Dienstag
San Bernardino
Wenn wir gestern Abend schon in Lugano stecken geblieben sind, soll es heute wenigstens bis zum Bodensee reichen. Über den San Bernardino hinüber nach Graubünden, und von dort dem Rhein entlang bis ans Ziel. Wir haben Walo versprochen, auf ihn zu warten, bis heute Morgen um acht. Wir könnten also ausnahmsweise ausschlafen – bis um sechs Uhr früh die fünf Sattelschlepper von Tatratrans aus Ungarn, die neben uns auf dem Gelände übernachtet haben, die Motoren aufbrummen lassen. Eine ganze Stunde lang. Besser als schlafen ist umladen. Einer unserer drei Tanks muss leer gepumpt und mit einer anderen Sorte Sonnenblumenöl wieder voll gepumpt werden. Los. Was zögern wir noch.
Danach gehen wir in die Tankstellenbar zu einem Cappuccino. Dass die Latzhosenmänner, ohne es zu merken, noch einmal in der gestrigen »Gazzetta dello Sport« blättern, behaupte ich nicht aus voller Überzeugung, aber es sieht ganz danach aus. Vielleicht sind es ja auch andere Latzhosenmänner.
Walo trudelt pünktlicher ein, als er es sich wohl selbst zugetraut hätte. Wie frisch geduscht. Der Star des Morgens. Aber Markus ist schon wieder einen Schritt weiter: »Ich setze jetzt auf meiner Scheibe eine Stunde Arbeitszeit ein.«
»Hm?«, fragt Walo und schaut weiterhin gleichgültig dem Girl an der Bar hinterher.
Markus sagt mit seinem klaren, ehrlichen Blick: »Ja, ich bin schließlich dran, einen Tank voll Sonnenblumenöl abzuladen und wieder Sonnenblumenöl aufzuladen.«
»Hm?«
»Ja. Einen Teil von dem, was ich über den San Bernardino schleppe, lade ich gerade hier und jetzt in Lugano.«
Walo fragt: »Schummelst du ein bisschen?«
»Aber nein«, sagt Markus. »Ich kann ja nichts dafür, dass ich umladen darf.«
Plötzlich erhellt sich Walos Gesicht: »Das S. Weil du umlädst, darfst du mit einem S über den San Bernardino.«
»So ist das.«
»Das möchte ich auch.« Er denkt einen Augenblick nach. »Kann ich nicht meinen Auftrag neu formulieren?«
»Kannst du schon«, sagt Markus. »Gilt aber als Urkundenfälschung.«
»Was solls. Ich machs.« Walo geht fast im Stechschritt zum Auto, stellt sich einen neuen Lieferschein aus und manipuliert seine Scheibe, um den Modus Arbeitszeit einzustellen. Dann hängt er wie Markus ein Täfelchen mit einem gelben S auf rotem Quadrat ans Heck.
Die strategische, ja fast philosophische Bedeutung von Walos Modifikation sollte mir erst am Fuß des Bernardino klar werden. Die Welt ist eine Scheibe. Diese bestimmt ein Truckerleben auf die Minute genau. Wehe dem, der sich nicht daran hält. So klein oder so groß wie eine CD, lässt die Tachograf-Scheibe keinen Raum für ein Alibi. Jeder Tag beginnt mit einer neuen, schneeweißen. Fahrzeit, Pausenzeit, Kilometerstand vorher und nachher, Geschwindigkeit, alles hinterlässt Spuren – und ist nicht mehr rauszuwaschen. Kein Einweichen, kein Weichspülen hilft. In der Schweiz genauso wenig wie in der EU. Neun Stunden sollst du fahren im Tag. Zwei Stunden darfst du anderweitig arbeiten, zum Beispiel warten. Von der elften bis zur vierundzwanzigsten ebenso. Und noch ein Gebot. Nach viereinhalb Stunden Fahren sollst du drei viertel Stunden pausieren. Du kannst sie auch auf fünfzehn und dreißig Minuten aufteilen. Zweimal pro Woche sind zehn Stunden Fahrzeit erlaubt. Über Nacht sind elf Stunden Ruhezeit Pflicht. Dreimal pro Woche reichen neun Stunden. Wer sich um diese und viele andere Vorschriften foutiert, wird nicht lange fahren. Die Bußen sind saftig, der Entzug des Führerscheins geht an die Substanz. Wehe dem, der glaubt, ohne Scheibe fahren zu können. Die Scheibe rausnehmen gilt in der EU als Urkundenfälschung. Doch wer niemals eine Fünf gerade sein lässt, bringt es als Fernfahrer kaum auf einen grünen Zweig.
Jetzt, am San Bernardino, hat Walo neue Wege und ein Mittel gefunden, den Paragrafenreitern ein Schnippchen zu schlagen. Es geht darum, den sogenannten S-Verkehr zu beanspruchen. Der S-Verkehr begünstigt die Fahrer im Schweizer Binnenverkehr. Wer wie Markus heute Morgen in der Schweiz geladen hat und auch wieder ablädt, bleibt nicht an den Ausstellplätzen vor den Pässen hängen. Indem Walo mithilfe der Scheibe glaubhaft macht, in Lugano geladen zu haben, braucht er am Fuß des Passes nicht zu warten, bis sie uns alle zwei Stunden einmal in einer langen Kolonne zur Anfahrt durch den San-Bernardino-Tunnel winken.
