

Und das russische Volk sei daran erinnert, daß es keine 40 Jahre her sind, da die Russen westlichen Ausländern, vornehmlich Deutschen, dankbar die Hände küßten für all die Belehrungen, die sie von ihnen empfingen. Es sei auch daran erinnert, daß die Raketen, die sie in den Kosmos schicken, die deutsche Erfindung aus Peenemünde ist, die sie als Kriegsbeute mitgenommen haben.

Warum klammern sich die Sowjets so heftig an Karl Marx? Er war ein arroganter Schwätzer, der die Ideen anderer zusammenmischte. Er war nie ein Arbeiter und hat sich meist von anderen ernähren lassen. Er hat auch keine Arbeiterin geheiratet und beglückt, sondern sich in den Adel eingeschlichen. Sollten wir Menschen des 20. Jahrhunderts nicht auf eigene bessere Lösungen der Gesellschaftsprobleme kommen? Unheil haben wir genug erlebt. Hinweg mit jeglichem Partei-Terror!

Ostberliner Arbeiter

Dokument 2
Juli 1966: Brief mit Unterschrift aus Bautzen an das Politbüro der SED


86 Bautzen, den 25. Juli 1966

An das Politbüro des ZK der SED

z. Hd. des Ersten Sekretärs

Genossen Walter Ulbricht

108 Berlin

Werte Genossen!

In weiten Kreisen der Arbeiterklasse besteht die Meinung, daß in letzter Zeit die Interessen der Arbeiterklasse nur ungenügend wahrgenommen worden sind, und unsere Republik viel mehr einen Staat der sogenannten »Intelligenz«, der reichen Handwerker und Gewerbetreibenden, der überbezahlten Komplementäre halbstaatlicher Betriebe als einen Staat der Arbeiter und Bauern darstellt, am allerwenigsten einen Staat der Arbeiter.

Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen, werte Genossen, die Hinweise und Vorschläge bekanntzugeben, die aus dem Kreise der Arbeiterklasse kommen, zumal anzunehmen steht, daß die Berichte der Kreis- und Bezirksleitungen unserer Partei über die Sorgen und Nöte der Arbeiterklasse diese Situation nicht wiedergeben.

1. Es wird ein umfassendes Sparprogramm erwartet, das dazu führt, daß die zu niedrigen Löhne erhöht und die Preise, vor allem für Industriewaren, auf das Weltniveau gebracht werden. Auf ein systematisches Sparprogramm, das Verringerung der leitenden und hochbezahlten Regierungsangestellten, Verminderung des kostspieligen und bisher den Zweck nur unzulänglich erfüllenden Planungsapparates sowie radikale Herabsetzung der Regierungsaufwendungen repräsentativer Art umfasst, sollte der Finanzminister verpflichtet werden. Rechenschaft über die Erfüllung wäre vor einem Kontrollausschuß der Volkskammer zu leisten.

2. Die Renten, deren Höhe vielfach als eines sozialistischen Staates unwürdig angesehen wird, sollten umgehend erhöht und dem Stand der kapitalistischen Länder angepaßt werden, so lange es nicht möglich ist, die ökonomische Überlegenheit des Sozialismus in der Praxis unter Beweis zu stellen, und unseren Werktätigen die gegenüber dem Kapitalismus weit bessere Altersversorgung zu gewährleisten. Die bisherigen unberechtigten Unterschiede in der Altersversorgung sind sofort zu beseitigen.

3. In aller Kürze sollte sich ein Plenum des ZK ausschließlich mit den in der Bevölkerung diskutierten Mängeln befassen, konkrete Beschlüsse zu deren Beseitigung fassen, Verantwortliche benennen und deren Verpflichtungen festlegen.

