Wie ein Trauma auf den Körper einwirkt
Herr, hilf mir, heute ein gutes Tier zu sein.
Barbara Kingsolver
WÄHREND MEINER FRÜHEN FORSCHUNGSTÄTIGKEIT zum Thema Trauma beschäftigte ich mich mit dem Gehirn. Es war mir bekannt, dass die instinktiven Teile des menschlichen und des tierischen Gehirns nahezu identisch sind und dass nur die rationalen Anteile ausschließlich beim Menschen vorkommen. Ich wusste auch, dass Beutetiere in der freien Wildbahn selten traumatisiert werden, obwohl sie sich laufend in Gefahr befinden. Um genau zu sein, scheinen sie über die angeborene Fähigkeit zu verfügen, Auswirkungen lebensbedrohlicher Ereignisse einfach abzuschütteln und beinahe so weiterzuleben, als sei nichts Ungewöhnliches geschehen.
Ich studierte Filmmaterial von frei lebenden Beutetieren und stellte dabei fest, dass die meisten Tiere, die nur knapp dem Tod entronnen sind, einen ähnlichen physiologischen Prozess durchlaufen, um zur Normalität zurückzukehren. Er erinnerte mich stark an das Schütteln, Zittern und spontane Atmen, das ich bei Nancy beobachtet habe (Sie sind Nancy in der Einleitung zu diesem Buch bereits begegnet). Denselben Vorgang hatte ich bereits bei zahlreichen schamanistischen Heilungsritualen bemerkt, die auf der ganzen Welt durchgeführt werden.
Sie können diesen Prozess am Beispiel des National-Geographic-Videos »Polar Bear Alert« (»Eisbäralarm«), das in vielen Videotheken erhältlich ist, von Anfang bis Ende nachvollziehen. Auf diesem Video verfolgen Wildtier-Biologen einen verängstigten Bären mit dem Flugzeug, schießen einen Betäubungsmittelpfeil auf ihn ab, umzingeln ihn und kennzeichnen ihn mit einer Plakette. Als das schwere Tier sich aus seinem Schockzustand herausbewegt, beginnt es leicht zu zittern. Das Zittern nimmt stetig zu und gipfelt in einem fast krampfartigen Schütteln, bei dem die Gliedmaßen des Bären scheinbar willkürlich herumdreschen. Nach dem Abflauen des Schüttelns nimmt das Tier tiefe, organische Atemzüge, die sich über seinen ganzen Körper ausbreiten. Der Sprecher des Films, ein Biologe, bezeichnet das Verhalten des Bären als eine Notwendigkeit, die ihm hilft, sich von dem Stress zu befreien, den er während der Jagd und der Gefangennahme aufgebaut hatte.
Und jetzt kommt das Spannende: Wenn man die Reaktion des Bären in Zeitlupe betrachtet, kann man erkennen, dass die scheinbar willkürlichen Rotationen der Beine in Wirklichkeit koordinierte Laufbewegungen sind. Es ist, als ob das Tier seine Flucht vollendet, indem es aktiv die Laufbewegungen zu Ende bringt, die im Augenblick der Betäubung unterbrochen wurden. Nach dem Abschütteln der »eingefrorenen Energie« gibt sich der Bär spontanen, tiefen Atemzügen hin – gerade so, wie ich es bei Nancy beobachtet habe, als sie sich von der Überwältigung erholte, die sie als kleines Kind durchgemacht hatte.
Während sich das Beweismaterial häufte, kam ich immer mehr zu der Überzeugung, dass die Heilung eines Traumas – man mag sie nun als »Reassoziation« oder nach schamanistischer Tradition als »Seelenrückkehr« bezeichnen – primär ein biologischer oder körperlicher Prozess ist, der häufig mit psychologischen Auswirkungen einhergeht. Das gilt vor allem dann, wenn ein Trauma mit dem Verrat durch Personen einhergeht, deren Aufgabe es gewesen wäre, uns zu beschützen. Außerdem kam ich zu der Vermutung, dass eine Heilungsmethode nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie darauf beruht, eine Verbindung zum Körper herzustellen. Methoden, die Menschen nicht dazu befähigen, sich wieder mit ihrem Körper zu verbinden, haben allesamt nur begrenzten Erfolg.
Lassen Sie uns nun alles zusammensetzen.
Kampf, Flucht und Erstarrung
Wenn eine Situation als lebensbedrohlich wahrgenommen wird, mobilisieren sowohl der Verstand als auch der Körper eine gewaltige Energiemenge, um einen Kampf oder eine Flucht vorzubereiten – deshalb sprechen wir hier von einer »Kampf- oder Fluchtreaktion«. Es handelt sich dabei um dieselbe Energie, die eine zierlich gebaute Frau dazu befähigen kann, eine Tonne Detroit-Stahl vom Bein ihres Sohnes anzuheben, wenn das Kind unter ein Fahrzeug geraten ist. Eine starke Blutzufuhr in die Muskulatur sowie die Freisetzung von Stresshormonen wie Kortisol und Adrenalin leisten dieser Art von Kraft Vorschub.
Während die Mutter circa 900 Kilo anhebt, entlädt sie den Großteil der überschüssigen chemischen Stoffe und der Energie, die sie zur Bewältigung der Bedrohung in Bewegung gesetzt hat. Ihr Sohn, der unter dem Wagen eingeklemmt ist und der sich vor Schmerz und Angst nicht bewegen kann, wäre dazu nicht in der Lage. Wenn die Energieentladung des Körpers vollständig ist, erhält das Gehirn die Information, dass es den Pegel der Stresshormone nun absenken kann – die Gefahr ist vorüber. In einem Fall wie dem eben Beschriebenen findet dieser Vorgang bei der Mutter statt.
