Vom Schicksal
1. * * * weil sich dieser Theil der Philosophie auf die Sitten bezieht, die Jene Ethos [η̃θος] nennen, so geben wir ihm gewöhnlich den Namen Sittenlehre [Ethik]; allein wir dürfen ihn auch, zur Bereicherung der lateinischen Sprache mit der Benennung Moral bezeichnen [oder Moralphilosophie]; wobei wir denn auch die Bedeutung und den Sinn derjenigen Ausdrucksweisen zu erklären haben, welche die Griechen αξιώματα [Axiome] nennen; und was diesen, wenn sie von etwas Künftigem sprechen, und von Dem was geschehen könne oder nicht geschehen könne, für ein Gehalt [und welche Bedeutung] zukomme, ist eine schwer zu lösende Aufgabe. Die Philosophen nennen Dieß die Untersuchung über das Mögliche [περὶ δυνατω̃ν], und sie gehört ganz in das Gebiet der Logik, welche ich Disputirkunst [ ratio disserendi, Dialektik, heisse. Was ich aber in andern Schriften gethan habe, (namentlich) in meinem Werke über das Wesen der Götter, und denen, die ich über die Weissagung verfaßt habe: daß nämlich zwei einander entgegengesetzte Ansichten in einer zusammenhängenden Darstellung sich entfalteten, damit Jeder um so leichter sich an diejenige halten könnte, die ihm am meisten für sich zu haben schiene; Dieß auch bei dieser Abhandlung vom Schicksal zu thun, hat mich ein gewisser Vorfall verhindert. Denn da ich mich auf meinem Landgute bei Puteoli befand, und mein (Freund) Hirtius, (eben) ernannter Consul, in derselben Gegend war, ein Mann mit dem ich in der innigsten Vertraulichkeit lebte, und der von gleicher Liebe zu den Studien, die mich von Jugend auf beschäftigten, beseelt war, so waren wir viel beisammen, und zwar hauptsächlich um Maßregeln zur Herstellung des Friedens und der Eintracht zu verabreden. Denn da es schien, als suche man nach Cäsars Untergange geflissentlich alle Veranlassungen zu neuen Störungen der Ruhe auf, und wir diesen begegnen zu müssen glaubten; so drehte sich fast unsere ganze Unterhaltung um diese Berathungen, und Dieß war unter andern auch an einem Tage, wo wir uns mehr selbst überlassen waren, und seinen Besuch bei mir nicht so viele uns unterbrechende Leute störten, anfangs der Fall, daß wir nämlich erst unser tägliches und gleichsam stehendes Capitel von Friede und Ruhe abhandelten.
2. Als Dieß abgethan war, nahm Jener das Wort und sagte: »Nun denn, da du doch wohl deine rednerischen Uebungen, wie ich hoffe, zwar noch nicht ganz aufgegeben, aber wenigstens der Philosophie den Rang vor ihnen eingeräumt hast, kann ich dich nicht Etwas vortragen hören?« O ja, erwiederte ich, entweder hören oder selbst vortragen. Denn ich habe nicht nur (wie du ganz richtig annimmst) jene rednerischen Uebungen nie aufgegeben, zu welchen ich auch dich begeisterte, wiewohl du glühenden Eifer für sie zu mir mitbrachtest; sondern die Gegenstände, welche mich jetzt beschäftigen, verstärken noch jene Fertigkeit, anstatt sie zu schwächen. Denn gerade mit der Weise zu philosophiren, zu der ich mich bekenne, steht der Redner in sehr vertrautem Verhältnisse. Schärfe nämlich borgt er von der Academie, und gibt ihr dagegen Fülle der Rede und Schmuck des Ausdrucks zurück. Weil denn nun, sage ich, beide Arten von Studien in das Gebiet gehören, in dem ich zu Hause bin; so magst du heute freie Wahl haben, welches von beiden dir einen Genuß verschaffen soll. »Das heisse ich gefällig, erwiederte Hirtius, und ganz im Character deiner Handlungsweise; denn nie schlägt mir deine Willfährigkeit die Gewährung eines Wunsches ab. Weil ich jedoch deine rhetorische Kunst hinlänglich kenne, ich dich auch in diesem Fache schon oft gehört habe, und noch oft hören werde, und deine tusculanischen Unterhaltungen einen Beweis davon liefern, daß du die bekannte Weise der Academiker, Vorträge zur Widerlegung eines aufgestellten Satzes zu halten, dir eigen gemacht hast; so will ich, wenn es dir nicht lästig ist, eine Behauptung aussprechen, und dann darüber vernehmen, was du zu sagen hast.« Kann mir denn wohl, antwortete ich, irgend Etwas lästig seyn, von dem ich weiß, daß es dir Freude machen wird? Doch, wenn du mich sprechen hörst, so vergiß nicht, daß du einen Römer vor dir hast, der sich schüchtern an diese Vortragsweise wagt, einen Mann, der sich nach langer Unterbrechung jetzt erst wieder zu diesen Studien wendet. »Nun, erwiederte er, ich werde dich eben sprechen hören, wie ich Das lese, was du geschrieben hast. So beginne denn.«
[Große Lücke.]
