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Unnötige Operationen
Ich treffe fast täglich Menschen, die sich Sorgen machen, weil ihnen jemand eine Operation empfohlen hat. Oder die froh sind, dass sie gerade eine Operation gut überstanden haben. Wenn ich durch den Kindergarten meines Sohnes gehe, höre ich: Armbruch genagelt, Mandeln abgeschält, Polypen raus. Auf dem Wochenmarkt erzählen Bekannte von Arthroskopien und Bandscheibenoperationen. Im Fitnessstudio fachsimpeln vor allem die älteren Semester über Gelenkprothesen.
Dass Operationen überhaupt unnötig sein können, darauf würden die meisten Menschen nie kommen. Sie halten die OP für die einzige Lösung ihres Problems. Sie vertrauen dem Arzt, der sie ihnen empfohlen hat. Sie fühlen sich bestärkt durch die Nachbarin, bei der die OP »gar kein Problem« war. Sie nehmen an, dass Ärzte klare Vorgaben haben, wenn es um das Verordnen von Operationen geht. Das ist nicht ganz falsch. Aber eben auch nicht ganz richtig. Die ärztlichen Berufsverbände geben tatsächlich zu vielen Krankheitsbildern sogenannte »Leitlinien« heraus. Darin stehen Empfehlungen, in welchen Fällen das Skalpell gezückt werden soll und in welchen nicht. Von solchen Empfehlungen aber dürfen Ärzte abweichen. Und das tun sie auch. In manchen Fällen begründet, in anderen nicht. Warum aber, fragte mich einmal die Mutter einer Zehnjährigen, der die Mandeln entfernt worden waren, warum um Himmels willen sollte mir mein Arzt eine Operation empfehlen, die unnötig ist?
Antworten darauf gibt es viele. Alle sind unangenehm. Teil des Problems ist, dass kaum jemand sie wirklich hören will. Unnötige Operationen beflecken, um es etwas reißerisch zu formulieren, die weißen Kittel der Ärzte mit unschuldig vergossenem Blut. Das ist keine schöne Vorstellung. Sie zerstört das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen. Wer will das schon? Den Verantwortlichen in der Gesundheitspolitik und in den Krankenhäusern kommt das zupass: Wenn keiner Antworten erwartet, müssen sie nicht darüber reden. Das tun sie nämlich nicht gern. So laut es auch sämtliche Spatzen von den Dächern pfeifen, sie bleiben dabei: Was nicht sein darf, gibt es auch nicht. Zumindest, wenn jemand ein offizielles Statement haben will. Hinter verschlossenen Türen sieht das Ganze anders aus. Aber dazu später mehr.
Zunächst noch mal zurück zur öffentlichen Debatte, die seit Jahren auf der Stelle tritt. Das Kommunikationsmuster ist immer gleich. Vereinfacht gesagt, läuft es wie folgt ab: Gesundheitsökonomen oder Vertreter der Krankenkassen weisen auf den großen Operationseifer in Deutschland hin. Repräsentanten der Krankenhäuser, manchmal auch der Ärzteschaft, widersprechen – natürlich gebührend empört – und fordern Beweise. Wohl bekannte Zahlen mit all ihren Stärken und Schwächen werden wieder einmal diskutiert. Zahlen, wie sie zum Beispiel die OECD liefert. 2013 entsandte die Organisation Mitarbeiter zu einer Konferenz mit dem Bundesgesundheitsministerium. Ziel des Treffens: Die OECD wollte eine »internationale Perspektive« in die deutsche Dauerdebatte um OP-Zahlen einbringen. Konkret hieß das: Fachleute hatten ein Dossier zusammengestellt, in dem Behandlungszahlen aus deutschen Krankenhäusern mit denen der anderen 33 Mitgliedsstaaten verglichen wurden.1 Darin war zu lesen:
–Unter den OECD-Ländern – viele davon wohlhabend – nimmt Deutschland den zweiten Platz bei der Anzahl der Krankenhausbesuche ein. Dafür gibt es eine spezielle Kennzahl, die »Krankenhausentlassungen« heißt. In Deutschland kamen in dem berechneten Zeitraum auf tausend Bürger 240 Krankenhausentlassungen. Der OECD-Durchschnitt lag bei 155. Bei unseren direkten Nachbarn, den Niederländern, waren es 116 Entlassungen.
–Bei vielen Operationsdisziplinen belegt die Bundesrepublik Rang eins oder zwei.
–Die Zahlen steigen weiter – viel schneller als in den meisten anderen Ländern.
Grund zur Sorge? Aber nein, sagen die Lobbyisten der Krankenhäuser und mancher Ärzteverbände in solchen Situationen. Das spricht für uns! Deutschland ist eben ein reiches und gerechtes Land, in dem – Sozialversicherungssystem sei Dank – alle Menschen Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Flächendeckend. Quasi ohne Wartezeiten. Wer sagt denn, dass viel auch zu viel ist?
Tatsächlich ist das eine gute Frage, eine große Frage, die einen schön breiten Schatten wirft, in dem sich die Verfechter des Status quo verstecken können. Und von denen gibt es viele. Denn es geht um Geld. Um sehr viel Geld. Rund 300 Milliarden Euro fließen jedes Jahr in das deutsche Gesundheitswesen. Das entspricht ziemlich genau dem deutschen Staatshaushalt von 2014. Vergessen Sie die Automobilindustrie. Von keiner Branche hängen mehr Arbeitsplätze ab als von unserem Gesundheitssystem: Zurzeit sind es 5,2 Millionen. Viele haben es sich darin bequem gemacht. Viele haben ein Interesse daran, dass alles bleibt, wie es ist. Groß und komplex. Still und schweigend.
