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Schlüsselbegegnung – Michail Gorbatschow in Bonn
Sechs Wochen nachdem die Ungarn Anfang Mai 1989 begonnen hatten, ihre Grenzsperranlagen abzubauen und den »Eisernen Vorhang« zu demontieren, kam Michail Gorbatschow, der Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU und Vorsitzende des Obersten Sowjets, zu seinem ersten Staatsbesuch in die Bundesrepublik Deutschland. Der Besuch war eine Schlüsselbegegnung zwischen ihm und mir, deren weitreichende Folgen im Juni 1989 noch niemand erahnen konnte.
Ich freute mich darauf, Gorbatschow wiederzusehen. Wir hatten uns für den mehrtägigen Besuch viel vorgenommen. Unser gemeinsames Ziel war es, die Beziehungen unserer beiden Länder in Anerkennung der jeweiligen Vertrags- und Bündnisverpflichtungen und trotz aller grundsätzlichen Unterschiede auf eine ganz neue Basis zu stellen. Wir wollten damit unseren Beitrag zur Bewältigung der historischen Herausforderungen in der Welt leisten und vor allem die Chancen der Veränderungen für Frieden in Europa und der Welt nutzen. Ich verband damit auch Hoffnung für die deutsche Frage.
Unsere Begegnung stand unter drei Leitmotiven, die wir uns bei meinem Besuch in Moskau im Oktober 1988 gemeinsam vorgenommen hatten:
Wir wollten die Beziehungen zwischen der Sowjetunion, unserem größten und wichtigsten östlichen Nachbarn, und der Bundesrepublik auf allen Gebieten ausbauen. Diese Beziehungen waren für uns von zentraler Bedeutung.
Wir wollten das Fundament des Vertrauens zwischen beiden Staaten und Regierungen verbreitern und darauf einen Zustand guter Nachbarschaft dauerhaft begründen.
Wir wollten einer über die Verständigung der Regierungen hinausführenden Aussöhnung der Völker den Weg ebnen.
Der 12. Juni 1989, an dem das Staatsoberhaupt der UdSSR mit seiner Frau Raissa kurz nach 11 Uhr auf dem Köln-Bonner Flughafen landete, war ein herrlicher Tag. Gorbatschow wurde von rund 70 Delegationsmitgliedern begleitet; unsere Gäste hatten sogar ihre eigenen schweren SIL-Limousinen aus Moskau mitgebracht. Mit 21 Schuss Salut wurde der Staatsgast empfangen.
Fast zwei Stunden dauerte das erste von insgesamt drei vertraulichen Gesprächen zwischen Gorbatschow und mir im Bundeskanzleramt. Gorbatschow schien mir dabei in viel besserer Verfassung zu sein als noch bei meinem Besuch wenige Monate zuvor in Moskau. Vor allem im Blick auf seine eigene Situation kam er mir viel optimistischer vor. Zu Beginn überreichte ich dem Gast aus Moskau zwei Silbermünzen, die anlässlich des Besuchs mit unseren Porträts geprägt worden waren. Gorbatschow bedankte sich und stellte mit einem ironischen Lächeln eine gewisse Ähnlichkeit der beiden Porträts fest. In den Vorberichten zum Besuch Gorbatschows hatte ich ein Interview mit seiner Mutter im Fernsehen gesehen, das mich sehr beeindruckte. Ich erlaubte mir deshalb, dem Generalsekretär ein Geschenk für seine Mutter mitzugeben. Michail Gorbatschow zeigte sich von der Geste sehr gerührt. Seine Mutter, sagte er, sei eine sehr einfache Frau, die nun schon 78 Jahre alt sei, während sein Vater, eigentlich der robustere und sportlichere von beiden, im Alter von nur 66 Jahren plötzlich gestorben sei.
Bei unserem Gespräch ging es zunächst um die weltpolitische Lage. Im Mittelpunkt standen dabei die Ost-West-Beziehungen und die damit verbundenen komplizierten Abrüstungsfragen. Neben den Ergebnissen des Brüsseler Nato-Gipfels, der wenige Tage zuvor stattgefunden hatte, behandelten wir die Konsequenzen, die sich aus der amerikanischen Präsidentenwahl ergaben. Gorbatschow wollte von mir Näheres über die Persönlichkeit des neuen Präsidenten George Bush und seiner Frau Barbara erfahren. Er machte deutlich, dass Bush ihm etwas ambivalent erscheine. Ganz offen berichtete ich ihm über das gute Verhältnis zwischen Bush und mir und vor allem zwischen Barbara Bush und meiner Frau Hannelore, die sich auf Anhieb außerordentlich gut verstanden hätten. Ich erläuterte, wie sich mir die außen- und innenpolitische Lage des amerikanischen Präsidenten darstellte, und zeichnete ein ausgesprochen positives und europafreundliches Bild meines Freundes George Bush. Ich beschrieb auch seine starke Rolle beim jüngsten Nato-Gipfel. Zu Barbara Bush merkte ich an, dass sie im Weißen Haus zur Beruhigung beitrage. Als Mutter und Großmutter habe sie sicher keinen Sinn für Scharfmacherei. Auch mein besonderes Verhältnis zum französischen Staatspräsidenten François Mitterrand erläuterte ich kurz. Zwischen uns gebe es in zentralen Fragen keine Meinungsunterschiede.
