Ursula Frost
»So sein wie … « oder Neuerfindung des Lebens?
Über die Bedeutung von Vorbildern in Geschichte und Gegenwart
Zusammenfassung
In der Geschichte der Erziehung und Bildung sind Vorbilder überwiegend zusammen mit Autorität aufgetreten und haben zur Nachahmung herausgefordert. Seit der Aufklärung wird solche Imitatio kritisch gesehen und im 20. Jahrhundert ist den Vorbildern die Autorität auch in der Praxis immer mehr abgesprochen worden. Selbstbestimmung oder Selbsterfindung wurde demgegenüber eingefordert. Gerade darin zeichnen sich nun neue Formen der Wirksamkeit von Vorbildern ab, die Chancen und Gefährdungen zugleich vervielfältigen.
1. Einleitung
Längst wird wieder darüber gesprochen: Kinder brauchen Vorbilder. Diese Einsicht ist wohl ebenso alt wie umstritten. Um die Debatte zu strukturieren, wären folgende Unterscheidungen hilfreich: Die tatsächliche Wirksamkeit von Modellen in Lern- und Entwicklungsprozessen wäre zu trennen von der Verbindlichkeit, die Vorbildern in der je eigenen Lebensführung von Menschen zukommt, also einer die bewusste Haltung und möglicherweise bewertende Begründung einschließenden Perspektive, und diese ist wiederum etwas anderes als die pädagogische Erwünschtheit von Vorbildern, die sich an Zielen der Erziehung und Bildung bemisst. Auch erscheint es wichtig zu klären, um wen es geht; ob tatsächlich nur über Kinder und Jugendliche oder auch über Erwachsene und ihre Vorbilder nachgedacht wird. So kann zum einen der Bezug auf bestimmte Altersphasen im Vordergrund stehen oder aber es kommt ein anthropologischer Aspekt in den Blick, etwa mit der Frage, ob und wozu Menschen Vorbilder brauchen. Die pädagogische Komplexität der Thematik erschließt sich erst, wenn man alle diese Perspektiven zusammenführt, statt einzelne Aspekte isoliert zu behandeln. Eine Reduktion auf die wiederholte Frage, wer welche Vorbilder hat bzw. benennt, ist ohne eine genauere Auseinandersetzung pädagogisch wenig sinnvoll. Im Folgenden soll über die verschiedene Bedeutung von Vorbildern in Geschichte und Gegenwart nachgedacht werden.
2. Zum Bedeutungswandel der Vorbilder in der Geschichte
Über Vorbilder ist gesprochen worden, solange es pädagogische Reflexion gibt. Dabei sind große Linien der Bedeutung und Bedeutungsverschiebung feststellbar. Drei epochale Verschiebungen lassen sich folgendermaßen charakterisieren:
• von der Angleichung und Imitatio zur vernünftigen Selbstbestimmung (Antike – Aufklärung);
• vom vernünftigen Beispiel zur authentischen Selbstfindung (Aufklärung – Reformpädagogik);
• von der Selbstfindung zur Selbsterfindung (Nietzsche und Reformpädagogik – Gegenwart).
2.1 Von der Angleichung und Imitatio zur vernünftigen Selbstbestimmung
Diese Bedeutungsverschiebung ergibt sich, grob gezeichnet, zwischen antiken und christlich-mittelalterlichen Vorstellungen von Urbild-Abbild-Beziehungen und den Denkansätzen der Moderne, die mit ihrem Anspruch auf Autonomie des vernünftigen Subjekts diese vorhergehende Tradition gewissermaßen an ein Ende führen.
2.1.1 Angleichung an ein Ideal bzw. an Ideen in der Antike
In der Dichtung, besonders in den homerischen Epen, der Ilias und der Odyssee, wurden Helden vorgeführt, die geeignet waren, Ideale zu demonstrieren. Das sind vor allem die Tugenden des Adels, Tapferkeit und Beharrlichkeit etc. Noch heute ist es nachvollziehbar, dass es nicht die abstrakten Ideale waren, die junge Zuhörerinnen und Zuhörer oder Leserinnen und Leser beeindrucken konnten, sondern die Personen der Heldenfiguren, die in der dichterischen Fiktion ebenso lebendig wie attraktiv erschienen. Nicht die Tapferkeit, sondern der tapfere Achill etwa wurde schwärmerisch verehrt und konnte so den Wunsch auslösen, selbst einmal ein mutiger Kämpfer zu werden. Daneben und danach setzten sich berühmte Philosophen als Vorbilder durch; das Ideal des Weisen wurde ausgebildet und an konkreten Personen festgemacht. Besonders die Schule der Stoa trug dazu bei, das Lebensideal des Weisen zu prägen und dahingehend auf Vorbilder zu verweisen. Sokrates wird zur überragenden Figur, weil er in radikaler Weise Lehre und Lebensvollzug in eins setzte. Epiktet weist jeden seiner Schüler an: »Du aber, wenn Du auch noch kein SOKRATES bist, solltest so leben, als wolltest Du einer werden« (Seneca zit. nach Capelle 1925, S. 53). Seneca verweist in seinen pädagogischen Überlegungen auf die Bedeutung der exempla. Plutarch verfasst eine ganze Reihe von Biografien vorbildlich lebender Weiser.
