1. Einleitung
Anlage – Kindheits- und Jugenderlebnisse als Richtungsimpulse – Gewöhnung an unablässige, mannigfaltige Arbeit – Berufswahl
Mein Arzterlebnis mit dem zugehörigen Sümmchen von Wissen, Beobachtung und Erfahrung während 45 Jahren Praxis und Forschens lehrte mich, dass in den kommenden Zeiten dem Arzte neue Aufgaben von hoher Bedeutung für die Menschheit zufallen werden. Die Ärzte der heutigen Schule sind für diese Aufgaben nicht gerüstet. Es bedarf einer Wandlung der Schule, neuer Ärzte.
Die Zivilisation hat nicht nur mancherlei Annehmlichkeiten, sondern auch viel Unheil gebracht. Die durchschnittliche Lebensdauer habe sich verlängert, wird berichtet; dagegen haben sich eine stetige Zunahme der Kränklichkeit und eine anwachsende Verschlechterung der Konstitution eingestellt, die zu höchster Besorgnis Anlass gibt. Ein bekannter Biologe sieht darin «eine schicksalhafte Vergreisung» der zivilisierten Menschheit und einen unaufhaltsamen Untergang. So bliebe nichts übrig, als die Hände in den Schoß zu legen und den Dingen ihren Lauf zu lassen.
In Wirklichkeit verhalten sich die Zusammenhänge anders: Bestimmte, greifbare Ursachen, gegen welche ein erfolgreicher Kampf möglich ist, unterminieren die körperliche und seelische Gesundheit der Völker. Es handelt sich darum, die Bekämpfung dieser Ursachen aufzunehmen. Leicht gesagt, aber schwer zu tun. Hier scheint ein Verhängnis zu walten. Es scheint, als ob man nicht wagte, diesen Ursachen ins Auge zu schauen, als ob ihr Anblick jede Tatkraft lähmte, als ob deshalb der Kampf unterbliebe.
Als ich allmählich die furchtbare Bedeutung dieser Sachlage erkannte, traten sagenhafte Gestalten des Altertums vor mein Auge. Ich sah die Laokoon-Gruppe, ein Vater mit zwei Söhnen umschlungen von Riesenschlangen, sich gegen die Erdrosselung mit letzter Kraft wehrend: die Menschheit in ihrer Generationenfolge von lebensvernichtenden Mächten umstrickt! Doch war da ein Unterschied: Die Menschengruppe der Gegenwart sieht die Schlangen, die sie umschlingen, nicht und wehrt sich nicht. Sie geht blindlings, wie hypnotisiert, alle jene Irrbahnen, welche unfehlbar in die Welt der Qual, des Leidens, der schleichenden Vernichtung von Leib und Seele, kurz gesagt, ins Inferno auf Erden führen. Wohl war da eine Wissenschaft mit der Aufgabe, die Ursachen des Leidens zu erkennen und zu bekämpfen: meine Wissenschaft, die Medizin. Sie hat Großes geleistet, gar manche Nebenursache aufgefunden, alle die Formen der Leiden beschrieben und benannt. Ich selbst verdanke ihr viel Wissen. Was mich aber mehr und mehr in Erstaunen versetzte, das war ihr Verhalten gegenüber den Grundursachen. Entweder suchte sie dieselben dort, wo sie nicht zu finden waren, oder sie ignorierte sie, wo sie darauf stieß. Warum, fragte ich mich, dieser Verzicht auf den Kampf?
Als ich durch Jahre hindurch nicht nur nach diesen Grundursachen geforscht, sondern auch mich um ihre Bekämpfung bemüht hatte, kam mir allmählich das Verständnis für dieses Verhalten. Ich stieß mit meinen Bemühungen auf geradezu furchtbare Widerstände, wohl geeignet, jede Tatkraft zu lähmen. Eine Fülle von Vorurteilen, Voreingenommenheiten, machtvollen Gewohnheiten, Meinungen, Missdeutungen, ein Gifthauch von Spott, Feindschaft und Hass kam mir entgegen. Die Hölle war gegen mich losgelassen. Selbst meine Kollegen wendeten sich gegen mich. Da erschien meinem Blick eine andere Sagengestalt: die Meduse Gorgo, aus deren Haupt statt Haare Schlangen herausgewachsen waren. Ihr Anblick war nach der Sage so furchtbar, dass jeder zu Stein erstarrte, der sie sah.
Die Sage erzählt dann weiter, dass der König Polydektes dem jungen Perseus den Auftrag gab, ihm das Haupt der Gorgo zu holen. Von den Nymphen und Göttern mit wunderbaren Kampfmitteln ausgerüstet, gelang es Perseus, diese Aufgabe zu erfüllen. Es bedurfte also einer besonderen Ausrüstung, um angesichts der Gorgo nicht zu Stein zu erstarren. Auch Dante erzählt uns von der Gorgo. Als er auf seiner Wanderung durch das Inferno vor die befestigte Stadt Dis kam, warnte ihn Vergil vor dem Blick auf die Gorgo, die auf dem Tore stand. Da sandte der Himmel einen Engel herab, der Dante so stärkte, dass er die Gorgo anschauen durfte, ohne zu erstarren.
Nun verstand ich die Erstarrung der Medizin. Es handelte sich da um eine Perseus-Aufgabe. Nur göttliche Kräfte vermögen es, den Menschen im Arzte so zu stärken, dass er vor solcher Höllenkraft nicht zurückweicht.
Um das Gleiche mit gewöhnlichen Worten zu sagen: Es bedarf einer Horizonterweiterung, einer Erneuerung der Medizin, es bedarf «neuer Ärzte», damit die große, widerwillig aufgenommene Tat vollbracht werde, von der die Rettung der Menschheit abhängt.