3. Wir erwägen hier * * wo in einigen (Fällen) dieser (Art) zwar, z. B. bei dem Dichter Antipater 2, bei den am kürzesten Tage des Jahres Gebornen, bei den zugleich erkrankten Brüdern 3, bei'm Harn, bei den Nägeln, und sonst dergleichen Dingen, der Einfluß der Natur sich geltend macht, den ich nicht bestreite, allein kein unwiderstehliches Walten des Schicksals; in andern aber kann Einiges zufällig seyn, wie bei jenem Schiffbrüchigen, wie bei Icadius, wie bei Daphitas. 4 Einiges scheint auch Posidonius (mein Lehrer mag mir Das nicht übel nehmen) erdichtet zu haben. Es ist wenigstens, meines Erachtens, abgeschmackt. Sage mir, z. B., wenn es dem Daphitas verhängt war, durch den Sturz von einem Pferde das Leben zu verlieren, mußte es dann von dem Pferde seyn, das, da es kein eigentliches Pferd war, einen uneigentlichen Namen hatte? Oder lautete die Warnung an den Philippus 5 so: er sollte sich vor dem kleinen Viergespann auf dem Schwertgriffe in Acht nehmen? Als ob er durch den Schwertgriff getödtet worden wäre! Was liegt aber Bedeutendes darin, daß jener namenlose Schiffbrüchige (nachher) in einem Bache niedergefallen (und ertrunken) ist? Wiewohl Jener schreibt, es sey gerade Diesem prophezeit worden, er werde im Wasser umkommen müssen. Ich, wahrlich, sehe nicht einmal bei dem Seeräuber Icadius ein bestimmtes [nothwendiges] Schicksal. Denn er schreibt nicht, es sey ihm voraus verkündigt worden. Was liegt denn also Wunderbares darin, daß von einer Höhle herab ihm ein Felsstück auf die Schienbeine gefallen ist? Ich glaube nämlich, es würde, falls auch Icadius nicht in der Höhle gewesen wäre, jenes Felsstück dennoch gefallen seyn. 6 Denn es gibt entweder gar nichts Zufälliges, oder gerade Das konnte sich durch Zufall ereignen. Ich frage also [und dieß ist eine weitumfassende (folgereiche) Frage], wenn es durchaus weder Namen, noch Wesen, noch Wirksamkeit des Schicksals gäbe, und entweder das Meiste oder Alles von Ungefähr, ohne Grund, durch Zufall geschähe: würde es sich anders ereignen, als es sich jetzt ereignet? Was braucht man also ein Schicksal (in den Lauf der Dinge) einzuzwängen, da ohne Schicksal sich die Verhältnisse aller Dinge auf die Natur oder das Glück beziehen lassen. 7
4. Doch entlassen wir den Posidonius, wie billig, mit einem freundlichen Worte, und wenden wir uns zu den Fallstricken des Chrysippus 8 zurück. Ihm wollen wir zuerst in Beziehung auf den Einfluß der Dinge (auf einander) selbst, antworten, das Uebrige dann später berücksichtigen. Was für ein großer Unterschied zwischen der Natur der Oerter ist, sehen wir; daß nämlich einige gesund sind, einige ungesund; daß an einigen schleimreiche und gleichsam übervoll saftige Menschen leben, an andern ausgetrocknete und eingedörrte, und noch vieles Andere gibt es, worin zwischen einem Orte und dem andern ein großer Unterschied Statt findet. Athen hat eine dünne Luft, woher auch der größere Scharfsinn der Attiker kommen soll; Thebä eine dicke, daher die Plumpheit und Körperstärke der Thebaner. Doch wird weder jene dünne Luft die Wirkung haben, daß Einer den Zeno 9 oder den Arcesilas, oder den Theophrastus hört, noch die dicke, daß er lieber zu Nemea als auf dem Isthmus den Sieg erkämpfen will. 10 Oder ich nehme noch entferntere Räume an: was kann denn die Natur des Ortes es veranlassen, daß ich lieber in der Säulenhalle des Pompejus, 11 als auf dem (Mars-) Felde lustwandle? lieber mit dir, als mit einem Andern? lieber am Idustage, als an den Kalenden? 12 So wie also auf einige Dinge die Natur des Ortes einigen Einfluß hat, auf andere aber keinen, so mag, wenn du willst, die Beschaffenheit der Gestirne auf einige Dinge eine Wirkung äußern; auf alle wird sie gewiß nicht wirken. Indessen, weil sich in den Menschennaturen Verschiedenheiten (der Art) finden, daß Einige das Süße, Andere das Bitterliche lieben; Einige Lüstlinge, Andere jähzornig oder grausam, oder hochmüthig sind; Andere vor dergleichen Lastern einen Abscheu haben; weil demnach, sagt er, die eine Natur so verschieden von der andern ist, was Wunder, daß diesen Unähnlichkeiten verschiedene Ursachen zum Grunde liegen?
5. Während er so spricht, bemerkt er gar nicht, wovon die Rede ist, und um was sich (denn eigentlich) der Streit dreht. Denn wenn die Einen zu Dem, die Andern zu Jenem geneigter sind, und zwar aus natürlichen und vorangegangenen Ursachen, so sind deswegen noch nicht gleich auch von unsern Willensbestimmungen und Neigungen natürliche und vorangegangene Ursachen (anzunehmen). Denn verhielte sich die Sache so, so wäre unsere Willensfreiheit ein Nichts. Nun aber gestehen wir zu, ob wir scharfsinnig oder stumpfsinnig, ob wir stark oder schwach seyen, hänge nicht von uns ab. Wer aber glaubt, daraus folge nothwendig, daß es nicht einmal von unserem Willen abhänge, zu sitzen oder herum zu wandeln, der sieht nicht, wie Ursachen und Folgen der Dinge mit einander zusammenhängen. 13 Denn mögen Talentvolle und Hartköpfige in Folge vorausgehender Ursachen so geboren werden, desgleichen Starke und Schwache; daraus folgt doch noch nicht, daß ihr Sitzen und Wandeln und all' ihr Handeln durch uranfängliche Ursachen bestimmt und festgesetzt ist. Der Philosoph aus der Megarischen Schule, Stilpo, soll ein scharfsinniger und zu...