Ein Ruf – Walter 1
Sie trafen sich jedes Jahr an Allerheiligen auf dem Friedhof im heimatlichen Dorf. Einmal im Jahr kamen die verbliebenen Mitglieder der Familie zusammen, auch die über’s Jahr mittlerweile in alle Welt verstreuten Freunde und Bekannten aus früheren Zeiten. Allerheiligen war zu einem Treffen geworden, wie es früher vielleicht Weihnachten oder Ostern waren. Sie besprachen bei der Gelegenheit die Vorkommnisse des vergangenen Jahres, richteten die Gräber, zündeten Kerzen an und hörten dem Pfarrer zu.
Das Wetter in diesem Jahr ist schrecklich, nasses Schneegestöber, Windböen, morastiger Boden. Walter, mäßig beschäftigt damit, den Wortfetzen des Predigers zu folgen, kämpft noch mit den Folgen der Begrüßungsfeier vom Vorabend, nicht zu heftig war sie, aber wie meist von recht aufgeräumter Stimmung. Es gibt immer etwas zu erzählen, wenn die alten Gefährten und Schulfreunde wieder beim Wirt eintrudeln, und wenn alles sagbare Neue ausgetauscht wurde, werden die alten Streiche aufgewärmt, zu vorgerückter Stunde immer auch zum Heldenhaften neigend ausgeschmückt.
Während Walter also den etwas spät noch zu »ihren« Gräbern eilenden Bekannten zunickt, wird er von seinem neben ihm stehenden Cousin Samir leicht angestoßen. Ob er denn in letzter Zeit etwas von seinem Ältesten erfahren habe, wollte der wissen.
Was soll der Blödsinn, denkt Walter? Zwar weiß er nicht so genau, wo sich seine Kinder gerade herumtreiben, aber deshalb braucht sich doch der Cousin nicht auf Spurensuche zu begeben. Übertreibt der »studierte« Pedant wieder einmal seine Ordnung stiftende Fürsorglichkeit?
Der Pedant heißt eigentlich Samir Ferdinand, Samir nach seinem syrischen Vater und Ferdinand nach seinem hiesigen Großvater, der auch Walters Großvater ist. Aber alle im Dorf nennen ihn Sami. Er ist der Sohn von Walters Tante, der jüngeren Schwester von Walters Mutter. Die Tante lebt schon lange in der Stadt, hat ursprünglich Kindergärtnerin gelernt, arbeitet dort aber als Bibliothekarin.
Samir ist in der Stadt geboren, lebt aber seit geraumer Zeit auf dem verwaisten Hof der Großeltern, auf dem Berg, an dessen Fuße sich das Dorf erstreckt. Das Anwesen ist ein kleines Gehöft, von dem allein man heute nicht mehr leben könnte. Das gilt übrigens für die meisten Bauern in den Bergen.
Also nimmt auch Samir alle Arten von Arbeiten an, die in der Gegend gebraucht werden, arbeitet als ungelernter Mauer, Schreiner, Dachdecker, hilft in der Landwirtschaft benachbarter Höfe. Er schreibt aber auch für die Älteren Briefe mit seinem Laptop, hilft ihnen bei den bürokratischen Angelegenheiten und erklärt ihnen die Steuern. Er hilft, wo immer er gebraucht wird. »Schwarz« allerdings, wie es sich hier gehört, selbst wenn er für andere die Steuererklärungen erstellt.
Es wäre kein Wunder, dass ihn die Menschen deswegen in ihr Herz geschlossen haben. Der eigentliche Grund seiner Beliebtheit aber ist sein freundliches, warmherziges Wesen und seine hilfsbereite, zugewandte Art. Er sieht aus wie ein Araber, ist es zur Hälfte wohl auch, wird von der durchaus zu einer gewissen Fremdenfeindlichkeit neigenden Dorfbevölkerung aber als »Unsriger« verortet, einfach zu den Einheimischen gezählt. So lebt Samir Ferdinand irgendwie zwischen den Welten, als schon etwas überständiger Junggeselle, sich eine Existenz schmiedend, die heimisch ist und zugleich auch wieder nicht.
»Nein, nein«, insistiert Samir, »ich meine dein erstes Kind, das, mit dem seine Mutter Gerda damals spurlos verschwand, noch als sie mit ihm schwanger war. Sonderbare Aktion von ihr, als sie plötzlich alle Brücken hinter sich abbrach.«
Plötzlich verspürt Walter tief drinnen einen scharfen, hellen, lang anhaltenden Schmerz. Da ist er wieder, über Jahre begraben, fast vergessen, sorgfältig betäubt. Und jetzt, ungebremst, frisch wie am ersten Tag, unkontrollierbar und schneidend, wie damals.
Während er um Fassung ringt, schiebt er dem Cousin ein etwas zu heftiges »Nichts Neues« hinüber, fragt dann aber schnell nach, eher nur, um in der Routine des Redeflusses zu bleiben und sich darin wieder zu fangen, wie er denn um alles in der Welt darauf kommt, ihn auf diese Geschichte anzusprechen. Samir teilt ihm mit, dass er wiederum auf recht eigenartige Weise erfahren habe, dass Gerda, die damalige Freundin, mit dem mittlerweile wohl schon erwachsenen Kind als Teil einer größeren Familie im Ausland leben würde. Wo genau, das habe er leider nicht herausfinden können. Denn auch jetzt noch, fast zwei Jahrzehnte nach den damaligen Ereignissen, halte sie sämtliche Informationen sowohl über das Kind als auch über den Aufenthalt und die Lebensumstände der Familie wie hermetisch verschlossen.
