Vorwort zur deutschen Ausgabe[1]
Obwohl man sich lange genug darauf hatte einstellen können, sorgte das britische Referendum am Freitagmorgen des 24. Juni 2016 für einen enormen Schock. So mancher europäische Regierungschef hatte sich am Abend zuvor in der stillen Hoffnung ins Bett gelegt, die Abstimmung werde gut ausgehen. Umso größer war der Schreck in der Morgenstunde. Die Mehrheit der britischen Wähler hatte sich für den Austritt entschieden. Aus einer abstrakten Möglichkeit war über Nacht eine politische Tatsache geworden. Was nun?
Während an diesem Freitag die erstaunlichen Ereignisse und Abrechnungen in London die Welt in Atem hielten, rückte auch der Kontinent ins Licht der Scheinwerfer. Auf Bitten von 10 Downing Street hatten die europäischen Staats- und Regierungschefs monatelang kaum mehr getan als gewartet, gehofft und Kerzen angezündet. Plötzlich stand nicht allein die Zukunft Großbritanniens, sondern auch die von Europa insgesamt auf dem Spiel. Schnell machte sich die Erkenntnis breit, dass der »Brexit« auch diesseits des Ärmelkanals große Unsicherheit bedeutet. Immerhin verabschiedet sich damit Europas zweitgrößte Volkswirtschaft, eine militärische und diplomatische Großmacht mit etwa einem Achtel der Bevölkerung der Union. Das interne Gleichgewicht in der Union wird sich verschieben, die deutsche Macht noch deutlicher zutage treten. Von Frankreich über die Niederlande bis nach Österreich – überall fühlen sich die Populisten bestärkt, weitere Austrittsreferenden könnten folgen.
Für Europa bedeutet der britische Austritt eine Amputation, aber nicht den Todesstoß – vorausgesetzt, die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker bekommen die entfesselten Kräfte wieder unter Kontrolle. Von den siebenundzwanzig Regierungen erfordert das Lebenswillen und Entschlossenheit, die in Initiativen münden müssen, um das Vertrauen ihrer Bevölkerungen zurückzuerobern. Die Staats- und Regierungschefs stecken in einer Zwickmühle: Sie müssen zeigen, dass die Union glaubwürdige Antworten auf reale Probleme bieten kann, und dabei gleichzeitig die Desillusionierung ihrer eigenen Wähler gegenüber ebendieser Union im Auge behalten. Es gilt, neue Unterstützung für Europa zu gewinnen, ohne diese gleich wieder zu verlieren.
Das Ergebnis des Referendums widerspricht einem uralten Axiom der europäischen Politik. Seit den Kohle-und-Stahl-Tagen von Schuman und Adenauer setzt man auf die sorgfältige Verflechtung wirtschaftlicher Interessen als Garantie für Frieden und Wohlstand. Ökonomische Interdependenz, so die Idee, werde unwiderruflich zu besseren Beziehungen zwischen dankbaren Völkern führen. Die britischen Wähler straften dieses Integrationsaxiom Lügen. Die Aversion gegenüber Immigranten war stärker als die Angst vor Wohlstandsverlust; Identitätspolitik siegte über wirtschaftliche Interessen. In der Logik der Gründerväter war eine solche Entscheidung undenkbar. Die Flutwelle spülte noch einen weiteren heiligen Lehrsatz der Brüsseler Doktrin hinweg: die Überzeugung, Integration sei eine Einbahnstraße. Es könnten zwar weitere Länder und Zuständigkeitsbereiche dazukommen, Austritte oder eine Rückübertragung von Kompetenzen seien jedoch unmöglich. Kurz, wir bewegten uns unaufhaltsam in Richtung einer »immer engeren Union«. Diese Unumkehrbarkeit erweist sich als Illusion. Plötzlich spürt die Europäische Union ihre historische Verletzbarkeit.
Sie kann aus dieser Entdeckung allerdings auch neue Kraft schöpfen. Dazu müsste sie jedoch anerkennen, dass sie nicht länger allein von der alten Brüsseler Methode vorangetrieben wird, dass sie seit Langem dabei ist, sich in einen politischen Körper zu verwandeln, und dass öffentlicher Widerspruch der Sauerstoff ist, den sie benötigt, wenn sie handlungsfähig sein will.
Angesichts des britischen Referendums stellen sich drei grundsätzliche Fragen, die auch in diesem Buch im Mittelpunkt stehen, in zugespitzter Form: Wie ist es um das Verhältnis zwischen dem politischen Europa und der Öffentlichkeit bestellt? Ist die Union überhaupt dafür gerüstet, auf große Erschütterungen zu reagieren? Wer hat in Zeiten der Unsicherheit die Führung inne? Schärfer formuliert: Wie soll man mit europäischen Wählern, Brüsseler Vorschriften und deutscher Macht umgehen?
Zur ersten Frage. Es sind nicht nur die britischen Wähler, die knurren und nun auch zugebissen haben. Auch in Frankreich, den Niederlanden, Italien oder Dänemark murren sie. Das Vertrauen der Bürger in die europäischen Institutionen ist so schwach wie nie zuvor. Die Eurokrise hat tiefe Spuren hinterlassen, sowohl in Ländern, die unter dem Druck aus Brüssel sparen und Reformen durchführen mussten, als auch in Ländern, die mit dem Geld ihrer Steuerzahler einsprangen, um schwächeren Ökonomien zu helfen. In der Flüchtlingskrise von 2015/16 verspielte die Union dann erneut Kredit. Bei einigen, weil sie die Mitgliedstaaten zu Gastfreundschaft gegenüber den Asylsuchenden verpflichtete, bei anderen, weil sie den Menschenstrom durch einen »prinzipienlosen« realpolitischen Deal mit der Türkei einzudämmen versuchte.