Bleibt die Botschaft, zum Normalzustand zurückzukehren, hingegen aus, so veranlasst das Gehirn weiterhin die Ausschüttung großer Adrenalin- und Kortisolmengen und der Körper verbleibt in seinem hoch aufgeladenen Zustand. Genau dieser Situation sieht sich der Sohn gegenüber. Solange er keine Möglichkeit findet, den Energieüberschuss zu entladen, reagiert sein Körper noch lange nach dem Verheilen der physischen Wunden, als hätte er Schmerzen und sei hilflos. Die zentrale Frage ist: Was hindert Menschen daran, zu einer normalen Funktionsweise zurückzukehren, wenn die Bedrohung aufgehört hat? Warum können wir uns von einem Energieüberschuss nicht auf dieselbe Weise befreien, wie Tiere es natürlicherweise tun?
Um diese Frage zu beantworten, lade ich Sie zu einem Besuch in die Serengeti-Ebene ein, die in den uralten Schatten unserer Psyche ruht. Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit und stellen Sie sich einen Gepard vor, der sich duckt und sich mit zielgerichtetem Blick und vor Erwartung zuckenden Muskeln darauf vorbereitet, eine pfeilschnell flüchtende Schwarzfersenantilope anzugreifen. Ich möchte Sie bitten, Ihren Körperreaktionen nachzuspüren, während Sie beobachten, wie der geschmeidige Gepard sein Beutetier mit einer Geschwindigkeit von 112 Stundenkilometern einholt. Einen Augenblick bevor der Gepard seine Krallen in die Lenden seines Beutetiers senkt, stürzt die Antilope zu Boden. Es ist fast, als ob sich das Tier dem Raubtier und dem sicheren Tod hingibt.
Die gestürzte Antilope ist jedoch nicht tot. Sie wirkt zwar schlaff und bewegungslos, ihr Nervensystem ist von der schnellen Jagd jedoch hoch aufgeladen. Obwohl sie kaum atmet oder sich bewegt, rasen Herz und Hirn des Tieres nach wie vor. Dieselben vorhin beschriebenen chemischen Stoffe, die ihren Fluchtversuch anheizten, überfluten ihr Gehirn und ihren Körper weiterhin. Möglicherweise wird die Antilope nicht sofort aufgefressen. Die Gepardenmutter könnte ihre (offensichtlich tote Beute) hinter einen Busch zerren und dann Ausschau nach ihren hungrigen Jungen halten, die in einiger Entfernung sicher versteckt sind.
Während der Abwesenheit des Geparden kann die Antilope, die vorübergehend »erstarrt« war, aus ihrem Schockzustand erwachen und sich dann schütteln und zittern, um die gewaltige Energiemenge zu entladen, die sie mobilisiert hatte, um dem Tod zu entrinnen. Nach Vollendung dieses Normalisierungsvorgangs wird sich die Antilope auf ihre wackligen Beine stellen, ein paar vorsichtige Schritte tun und dann auf der Suche nach ihrer Herde davonspringen, als ob nichts Ungewöhnliches geschehen sei.
Der Totstellreflex, den sich die Antilope zunutze machte, ist ein ebenso wichtiger Überlebensmechanismus wie die »Kampf- oder Fluchtreaktion« und wird auch als »Einfrieren« bezeichnet. Langsame und relativ schutzlose Tiere wie das Opossum verwenden Bewegungsunfähigkeit als hauptsächliche Verteidigungsmaßnahme. Jedes andere Tier setzt sie ein, wenn es in eine Situation gerät, in der Kampf oder Flucht keine realisierbaren Möglichkeiten darstellen.
Eine weitere lebenswichtige Funktion der Erstarrungsreaktion ist die Gefühllosigkeit. Wenn eine Antilope (oder ein Mensch) im Zustand der Erstarrung getötet wird, erleidet sie während des Sterbens weder Schmerz noch Schrecken.
Wir Menschen setzen die Erstarrungsreaktion – eingefrorene Energie – regelmäßig ein, wenn wir verletzt oder sogar, wenn wir überwältigt werden. Im Gegensatz zur Schwarzfersenantilope haben wir im Allgemeinen jedoch Schwierigkeiten damit, uns nach diesem Zustand zu normalisieren. Denn das Hilfsmittel, das wir brauchen, um wieder in die Gegenwart zurückzukehren, sind unsere Gefühle, die nun jedoch betäubt sind.
Diese Schwierigkeit, wieder in einen ausgewogenen Zustand zu gelangen, ist von sehr großer Bedeutung. Die Fähigkeit, nach einer Erstarrungsreaktion wieder zu Gleichgewicht und Balance zurückzukehren, ist meiner Meinung nach der entscheidende Faktor, der eine Traumatisierung verhindern kann.
Wie gelingt es wilden Tieren, ihr Gleichgewicht erfolgreich wiederzugewinnen? Die Lösung besteht in dieser bestimmten Art von spontanem Schütteln, Zittern und Atmen, die ich vorhin beschrieben habe. Ich erinnere mich, dass Andrew Bwanali, Chefbiologe im Mzuzu Environmental Center von Malawi in Zentralafrika, aufgeregt nickte, als ich ihm von meinen Verhaltensbeobachtungen bei Tieren berichtete. Er bekräftigte: »Ja, ja, ja! Das ist richtig. Ehe wir gefangene Tiere wieder in die Wildnis aussetzen, achten wir darauf, dass sie genau das tun, was Sie soeben beschrieben haben.« Er blickte zu Boden und fügte sanft hinzu: »Wenn sie nicht auf diese Art zittern und atmen, ehe sie freigelassen werden, überleben sie nicht. Dann sterben sie.«
Obwohl wir Menschen an einem ungelösten...