Eine weit komplexere Begründung des Vorbildes hat Platon vorgenommen, indem er den Gedanken der Angleichung des Menschen an die göttliche Welt der Ideen fasste. Nach Platon entscheidet die Ausrichtung des Menschen auf die Wirklichkeit über sein eigenes Wesen; woran er sich hält, dem wird er ähnlich.
»Denn wer in der Tat seine Gedanken auf das Seiende richtet, o Adeimantos, hat ja wohl nicht Zeit, hinunterzublicken auf das Treiben der Menschen und im Streit gegen sie sich mit Eifersucht und Widerwillen anzufüllen; dagegen, auf Wohlgeordnetes und sich immer gleich Bleibendes schauend, was unter sich kein Unrecht tut oder leidet, sondern nach Ordnung und Regel sich verhält, werden solche dieses auch nachahmen und sich dem nach Vermögen ähnlich bilden. Oder meinst du, es gebe eine Möglichkeit, dass einer das, womit er gern umgeht, nicht nachahme? –Unmöglich, sagte er. –Der Philosoph also, der mit dem Göttlichen und Geregelten umgeht, wird auch geregelt und göttlich, soweit es nur den Menschen möglich ist« (Platon 500c, zit. nach Schleiermacher 1957; 1991).
Wer sich nicht mit dem bloß Vordergründigen beschäftigt, sondern nach dem zugrunde liegenden tieferen Sein fragt, nicht mit dem bloß Zufälligen, sondern der zugrunde liegenden Ordnung, nicht mit dem bloß Abkünftigen, sondern dem Bedingenden und Bewirkenden, der wird sich auch selbst diesem tieferen Sein angleichen, also den göttlichen Ideen ähnlich werden. Das ist nach Platon der Weg der Bildung als Menschwerdung. »Der Weg dazu ist Verähnlichung mit Gott soweit als möglich, und diese Verähnlichung besteht darin, dass man gerecht und fromm sei mit Einsicht« (Platon 176b, zit. nach Schleiermacher 1957; 1991, S. 142).
2.1.2 Christentum: Imitatio Christi
In der Epoche der christlichen Antike und des Mittelalters wurde die Angleichung an das Göttliche in charakteristischer Weise auf Christus bezogen. Einen neuen Horizont bildete die Inkarnation, der Glaube an die Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth. In Jesus wird danach nicht nur eine vollkommene Menschlichkeit, sondern zugleich die Heilszusage Gottes sichtbar. Damit geht der Menschwerdung des Menschen die Menschwerdung Gottes voraus, und so wird die Angleichung an Gott zur Nachfolge Christi. Die »neue Lehre« (Apg 17,19) Jesu Christi bedeutete für den Evangelisten Lukas kein Begriffssystem, sondern sie ist der »neue Weg« (Apg 9,2; 19,23), den die Apostel und Christen in Entsprechung zum »Weg des Herrn« (Apg 18,25) gehen. Um dieses Verhältnis der Christen zu ihrem Herrn, vermittelt über die Apostel, zum Ausdruck zu bringen, spricht Paulus von Christus als dem »Bild Gottes«, das die Christen »nachahmen«. Christus ist das eine unüberbietbare Bild Gottes (eikon theou, imago Dei, vgl. 2. Kor. 4,4), in dem Gott seine Wesensoffenbarung und zugleich seine Heilszusage an die Menschen zum Ausdruck bringt. Als Apostel ist Paulus sein »Nachahmer« (mimetes, imitator, vgl. 1. Kor. 4,16; 11,1). Er wird wiederum zum prägenden Vorbild (typos) für die Thessalonicher. Diese sollen »Nachahmer« des Paulus sein, aber auch der Gemeinden in Judäa (vgl. ebd. 2,14) und so selbst wieder zu prägenden Vorbildern (typoi) für neue Christen und Gemeinden werden. Die damit verbundene Glaubensentscheidung ist eine Lebensentscheidung, die als persönliches Zeugnis weitergegeben wird.
Jesus wird für Christinnen und Christen zum unüberbietbaren Vorbild und Lehrer. Besonders Augustinus und Thomas von Aquin haben dies ausgeführt; beide haben eine gleichnamige Schrift verfasst, »De Magistro« (Über den Lehrer), in der jeweils Jesus als Lehrer aller Lehrerinnen und Lehrer und Vorbild aller Vorbilder dargelegt wird. An anderer Stelle heißt es bei Thomas: »Das menschgewordene Wort hat uns in sich ein Vorbild für das rechte Tun gegeben. Der Mensch stand sichtbar vor uns, aber er war nicht nachahmenswert; Gott war nachahmenswert, aber nicht sichtbar für uns. Also mußte sich Gott als Mensch den Menschen zeigen, damit sie Ihn sehen und nachahmen konnten« (Aquin).
Eine weite Verbreitung fand ein Büchlein von Thomas von Kempen, das (nach einem Tagebuch Geert Grootes von 1373) im Rahmen der Devotio moderna verfasst wurde und der Aussage nachgeht:...