An der Union haftet das Vorurteil, dass sie sich vor allem um die Freiheit und das Eröffnen von Chancen kümmert und weniger um den Schutz der Bevölkerung. Schon seit ihren frühesten Anfängen baut sie Grenzen ab; sie ist die Heldin all derjenigen, die sich Bewegungsfreiheit wünschen, um anderswo Dinge zu verkaufen oder zu studieren, um zu reisen oder zu arbeiten. Sie macht Europa – mit einer Unterscheidung von Michel de Certeau gesprochen – zu einem Raum, nicht zu einem Ort. Sie nutzt damit den gut ausgebildeten »Mobilen«, die Grenzen überschreiten und Fremdsprachen beherrschen, verunsichert dabei jedoch die (nicht minder große) Gruppe der »Daheimgebliebenen«. Aus Sicht weiter Teile der Bevölkerung ist die Union ein Verbündeter der Globalisierung mit ihren Güter- und Menschenströmen, keine Bastion dagegen. Solange sie keine Balance zwischen Freiheit und Schutz findet, werden auch weiterhin große Wählergruppen beim Nationalstaat Schutz vor Europa suchen.
Neben der Enttäuschung in der Mitte gibt es den politischen Hass an den Rändern. Die UK Independence Party (Ukip) gab mit dem Brexit die Richtung vor; populistisch-nationalistische Bewegungen in Frankreich, den Niederlanden, Ungarn, Dänemark und Italien stehen bereit, diesen Weg ebenfalls einzuschlagen. Es ist eine organisierte »nationalistische Internationale«, die sich im Namen der Souveränität und der Identität gegen die Union wendet. Diese Zentrifugalkräfte bürden dem bislang noch weitgehend populismusresistenten Deutschland die große Verantwortung auf, als »Macht in der Mitte« (Herfried Münkler) das europäische Zentrum zusammenzuhalten. Der Erfolg von Donald Trump in Amerika erinnert uns daran, dass Europa kein Monopol auf Populismus und Xenophobie hat. Dennoch müssen sich insbesondere die Mitgliedstaaten der Union den Vorwurf gefallen lassen, ihre Bürger nicht angemessen an Entscheidungen über ihre Zukunft zu beteiligen. Obwohl jeder Beschluss formal auf der nationalen wie der europäischen Ebene abgesichert ist, verwandelte Brüssel sich in der Vorstellung vieler in eine Art ausländische Besatzungsmacht.
Ein Vergleich mit der nationalen Politik ist an dieser Stelle hilfreich. Jede nationale Regierung – sagen wir, die polnische – trifft an jedem einzelnen Tag Entscheidungen, die von Oppositionsparteien in unterschiedlichem Ausmaß angegriffen werden können, die den Wählern nicht passen oder sogar zu Protesten oder Streiks führen. Doch was selbst die Demonstranten in der Regel nicht infrage stellen, ist die Legitimität der polnischen Regierung als solche. Sie wünschen sich vielleicht, dass der polnische Ministerpräsident am besten schon morgen sein Büro räumt, aber sie betrachten ihn immer noch als »unseren (fürchterlichen) Ministerpräsidenten« und sprechen von »unserem (enttäuschenden) Parlament« und »unseren (schlechten) Gesetzen«. Die politische Identität wiegt schwerer als die Ergebnisse demokratischer Prozesse. Dieses »Unser« ist die Achillesferse Europas. Wenige Menschen betrachten europäische Entscheidungen als »unsere Entscheidungen« oder europäische Politiker als »unsere Repräsentanten«. (Bezeichnenderweise gilt nur der von der jeweils eigenen Nation gestellte Kommissar als »unser Kommissar«, während die Mitglieder des Europäischen Parlaments oft als Vertreter Brüssels betrachtet werden und nicht als diejenigen, die da draußen »für uns« sprechen.) Doch gerade dieses – unglaublich schwer zu fassende, erst recht schwierig zu erzeugende – Gefühl, dass einem etwas gehört, dass etwas zu einem gehört, ist unverzichtbar, um gemeinsamen Entscheidungen Legitimität zu verleihen. Ergebnisse sind wichtig, aber sie allein können diese Legitimität nicht begründen, nicht zuletzt, weil auf gute irgendwann auch einmal schlechte Zeiten folgen. Das ist übrigens der Grund, warum Mehrheitsentscheidungen das Problem sogar noch verstärken. Unzufriedenheit mit bestimmten politischen Maßnahmen (policy) kann dann umschlagen in die Missachtung der Union als eines politischen Körpers (polity). Der Schlüssel liegt in einem besseren Verständnis der politischen Prozesse (politics).
Will man die nationalen Öffentlichkeiten überzeugen und an sich binden, ist es unerlässlich, zunächst einmal anzuerkennen, dass das europäische Spiel nicht in erster Linie in Brüssel ausgetragen wird. An der europäischen Politik sind die Regierungen, Parlamente,...