Damit alles mit scheinbar rechten Dingen zugeht, zaubert Walo einen Umlad in seine Papiere, und um diesen Umlad mit den Angaben auf der Scheibe in Einklang zu bringen, schaltet er seine Scheibe auf den Modus Arbeitszeit. »Kreative Gesetzesinterpretation«, sagt Markus, »das würde ich nicht riskieren.«
Ich sage: »Ihr werdet gepiesackt und wollt wenigstens euren Spaß daran haben.«
Aber Walo widerspricht grinsend: »Nein, nein, die Gesetze dienen allein unserem Wohl. Wir können ihnen nicht besser dienen, als wenn wir sie so interpretieren, dass sie diesen Zweck auch erfüllen.«
Im Bündelchen der Zeitungen, das wir uns für eine ruhige Minute aus der Bar mitgenommen haben, fällt mein Auge auf die Zeile: »Was für ein Land, das die Menschen dazu zwingt, sich mit illegalen Mitteln durch den Alltag zu schleppen.« Mein naheliegender Gedanke, die Geschichte drehe sich um Trucker in Deutschland und in der Schweiz, erweist sich auf den zweiten Blick als falsch. Es geht um Pedro Gutiérrez’ »Schmutzige Havanna Trilogie«, um diese literarische Dauererektion, die dem Helden Pedro Juan über vierhundert Seiten das Überleben in der täglichen kubanischen Katastrophe gestattet. Markus dreht das Radio an, und wir hören:
I’ve been all around this great big world
To Paris and to Rome
And I’ve never found a place that I
Could really call my own
But there’s a place where I know
The sun is shining endlessly
And it’s calling me across the sea
So I must get back to San Bernardino
Well I’m older and I’m wiser
And I’ve seen the light of day
And I think it’s time to realize
My dreams have gone astray
But I tried so hard to reach that star
That was so far away
Truckerfreuden, dass einem fast die Tränen kommen. Wieder mal führt der Zufall Regie. Auf unseren Hochsitzen schwelgen wir in der Stimme aus dem Radio, schauen durch den Mückenfriedhof auf der Frontscheibe hinab aufs automobilistische Niedrigwild um uns herum und fressen Asphalt, um bei Bellinzona in die sich verengende Ritze des Misox Richtung San Bernardino einzurollen.
So now I gotta find that road
That’s leading home to San Bernardino
Ob ich das auf der Blues Harp hinkriegte? Ich lege mir die Töne zurecht für meine Hohner in G. Nicht dass ich sie nach den Regeln der Kunst so zu quälen verstehe, dass die Herzen der Hörer zu schluchzen beginnen. Eher quäle ich damit meine eigenen Ohren – und treibe es heimlich. Wildwestmelodien sind nicht allzu schwierig. Blood in the Saddle zum Beispiel. Oder Spiel mir das Lied vom Tod. Diesen ersten Heulton in den Keller ziehen und wieder aufjaulen zu lassen, hatte ich in meinen Rucksackreisejahren ein paar Hundert Telefonstangen weit geübt. Bis die Drähte zu weinen begannen. Zu schade, habe ich dieses kleine Ding jetzt nicht dabei. Home to San Bernardino. Gerade, als der Refrain zum letzten Mal kommt, ruft Walo an. Er hat kalte Füße bekommen: »Du, Markus, ich glaube, ich habe Scheiße gebaut. Mein Tank ist doch plombiert. Wenn ich da erwischt werde, wirds teuer.«
»Nein, nein, lieber Walo, hast Glück«, sagt Markus nach kurzer Überlegung und freut sich für ihn: »Es ist ja keine Zollplombe. Sie ist von der Firma. Es ist alles okay.«
Kurz darauf, am Ende der Talsohle, hält uns ein Security-Mann an: »Wo haben Sie geladen?«
Beide: »In Lugano.«
Er sagt okay und winkt uns durch. Hat der Mann nicht einen traurigen Job? Muss sich immer wieder nach Noten belügen lassen. Eine Reihe roter Plastikzylinder auf dem Asphalt weist uns nach links auf die Durchfahrstrecke. Auf der rechten Spur steht eine Kolonne von mindestens drei Dutzend Sattelschleppern. Darunter die fünf ungarischen von Tatratrans. Und tschüss. Home to San Bernardino.
Fünfundzwanzig Tonnen Sonnenblumenöl über die Alpen zu ziehen, ist auch für vierhundertsechzig Pferde Schwerarbeit. Ich stelle mir Rudolf Kollers Gotthardpost vor und wie breit seine Leinwand sein müsste, damit man vierhundertsechzig Pferde anschirren könnte. Lostallo, Cabbiolo, Soazza… In der ununterbrochenen Steigung kriechen und riechen wir an den Dörfern vorbei, während sich die Kühe an den Bäumen den Nacken kratzen. Ich bin schon öfter...