Schließlich kamen wir auf die DDR zu sprechen. Unter Bezug auf die grundlegenden Veränderungen in den sozialistischen Staaten wies Gorbatschow darauf hin, dass es zu einer Destabilisierung führen müsse und damit auch die Verständigung zwischen West und Ost gefährden würde, wenn jemand versuchen würde, von außen Einfluss zu nehmen. Mit allem Nachdruck unterstrich ich, dass die Bundesrepublik nicht an einer Destabilisierung der DDR interessiert sei. Im Augenblick jedoch trage Generalsekretär Honecker selbst zur Destabilisierung der DDR bei, weil er nicht bereit sei, Veränderungen durchzusetzen. Ich erläuterte Gorbatschow, dass man mich immer wieder aufforderte, öffentlichen Druck auf die DDR auszuüben, damit dort wie in der Sowjetunion, Polen und Ungarn Reformen durchgeführt würden. Mir sei bewusst, dass die Lage in der DDR immer schwieriger werde, und ich würde mich deshalb mit öffentlichen Äußerungen zurückhalten, könne allerdings die innenpolitischen Wirkungen nicht völlig außer acht lassen.
Gorbatschow zeigte keine Reaktion. Er wollte offenbar keine Kritik an Honecker üben. Aber was er dann sagte, zeugte doch von einer bemerkenswerten Distanz zur Ost-Berliner Führung: Auch für die DDR gelte der Grundsatz, dass jeder für sich selbst verantwortlich sei. Moskau habe nicht die Absicht, anderen Lehren zu erteilen. Man bitte ja selbst auch nicht darum, belehrt zu werden. Sein Land trete für positive Veränderungen in allen Beziehungen, für die politische Erneuerung, für den Umbau der Wirtschaft sowie für die Selbständigkeit der sozialistischen Staaten ein.
Wir waren uns einig, dass es jetzt, in dieser Stunde der Veränderungen, darauf ankam, klug zu handeln und trotz der unterschiedlichen Positionen Verständnis füreinander zu haben. Als Vorsitzender der größten christlich demokratischen Partei Europas war ich ideologisch vom Generalsekretär der KPdSU weit entfernt und dennoch an seinem Erfolg interessiert. Gorbatschows Erfolg würde die Chance auf Frieden erhöhen, und mit seinem Reformkurs würden wir auch in der deutschen Frage, in der ich sicherlich nicht mit ihm übereinstimmte, weiterkommen. Ich war dabei ohne Illusionen. Mir war wohl bewusst, dass Gorbatschow über eine Veränderung der europäischen Statik – und dazu gehörte auch die deutsche Frage – mit mir nicht diskutieren wollte, und so lenkte ich das Gespräch auf die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern, insbesondere die Wirtschaftsbeziehungen, und betonte, mir hier eine Verbesserung zu wünschen. Entscheidend war jetzt, dass wir in Anerkennung bestehender, auch gewichtiger Unterschiede – wie in der deutschen Frage – gleichwohl auf Zusammenarbeit setzten, wo dies sinnvoll und vernünftig war, ohne unsere Grundpositionen aufzugeben.
Zum Ende unserer ersten Gesprächsrunde, als wir wieder auf den Brüsseler Nato-Gipfel und aktuelle Abrüstungsfragen zurückkamen, bot ich Michail Gorbatschow an, in den vor uns liegenden Monaten, die sehr wichtig werden dürften, sehr direkt zusammenzuarbeiten und immer dann zum Telefon zu greifen, wenn es konkrete Fragen gebe. Wichtig sei, dass man miteinander spreche. Dann falle es auch leichter, zu Lösungen zu kommen, wenn tatsächlich einmal Probleme auftreten würden. Schon am nächsten Tag wurde eine Vereinbarung zwischen unseren beiden Ländern über die Einrichtung einer direkten Nachrichtenverbindung zwischen dem Bundeskanzleramt und dem Kreml unterzeichnet. Ich bot dem Generalsekretär schließlich an, meinen außenpolitischen Berater Horst Teltschik direkt nach Moskau zu entsenden, wenn dies erforderlich sei. Gorbatschow stimmte zu.
Am Ende des Gesprächs, nachdem wir uns beide zufrieden über den offenen und freundschaftlichen Charakter...