Stellen wir uns folgende Situation vor: Man ist zu einem Essen eingeladen und betritt das Wohnzimmer der Gastgeber. Und scannt sofort den Raum nach Frauen oder Männern, die einem in sexueller Hinsicht gefallen könnten … Warum macht man das?
Ich weiß nicht, ob »man« das immer so macht, und ob Männer und Frauen es in gleicher Weise tun. Ich glaube auch nicht, dass es in einer solchen Situation automatisch um Sexualpartner geht. Was sich in einem solchen Fall allerdings tatsächlich beobachten lässt, ist, dass wir eine strukturelle Wachsamkeit für Personen besitzen, die unserer Sexualpräferenz entsprechen; und die binden unsere Aufmerksamkeit stärker als andere. Das ist ein Prinzip, das sich auch Wirte von Kneipen, die überwiegend von Männern besucht werden, zunutze machen: Sie stellen vorzugsweise attraktive Kellnerinnen ein. Dieselbe Arbeit könnten genauso gut ältere Herren oder Damen verrichten. Wenn aber in einer Kneipe hübsche, junge Mädchen herumlaufen, finden das heterosexuelle Männer in der Regel gut. Diese Männer betrachten die Kellnerinnen nicht unbedingt als potenzielle Sexualpartnerinnen, sondern schauen nur gern an, was sie in sexueller Hinsicht anspricht. Das empfinden sie als angenehm. Klar, dass das in einer Schwulenbar andersherum genauso läuft.
Lässt man seine Blicke auch wandern, wenn man in einer festen Beziehung ist?
Diese Blicke sind vollkommen unabhängig davon, ob man sich in einer festen, womöglich sogar in einer glücklichen oder erfüllten Beziehung befindet oder ob man Single ist. Die Lenkung der Aufmerksamkeit findet quasi automatisch statt. Solche Prozesse sind wahrnehmungspsychologisch ziemlich gut erforscht. In einem Versuch hat man Menschen gebeten, durch eine Fußgängerzone zu laufen, und sie anschließend gefragt, wen sie gesehen hätten beziehungsweise wer ihnen aufgefallen sei. Wenig überraschend zeigte sich: Die Probanden erinnerten sich signifikant häufiger an Personen, die ihrer Sexual- und Beziehungspräferenz entsprachen. Was sonst noch in der Fußgängerzone geschah, schien an ihrem Bewusstsein vorbeizurauschen.
Männer blicken dabei tendenziell vor allem auf Busen, Beine und Po. Frauen schauen zwar auch auf die Figur, darüber hinaus aber auch ins Gesicht und in die Augen. Diese »Wachsamkeit« macht sich bekanntlich auch die Werbung zunutze und arbeitet stark mit sexuellen Reizen, die unsere Aufmerksamkeit binden.
Was ich damit sagen will, ist: Unsere gesamte soziale Wahrnehmung ist von unserer sexuellen Präferenz beeinflusst. Unsere Geschlechtlichkeit und Sexualität durchwirkt alle Lebens- und Erlebensbereiche – selbst wenn wir bloß durch eine Fußgängerzone laufen.
Sie haben gerade eine Unterscheidung zwischen »Sexualpräferenz« und »Beziehungspräferenz« gemacht. Wo liegt denn da der Unterschied?
Das könnte jetzt ein bisschen theoretisch werden.
Wenn es der Wahrheitsfindung dient …
Wahrheitsfindung weiß ich nicht, aber dem Verständnis, wenn wir genauer wissen wollen, »worauf wir stehen«. Diese Formulierung lässt mich spontan an die allgemein bekannten Befunde der Attraktivitätsforschung denken, die in Ratgebern und Zeitschriften verbreitet werden: evolutionsbiologisch geprägte Körperfigurmuster – V-Form bei ihm, Taille-Hüft-Verhältnis bei ihr –, Weiblichkeits- und Männlichkeitsattribute wie Busen und Bizeps, »Gegensätze ziehen sich an«, »Ähnlichkeit verbindet« und so weiter. Sie kennen die reißerischen Magazintitel: »Worauf Frauen im Bett wirklich stehen«, »Was Männer an Frauen wirklich anmacht«, »Worauf Sie beim Flirten achten sollten« usw. Ich denke, diese wiederkehrenden Schlagzeilen sind vor allem ein Ausdruck des großen Interesses daran, wer wen warum attraktiv findet und worin sich das äußert.
Um zu verstehen, wie sich das Phänomen, dass wir in sexueller Hinsicht »auf etwas stehen«, tatsächlich zusammensetzt, müssen wir ein paar Dinge voneinander unterscheiden.
Die »Sexualpräferenz« ist der Oberbegriff für all das, was unserem sexuellen Verlangen zugrunde liegt. Ich übersetze diesen Begriff manchmal spielerisch mit Liebesrichtung. Drei Achsen sind es, auf denen ich die Sexualpräferenz verorte: die Orientierung, die Ausrichtung und die Neigung. Die sexuelle Orientierung gibt an, ob sich jemand zu Männern oder/und Frauen hingezogen fühlt. Die sexuelle Ausrichtung besagt, ob das sexuelle Interesse auf kindliche, jugendliche oder erwachsene Körper gerichtet ist, sie zeigt also den körperlichen Entwicklungsstatus des begehrten Sexualpartners an. Die sexuelle Neigung schließlich betrifft einerseits die Frage, welchen Typus man bevorzugt, und zwar sowohl den Phänotyp (groß, klein, dick, dünn usw.) als auch den Genotyp, also die »genetische Passung«. Andererseits geht es bei der Neigung auch um den Modus, also die bevorzugte Art und Weise der sexuellen Betätigung: wie wir es gerne hätten, was uns Spaß macht und uns sexuell am meisten erregt. Auch da gibt es Vorlieben, die viele Menschen für sich benennen können, und auch die gehören zur Sexualpräferenz.