Man wird mich einen Schwarzseher schelten. Mit Unrecht, denn ich sehe den Heilweg und habe Tausende auf demselben geführt. Ich sehe die Möglichkeit der Rettung im gleichen Augenblick, wo mein Auge das Inferno, die Laokoon-Gruppe und das Medusenhaupt schaut. Ich werde später über Tatsachen berichten, welche bestätigen, dass es sich sowohl mit der zivilisierten Menschheit als auch mit der Medizin so verhält, wie ich eben sagte. Sollten Sie z. B. das Buch von Dr. Alexis Carrel «Der Mensch, das unbekannte Wesen» lesen, so würden Sie darin eine reiche Bestätigung des Unheils finden, welches die Zivilisation angerichtet hat. Über die Lage in der Medizin aber würden Sie die gleiche Auskunft erhalten, wenn Sie z. B. die Schriften von Dr. Erwin Liek, dem verstorbenen Danziger Chirurgen, «Der Arzt und seine Sendung», und des Direktors der I. Medizinischen Klinik in Riga, Prof. Dr. Martin Sihle, «Über das Weltbild des Arztes und den Sinn der Krankheit», lesen würden.
Meinen Ausführungen über das Werden des Arztes möchte ich ein Wort des großen griechischen Arztes Hippokrates voranstellen. Er sagte:
Wer sich die Kenntnis der Medizin gründlich aneignen will, der muss folgender Dinge teilhaftig werden: der natürlichen Anlage, des Unterrichts, und zwar von Jugend auf, der Lust zur Arbeit und genügender Zeit.
Das Wichtigste von allem ist die natürliche Anlage. Wo die fehlt, ist alles umsonst. Wo sie aber die richtige Führung hat, da wird sie zur Lehrmeisterin in der Wissenschaft. Weiter aber bedarf es der Lust zur Arbeit für lange Zeit. Denn die Unerfahrenheit ist ein schlechter Schatz für die, die sie besitzen und die Nährmutter der Feigheit und der Frechheit. Feig aber ist der Schwache und frech der Nichtskönner.
Die Medizin ist die vornehmste aller Wissenschaften.
Gleich einem früchtetragenden Baume hat die Medizin Keimanlagen, Wachstum, Erleben, Reife und Fruchtbarkeit. Auch von ihr gilt das Wort: «An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.» Die Keimanlagen sind Gaben des Schöpfers im menschlichen Wesen. Wie alle solche Gaben teilen sie die Schicksale allen Erbgutes und sprießen aus dem Seelengrunde einzelner Individuen mit ungleicher Kraft hervor. Wo sie stark sind, offenbaren sie sich schon in der Kindheit durch ein ungewöhnliches Interesse für die geheimnisvollen Erscheinungen des Leibes und des Lebens, durch Aufmerksamkeit auf die Leiden der Kreatur und durch den Drang zur Hilfeleistung.
Das Wachstum der Medizin aber ist das Ergebnis des Ringens aller Begabten um Erkenntnis, Wissen und Heilkunst seit Urzeiten, das Ergebnis unendlicher Bemühungen des Menschengeistes, um zu erfassen, was das Leben, was die Gesundheit, welches Ursache und Sinn der Krankheit und des Leidens, was der Sinn des Todes ist, und was schließlich dem Kranken Genesung, dem Leidenden Erlösung und dem Gesunden Schutz vor Erkrankung zu bringen vermag. So wächst und entwickelt sich die Medizin aus einer Zusammenarbeit aller Wissenschaften von den Naturerscheinungen und dem Geistesleben und aus einer unermesslichen Fülle von Erleben. Und dieses Wachstum im Großen, im Rahmen der ganzen Menschheit, wiederholt sich im Kleinen in jedem Jünger Äskulaps, in jedem einzelnen Arzt.
Das Eindringen in dieses große, rätselvolle Gebiet der Medizin stellt eigenartige, unablässige, stetig anwachsende Ansprüche an die Arbeitsleistung des Arztes; Ansprüche, denen die Beanlagung ihren individuellen Stempel aufdrückt. Deshalb gibt es je nach Beanlagung und Arbeitsfreudigkeit verschiedene Ärzte.
Ans Unüberwindliche grenzen die Schwierigkeiten der Ärzteschulen, die Einheit von Kunst und Wissenschaft, die wir Medizin nennen, zu lehren. Eine große Summe von Wissen und Können, allerdings mit manchen Lücken, kann gelehrt und gelernt werden. Spätere Forschungen werden einzelne Lücken ausfüllen, andere aber bleiben bestehen. Doch bleibt gar manches unergründlich oder ist von solcher Art, dass es nicht gelehrt werden kann. Auch machen sich in den Schulen Richtungen geltend, die durch Zeitströmungen und menschliche Unvollkommenheiten bedingt sind. Die «angeblich kürzeren Wege», die den Menschen nach Nietzsche so leicht verlocken, üben ihre Versuchung auch hier, besonders in der Therapie, aus, sodass der Weg verloren geht.
Schon zu Hippokrates’ Zeiten gab es zwei gegensätzliche Schulen, Knidos und Kos, welch Letzterer Hippokrates angehörte. Die knidische Schule behandelte die Symptome mit ungezählten Mittelchen, die koische dagegen lehrte den Arzt, die Heilwege der Natur zu erforschen, ihnen zu dienen und die Behinderungen zu beheben.
Die Schule des 19. Jahrhunderts kam unter die Herrschaft der exakten Naturwissenschaften, die sie in einigen Richtungen zu wertvollsten Fortschritten führte; andere Richtungen kamen jedoch dabei zu kurz. Es gibt aber Lebens- und Krankheitsprobleme, die exakt-naturwissenschaftlich nicht fassbar sind. Deshalb gibt es heute auch eine Krisis in der...