«ICH KONNTE WIEDER MAL LACHEN»
KÖRPER- UND BEWEGUNGSTHERAPIE BEI MENSCHEN MIT ESSSTÖRUNGEN
«Habe ich meinen Körper verloren,
So habe ich mich selbst verloren.
Finde ich meinen Körper, so finde ich mich selbst.
Bewege ich mich, so lebe ich und bewege die Welt.
Ohne diesen Leib bin ich nicht, und als mein Leib bin ich. Nur in Bewegung aber erfahre ich mich als mein Leib, erfährt sich mein Leib, erfahre ich mich.
Mein Leib ist die Koinzidenz von Sein und Erkenntnis,
von Subjekt und Objekt.
Er ist der Ausgangspunkt und das Ende meiner Existenz.»
Vladimir Illjne, 1965, zit. in: Petzold, 1985, 5
EINFÜHRUNG
Das Zitat des russischen Leib-Philosophen Vladimir Illjne beschreibt treffend, was mich in der Leib- und Bewegungstherapie leitet. Ich arbeite seit dreizehn Jahren im interdisziplinären Team des Zentrums für Essstörungen an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsspitals Zürich (ZES) im stationären und ambulanten Rahmen. Das ZES umfasst die Esssprechstunde, die Abteilung für stationäre Psychotherapie, eine Tagesklinik mit maximal vier Plätzen und eine betreute Wohngruppe mit vier Plätzen. Zur stationären Psychotherapie können maximal elf PatientInnen aufgenommen werden, die nach einem Vorgespräch zur Klärung von Indikation und Motivation und der Besichtigung der Abteilung zu Wochenbeginn eintreten und bei Abschluss des stationären Aufenthalts die Klinik in der Regel Ende der Woche verlassen. Die PatientInnen, vorwiegend Frauen, sind mindestens 17 Jahre, meistens jedoch zwischen 19 und 29 Jahren alt, zum Teil auch älter. Auf der Station leben sie – mit Ausnahme der Privatversicherten – in Zweierzimmern zusammen und werden von einem Milieuteam begleitet. Die meisten Therapien finden in der Gruppe statt: Gesprächstherapie, Psychodidaktik, Bewegungstherapie, Kunsttherapie, Kochen, Essnachbesprechung, Muskelaufbau und Sport. Daneben gibt es psychotherapeutische Einzelgespräche und Bezugspersonengespräche.
Der Mindestaufenthalt der PatientInnen für das so genannte Kurzprogramm umfasst einen Zeitraum von vier Wochen. In der Regel sind die PatientInnen drei bis sechs Monate lang hospitalisiert. Im Verlauf der ersten Woche wird abhängig von der Diagnose und dem BMI ein Phasenplan erstellt. Die Länge der verschiedenen Therapiephasen und die damit verbundenen Aktivitäten sind vom allgemeinen Therapie- und vom Gewichtsverlauf abhängig.
Bewegungstherapie als Gruppen- und Einzeltherapie ist fester Bestandteil des stationären Therapieprogramms. Pro Woche werden zwei Gruppen angeboten; eine findet im Therapiebad der Rheumaklinik statt. Daneben kommen die PatientInnen einmal pro Woche zu einer 50-minütigen bewegungstherapeutischen Einzeltherapie. Erfahrungen aus der Gruppe können in der Einzeltherapie vertieft werden. Umgekehrt kann die Gruppe dazu genutzt werden, eine neue Erfahrung oder Erkenntnis aus der Einzeltherapie zu üben und umzusetzen.
Das Erstgespräch in der Bewegungstherapie findet in der Regel in der ersten Woche des Aufenthalts statt. Am Ende dieser Stunde lasse ich die PatientInnen ein Körperbild/Selbstbild malen. Ich bitte sie, sich auf einem Blatt mittlerer Größe mit Ölkreide so zu zeichnen, wie sie sich im Moment wahrnehmen und erleben. Malen ermöglicht als kreativer semiprojektiver Prozess, sich nonverbal auszudrücken, und ruft bewusstes und unbewusstes Erinnerungsmaterial auf. Jedes Bild wird dadurch eine Botschaft von mir, über mich, für mich und an andere. Im Gespräch über dieses Bild formulieren die PatientInnen Gedanken und Gefühle in Bezug auf ihren Körper und ihr Körpererleben. Wir sprechen über ihre Wünsche, Befürchtungen, Vorerfahrungen und Ziele in Bezug auf die Bewegungstherapie. Das Körper- und Leibbild und seine mögliche Veränderung begleiten uns auf unserem Weg im therapeutischen Prozess. Am Ende der Therapie lasse ich in der Regel nochmals ein Bild malen. Die beiden Bilder zu betrachten gibt Gelegenheit, Veränderungen wahrzunehmen und den therapeutischen Prozess zu reflektieren.
Meine Einzel- und Gruppentherapien finden in einem etwa sechzig Quadratmeter großen Raum im Untergeschoss der Klinik statt. Fenster zum begrünten Schachtgarten lassen relativ viel Licht hinein; der weiche Korkboden ist mit einer Fußbodenheizung ausgestattet.
In einem kleinen Nebenraum befinden sich Kästen und Regale mit Arbeitsmaterial: Kissen und Sandsäcklein unterschiedlicher Größe, ein Tellerwärmer, mit dem die kleinen Sandsäcklein angewärmt werden können, Wolldecken, Kunstfelle, Rollen, Airexmatten, farbige Tücher, Bälle verschiedenster Größe, Farbe, Oberflächenbeschaffenheit und Festigkeit, Ballons, Schüsseln für Fußbäder, Badezusatz, Fußcreme, Papier, Stifte, Modellierton, Steine, Glas- und Holzkugeln, unterschiedlich lange und dicke Stäbe aus Holz, Rattan und Bambus, Klang- und Rhythmusinstrumente, Fußglocken und -rasseln, Seile, Therabänder, Reifen, Kreisel, Keulen, Federbälle, Indiacabälle, Frisbees, Papierbälle, Stoffbänder, Bocciakugeln und andere Spiele, ein großes farbiges Segeltuch, verschiedene CDs sowie Anatomiebücher und -tafeln und Postkarten.