Das müssen Sie genauer erklären: Wir haben eine Präferenz für einen Genotyp, der genetisch zu uns passt? Wie stellen wir das denn fest – das kann man doch nicht sehen?
Nein, sehen kann man sie nicht, aber »riechen«. Die meisten Menschen kennen die Erfahrung, dass sie jemanden, den sie mögen und attraktiv finden, auch gut riechen können – und gern riechen wollen. Umgekehrt gibt es aber auch solche, die wir partout »nicht riechen können.« Partner erkennen einander oft am Geruch, und sie mögen es, an Kleidungsstücken zu schnüffeln, die der andere getragen hat. Die Parfumindustrie lebt davon, dass Liebe nicht nur durch den Magen, sondern auch durch die Nase geht und wir ebenfalls in olfaktorischer Hinsicht beim anderen ankommen wollen.
Aber es gibt noch eine unbewusste Schiene bei diesen Geruchssensationen. Wir nehmen olfaktorisch nämlich auch wahr, wie gut der andere in genetischer Hinsicht zu uns passt.
Nicht Ihr Ernst!
Nein, nicht mein Ernst – aber der der Kollegen, die das erforscht haben. Die sagen Folgendes: Wir Menschen senden Ausdünstungen aus, die andere durch ein entwicklungsgeschichtlich sehr altes Riechzentrum in der Nase, das sogenannte Vomeronasal-Epithel oder Jacobson-Organ, wahrnehmen können. Auf diese Weise funktionieren übrigens auch die Pheromone. Diese Ausdünstungen nehmen wir zwar nicht als »Geruch« im eigentlichen Sinne wahr, aber die entstehenden olfaktorischen Sensationen sind offenkundig erlebens-, entscheidungs- und verhaltenswirksam. Jemanden, dessen Gene unseren eigenen halbwegs ähneln, erleben wir als sexuell weniger attraktiv als einen Menschen, der in genetischer Hinsicht eine ganz andere Ausstattung hat als wir selbst – der im Sinne der Durchmischung verschiedener Erbanlagen also genetisch gut zu uns »passt«.
Zu diesem Thema gibt es spannende experimentelle Untersuchungen, unter anderem von Verhaltensforschern aus Wien. Sie haben untersucht, wie sich die olfaktorische Wahrnehmung beispielsweise auf die Sitzplatzwahl auswirkt: In einem Wartezimmer wurden Stühle mit verschiedenen »Gerüchen« unterschiedlicher Personen präpariert. Man schickte Probanden in diesen Raum und beobachtete, welchen Sitzplatz sie jeweils wählten. Und es hat sich herausgestellt, dass sich die Probanden überwiegend auf genau den Stuhl setzten, der mit dem »Geruch« einer Person präpariert war, die genetisch möglichst anders ausgestattet war und darum gut zu ihnen passte.
Sehr spannend. Aber irgendwie auch ernüchternd. Der Mensch als Marionette der Biologie?
Nein, keine Sorge! Wir sprechen hier ja nur von einem Aspekt menschlicher Attraktivitätswahrnehmung, dem biologischen Drittel! Zu den psychologischen und soziologischen Anteilen, aber auch den sozialen, nämlich partnerschaftlichen Anteilen, die die beiden anderen Drittel ausmachen, kommen wir noch.
Die Sexualpräferenz entsteht in einem Zusammenspiel aus biologischen Dispositionen, sozialisatorischen Prägungen sowie dem Aufgehen dieser beiden Einflüsse in der psychologischen Ausformung einer Persönlichkeit. Dass ein Teil der Sexualpräferenz allerdings auch biologisch angelegt ist, kann man an dem Umstand erkennen, dass für die meisten Menschen schon in der Kindheit, spätestens aber ab der Pubertät einigermaßen klar ist, was sie in sexueller Hinsicht anspricht. Und im Großen und Ganzen ändert sich das im Laufe ihres Lebens nicht mehr grundlegend. Die sexuelle Ansprechbarkeit kann über die Lebensspanne schon mal schwanken und variieren, bleibt im Kern aber ziemlich konstant. Das gilt übrigens nicht nur für die Sexualpräferenz, sondern auch für andere stabile Persönlichkeitsmerkmale.
Um die Entstehung und die Konstanz der Sexualpräferenz zu verdeutlichen, vergleiche ich sie gern mit einem anderen stabilen Persönlichkeitsmerkmal des Menschen: der Intelligenz. Die intellektuelle Leistungsfähigkeit bestimmt sich zu gleichen Teilen aus biologischen Dispositionen – was haben wir genetisch von unseren Eltern, sozusagen »ab Werk«, mitbekommen? – und aus sozialisatorischen Prägungen, heißt: Wie wurde die Entwicklung der Intelligenz des Kindes gefördert bzw. gehemmt? Wurde mit ihm gesprochen? Wurden ihm Fragen gestellt und beantwortet? Wurde es zum Erzählen aufgefordert? Wurde ihm zugehört? Aus diesen beiden Faktoren, den biologischen Dispositionen und den sozialisatorischen Prägungen, bildet sich auf der psychologischen Ebene eine individuelle intellektuelle Leistungsfähigkeit heraus, die dann Bestandteil der Persönlichkeit...