Was ich in den ersten Wochen meiner Recherche erlebte, war daher vorauszusehen. Unnötige Operationen? Die Ärzte schwiegen, die Vertreter der Ärzte schwiegen, die Krankenhausrepräsentanten leugneten. Stattdessen bekam ich Ratschläge. Einer der häufigsten lautete: das Thema besser fallen zu lassen. Für Nicht-Mediziner viel zu kompliziert. Einer sagte es unverblümt: »Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Viel Glück dann noch.«
Den Abfuhren begegnete ich mit einer Art wütender Zahlensuche. Ich hoffte, ich würde Daten finden, mit denen ich die Leugner überführen könnte. Ich hatte mich bis dahin nur wenig mit der Erhebung und Auswertung von Daten in unserem Gesundheitssystem beschäftigt. Ich startete hoffnungsvoll.
Als Erstes suchte ich nach der Zahl der Operationen, die in Deutschland pro Jahr gemacht werden. Diese Angabe war scheinbar schnell zu finden: Das Statistische Bundesamt listete für das Jahr 2012 15,7 Millionen Operationen auf. Ich schrieb die Zahl auf einen Zettel und klebte ihn an meine Bürowand. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass das nur ein Teil der Wahrheit war. Denn in der Tabelle, die ich gefunden hatte, waren nur die sogenannten »vollstationären« Patienten erfasst. Also die Operierten, die nach dem Eingriff mindestens eine Nacht in der Klinik bleiben. Was aber war mit den ambulanten Operationen? Auch diese Zahl fand ich beim Statistischen Bundesamt: Es waren 2012 1,9 Millionen. Machte insgesamt also schon 17,6 Millionen Eingriffe. Bei rund 80 Millionen Einwohnern eine stolze Zahl. Doch auch das war noch nicht alles. Eine Mitarbeiterin des Statistischen Bundesamtes schrieb mir, dass die Zahl der ambulanten OPs noch nicht die Eingriffe einschließe, bei denen Belegärzte das Skalpell geführt haben – was nicht selten vorkommt. Auch alle Operationen, die niedergelassene Ärzte wie Chirurgen in medizinischen Versorgungszentren, Orthopäden, Dermatologen, Zahnärzte und Gynäkologen in ihren Praxen durchführen, fehlen in den Statistiken.
Als ich die großen Krankenkassen um Zahlen dazu bat, kamen umständliche Antworten, die unter dem Strich besagten: Keine Ahnung. – So verblüffend es sein mag: Wir wissen genau, wie viele Autos von welchem Hersteller in Deutschland pro Jahr gebaut werden, aber wie viele Menschen hier jährlich operiert werden, das ist nicht herauszubekommen.
Noch schwieriger ist die Datenlage bei den unnötigen Eingriffen. Vorab eine Definition, die mir eine Fachanwältin für Medizinrecht gegeben hat:
Unnötige Operationen sind Eingriffe, die am gesunden Menschen durchgeführt werden. Oder an Kranken, denen man mit anderen Methoden ebenso gut oder besser hätte helfen können. Zum Beispiel mit einer kleineren OP, einer Physio- oder Psychotherapie, mit Medikamenten oder schlicht: mit Geduld zum Abwarten.
Es gibt zwei große Gruppen von unnötigen Operationen. Das sind erstens Eingriffe, die grundsätzlich sinnlos sind. Sie helfen einfach nicht. Oder sie bringen dem Patienten so wenig, dass der Nutzen in keinem Verhältnis zu den Operationsrisiken steht. Vielleicht wundern Sie sich darüber, aber das gibt es häufiger, als man denkt. Anders als bei Medikamenten muss der Nutzen von Operationsmethoden oder Implantaten in Deutschland nicht nachgewiesen werden, bevor sie zur Anwendung kommen. Für neue Operationsmethoden gibt es keine Probephase, keine verbindlich vorgeschriebenen klinischen Tests, keine systematische Datenerhebung. Medizinprodukte, die den Patienten bei OPs eingebaut werden, unterliegen zwar Funktionsprüfungen, doch über den Nutzen sagen diese in der Regel nichts aus.
Studien in der Chirurgie sind ein langwieriges, teures, mühseliges Unterfangen. Lange Zeit waren sie deshalb unüblich. Unter deutschen Chirurgen sogar geradezu verpönt. Die Assistenten lernten von den Chefärzten. Was die Chefs sagten und taten, war richtig. Diese Einstellung hat sich in den letzten Jahren geändert, international stark, in Deutschland immerhin ein wenig. Ich fand heraus, dass engagierte Mediziner den Nutzen zumindest einiger Operationen inzwischen wissenschaftlich untersucht haben. Ich komme darauf später noch im Detail zurück. Hier nur ein Beispiel: Therapeutische Arthroskopien am Knie beim Gelenkverschleiß (Arthrose), so zeigen viele Studien, bringen nichts. Dennoch wurde eine solche Operation nach Angaben des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) 2009 an rund 200 000 Patienten in Deutschland gemacht. Obwohl solche Studien zunehmen, weiß man bis heute nicht, wie viele Eingriffe insgesamt sinnlos sind.
Bei der zweiten großen Gruppe unnötiger Operationen geht es um Eingriffe, die zwar grundsätzlich sinnvoll sind und helfen können, die aber an Patienten...