Seit März 2010 findet einmal in der Woche eine eineinhalbstündige ambulante Gruppe statt. Diese Gruppe, an der bis zu zehn Frauen teilnehmen können, ist «halb offen»: In regelmäßigen Abständen – nach jeweils etwa sechs bis zehn Gruppenstunden – können neue Patientinnen an der Gruppe teilnehmen, sofern Plätze frei sind. Interessierte melden sich entweder im Anschluss an den stationären Aufenthalt am ZES oder erfahren davon über das Internet, behandelnde PsychiaterInnen oder HausärztInnen oder andere Informationsstellen. Nach einem Vorgespräch an der ambulanten Esssprechstunde des ZES zur Indikation und Abklärung kommen die Patientinnen zu einer ersten Schnupperstunde und entscheiden sich am Ende dieser Stunde definitiv für oder gegen eine Teilnahme. Die Patientinnen entscheiden selbst, wie lange sie an der Gruppe teilnehmen. Ich weise sie jedoch darauf hin, dass eine regelmäßige und verbindliche Teilnahme an der Gruppe erwünscht ist, und bitte sie, sich frühzeitig abzumelden, falls sie einmal verhindert sein sollten. Entscheiden sie sich, nicht weiter teilzunehmen, bitte ich sie, dies am Anfang oder Ende ihrer letzten Stunde der Gruppe mitzuteilen. Ich empfehle den Patientinnen, ein Therapietagebuch zu führen. Eine begleitende Einzelgesprächstherapie erachte ich als sinnvoll.
«MEIN KÖRPER KOMMT AUS DER LÄHMUNG, AUS DER STARRE»: DIE SICHT DER PATIENTINNEN
«Die Bewegungstherapie nützt mir sehr viel. Es tut mir gut, mich zu bewegen und zusammen mit der Therapeutin Dinge zu lernen, die mir helfen, mich anders als über die Essstörung auszudrücken. Ich habe viele Gesprächstherapien hinter mir, ich habe viel gelesen und nachgedacht über mich und meine Krankheit, und doch bin ich noch krank. Im Kopf weiß ich vieles. Ich denke viel. Ich sprach und spreche über mich, ich analysiere, erkläre, kombiniere. Ich weiß immer mehr über mich, über meine Geschichte, über meine Krankheit und wie sie entstanden ist. Und doch bleibt sie. Ich reagiere weiter in der alten Art. Es sitzt tiefer als im Kopf. Im ganzen Körper. Erfahrungen sind im Körper gespeichert. Dort ist es schwer mit Worten hinzukommen. Damit bin ich alleine. In der Bewegungstherapie lerne ich direkt über den Körper neue Dinge. Ich bewege mich, darf mich bewegen. Mein Körper kommt aus der Lähmung, aus der Starre. In Bewegung kommen ist in die Kraft kommen. Wenn ich mich bewege, bin ich bei mir, in mir und mit meinen Gefühlen verbunden. Ich kann etwas ausdrücken, anders als über das Essen. Bewegung ist eine Sprache, die nicht durch die Zensur des Kopfes muss. Ein Ausdruck, der weniger kontrolliert aus mir kommen kann. In meinem Kopf sind die negativen, dunklen, nebligen Gedanken oft stärker als meine hoffnungsvollen und hellen Gefühle.
Zu den Inhalten der Gespräche mit Therapeuten habe ich alleine oft keinen Zugang mehr. Aber mein Körper kann sich an Bewegung erinnern. Ans Stampfen, Tanzen, Singen. Und wenn ich es dann tue, obwohl ich noch im Nebel sitze, kommen die guten Gedanken zurück. Meine Kraft kommt zurück. So wird mein Körper mein Freund, mein Verbündeter. Das tut gut. Denn er war so lange mein Feind. Im Körper sind die Gefühle gespeichert: Traurigkeit,
Wut, Angst, aber auch Freude, Lust. Das macht Angst. Lange hasste ich Bewegung. Ich wollte starr sein und nichts spüren. Ich wollte hungern oder essen, bis zum Umfallen, um nichts spüren zu müssen. Jetzt will ich mich bewegen. Ich darf mich bewegen. Ich darf Platz haben, Raum einnehmen, laut sein, dick sein, wütend sein, garstig sein, fröhlich sein. Alles, was ich als Kind nie durfte und mir später selbst nie erlaubte. Ich lerne, ein «Kamuff» zu sein. Das macht Freude. Ich darf so sein, wie ich bin.»
Den Begriff «Kamuff» prägten wir im Verlauf einer Therapiestunde. Er beschreibt ein Wesen, das sich erlaubt, laut zu sein, zu grunzen, zu stampfen, zu schnauben, zu tanzen, zu toben, zu lachen, und sich damit Raum nimmt, sich zumutet mit all seiner Kraft und Lebendigkeit.
«Die Angst vor Nähe und Berührung wurde weniger. Ich habe einen selbstverständlicheren Umgang damit gefunden. Ich lernte, Berührung wieder zu genießen. Ich fühle mich weicher, nicht mehr so kalt und knochig.»
«Nach der Bewegungstherapie fühle ich mich meistens viel wohler, z.B. fühlt sich mein Rücken entspannt an. Ich kann über den...