4. Da die Spanne zwischen den niedrigsten und den höchsten Einkommen viel zu weit ist, sollte als allgemein verbindliche Plankennziffer hierfür ein Verhältnis festgelegt [werden], das ausnahmslos verbindlich ist und bei etwa 1: 5 liegen müsste. Da gegenwärtig das niedrigste Einkommen brutto mit 300 Mark anzunehmen ist, dürfte es kein höheres Einkommen als 1500 Mark geben. So wenig der Sozialismus Gleichmacherei bedeutet, so wenig ist in ihm die Privilegierung zu dulden.
Innerhalb der Staats- und Verwaltungsorgane, Betriebe usw. ist für die jeweiligen Leiter eine ähnliche Plankennziffer festzulegen, etwa derart, daß das Einkommen des Leiters [um nicht mehr als] 30 Prozent des Durchschnitteinkommens aller unter seiner Leitung arbeitenden Werktätigen, angefangen von der Reinigungskraft, dem Pförtner usw. übersteigen darf. Das würde endlich dazu zwingen, daß sich die Leiter die Sorge um den Menschen weit mehr als bisher angelegen sein lassen, und würde auch Unterbezahlungen, die dann auf das Durchschnittseinkommen drücken, unterbinden.

5. Genau so wie wir Arbeiter aus bestimmten Anlässen und im sozialistischen Wettbewerb konkrete Verpflichtungen übernehmen, sollten dies auch die einzelnen Minister tun, zum Beispiel Finanzminister Verpflichtung zur Herabsetzung der Produktionsabgabe348 auf Bedarfsgüter der Arbeiterklasse, auf Senkung der Lohnsteuer und gleichmäßige Besteuerung, die Fachminister auf Verbesserung der Versorgung usw. Diese Verpflichtungen wären vor der Volkskammer abzurechnen.

6. Alle Sonderaufwendungen für privilegierte Personen sind sofort und radikal zu beseitigen. Zum Beispiel – wie übrigens schon vor langer Zeit von Kollegen Walter Ulbricht vorgeschlagen – die in übergroßer Zahl vorhandenen »personengebundenen« Wagen. Vor den Räten der Kreise und in der Bezirkshauptstadt stehen oft Hunderte von Wagen stundenlang, die Kraftfahrer haben bis zum Abend keine Beschäftigung. Das ist ein Hohn auf das Sparsamkeitsprinzip. Dieser Übelstand wird bei Diskussionen im Betrieb, bei denen es um Sparsamkeit geht, von unseren Genossen und Kollegen uns immer wieder vorgehalten. Sie verstehen nicht, daß dieser Mangel noch immer besteht und nicht schon längst abgestellt ist.

7. Neueinstellungen junger Menschen – bis zu 35 Jahren – in Verwaltungen aller Art sollten ab sofort unterbunden werden, damit die zur Senkung der Produktionsabgabe und zur Erlangung weltmarktfähiger Preise nötige radikale Verringerung und Vereinfachung der Planung und Verwaltung erreicht werden kann.

Ich bitte – auch im Interesse meiner Genossen – unbedingt zu gewährleisten, daß dieser Brief dem Genossen Walter Ulbricht vorgelegt wird. In der Presse sollte zu diesen Mängeln Stellung genommen werden.

Mit sozialistischem Gruß

[gut lesbare Unterschrift]

Dokument 3
August 1966: Anonymer Brief an das ZK der SED


ZK der SED,

1 Berlin

Werte Genossen!

»… und Westberliner leiden« schreibt das Neue Deutschland vom 3. 8. 1966. Es leiden aber vielmehr die Ostberliner, die weder nach Westberlin noch in die »BRD« dürfen, auch nicht bei Sterbefällen. Sie müssen doch blödsinnige Angst haben, daß Sie uns nicht nach dem Westen reisen lassen. So erziehen Sie sich keine Freunde. Die Beschneidung der Freizügigkeit ist die grösste Dummheit und zeigt so recht Ihre Verblödung. Man kann doch schliesslich sich aufhalten und arbeiten, wo man will. Sie haben die DDR zum KZ gemacht. Uns...

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