Ja, die Ereignisse von damals hatte Walter lange Zeit sehr weit weggeschoben. Nicht wirklich vergessen war dieses Kind, die Trauer um seine ungelebte Beziehung mit ihm – und wohl auch mit seiner Mutter – war latent lange wirksam geblieben, auf eine Lösung wartend, aber bewusst zum Stillhalten gezwungen. Und jetzt, plötzlich, diese wuchtige Erregung, die ihn wie eine innere Sturzflut mitzureißen droht!
Die restlichen Stunden an diesem feuchtkalten Novembertag laufen für Walter sonderbar unwirklich ab. Phasenweise erlebt er sich, als würde er neben sich stehen, mühsam der Konvention im Gespräch gehorchend. Aber gleichzeitig ist er damit beschäftigt, die Flut an aufwühlenden, schmerzhaften Erinnerungen einzudämmen, zu sortieren, sich wieder zu sammeln.
Tags darauf macht sich Walter auf den Weg, um Samir auf dem Hof zu besuchen. Er will mit ihm reden, denn Samir hatte damals selbst eine sehr schwierige Zeit durchgemacht, als seine Eltern sich getrennt hatten. Auch hatte er die Ereignisse um Gerda hautnah mitbekommen, denn Walter hatte ihn über die Vorgänge eingeweiht, über die er mit anderen nicht sprechen wollte. Samir weiß, wie es um Walter damals bestellt war, und er wird, so hofft Walter, auch verstehen, wie es ihm an diesem Tag geht. Die aufgewühlte Stimmung vom Vortag hat sich etwas gelegt, als er den Hof erreichte.
Samir ist noch bei den Tieren, also wartet Walter in der Stube, während im Radio gerade Paul Simon Graceland singt. Walter hört tapfer zu und denkt an damals zurück. Gerda hatte systematisch jeden Kontakt zu gemeinsamen Bekannten abgebrochen, vordergründig wohl, um zu verhindern, dass Walter Kontakt mit dem Kind aufnehmen und dadurch den Aufbau ihres neuen Lebens stören, zumindest aber komplizierter machen könnte. Vielleicht wollte sie aber auch selbst nicht an die Umstände der Entstehung ihres Kindes erinnert werden.
Dabei waren diese Umstände gar nicht so ungewöhnlich gewesen, ereignen sich Jahr für Jahr zigtausendfach in ähnlicher Weise, schaffen dadurch eine Lebenswirklichkeit, die weitgehend tabuisiert ist: Natürlich, viele Kinder wachsen ohne Väter auf. Wie viele aber wachsen mit »falschen« Vätern auf, ohne es zu wissen?
Walter spürt, wie eine Hand sanft seinen Rücken berührt und eine Weile dort verharrt. Er war so in Gedanken versunken, dass er nicht bemerkt hatte, dass Samir von hinten an ihn herangetreten war. Seine Geste lässt Walters Traurigkeit noch einmal hochschwappen, bis sie sich dann etwas verläuft.
Eigenartig, dass gerade sein Cousin diese Verbindung quasi wieder zum Leben erweckte. War doch er damals derjenige gewesen, der ihn am stärksten dazu drängte, sich Gerdas Wunsch nach Gründung einer Familie zu widersetzen. Bis Walter schließlich Gerda einen Vorschlag machte, der ihren Rückzug einleitete.
Als sie sich in die Stube setzen, beginnt Samir zu sprechen. Er will erklären, warum er sich damals so weit aus dem Fenster gelehnt und Walter vor der Heirat gewarnt hatte. Er holt weit aus und beginnt, über seine eigene Krise zu sprechen, die er zum Ende seiner Kindheit hin als Jugendlicher erlebt hatte. Sie hat seine spätere Einstellung zu festen Bindungen stark geprägt und letztlich auch sein aus heutiger Sicht vielleicht etwas zu heftiges Einschreiten gegen Gerdas Heiratspläne beeinflusst.
Samir erzählt, wie es für ihn damals war, in der kleinen Stadtwohnung, mit jenem Gewühl der Kulturen, die extremer nicht sein konnten. Erzählend taucht er ein in seine Welt als Jugendlicher zwischen den Kulturen, in jene sonderbare Stimmung vor dem Knall.
Liebevoll, spaltend, einsam – Samir 1
Die Katze, seine Mutter hatte sie einst aus Südspanien mitgebracht, grau schwarz getigert, stets etwas unruhig in Gesellschaft. Jetzt setzt sie sich auf, macht einen perfekten Buckel und reibt ihren Kopf an seinem Handgelenk. Doch kaum will er sie streicheln, beißt sie in seine Hand, nicht fest, aber deutlich abwehrend. Was will sie, fragt sich Samir? Nähe oder Abgrenzung? Wahrscheinlich beides, aber eben nicht gleichzeitig.
Wie mag wohl die Innenwelt so einer Katze beschaffen sein, grübelt Samir weiter. Sie hat ja keine Sprache, aber hat sie Gefühle? Wie erlebt sie wohl ihn? Wenn sie keinen Begriff, keinen Namen für »Mensch«, für ihn, Samir, hat, wie erlebt sie ihn? Kann er sich ihre Welt vorstellen, so wie die Katze sie erlebt? Vermutlich hat sie ein klares Bild von ihm, aber weiß sie, wer er ist, auch ohne dass sie für ihn einen Namen hat? Wer ist er, Samir, für sie in ihrer Welt?
Na ja, so viel erlebt sie auch wieder nicht, denn die meiste Zeit schläft sie auf dem Kissen. So ist sie, Isabella, die Katze, in seiner Welt, in der sie einen Namen hat, von dem sie selbst nichts weiß. Wenn sie allerdings nicht schläft, bewegt sie sich irgendwie vorhersehbar, also konsistent in ihrer Welt. Und auch in seiner.
In Samirs Erleben gibt es eben nur seine Welt, doch muss die Katze natürlich...