1. Vertreter packen aus
1.1 Joballtag und Verkaufsmaloche
So geschmeidig mancher Vertriebler von Finanzprodukten noch im Kundengespräch gewesen sein mag – unter Zusicherung der Anonymität reden die Verkäufer von Versicherungen, Bausparverträgen oder Fonds dann doch Klartext. Was sie erzählen, dürfte vielen Anlegern die Zornesröte ins Gesicht treiben.
Es gelte, »den Kunden so lange über den Tisch zu ziehen, bis er die Reibungswärme als Nestwärme versteht«, berichtet etwa ein Vertreter des Berufsstandes. »Ein Verkaufsgespräch ist wie Kampfsport«, befindet ein erfolgreicher Fondsvermittler. »Wenn man zu häufig verliert, also keinen Abschluss erreicht, macht es keinen Spaß mehr«.
Es sind Sprüche wie diese, die man den sonst so honorig auftretenden Finanzvermittlern kaum zutraut. Ebenso wenig wie das teilweise überbordende Selbstmitleid, wenn es mit den Zielen nicht läuft wie erhofft. »Ohne Abschluss ist man ein Nichts«, erklärt etwa der Fondsvermittler. Wenn der Verkäufer beim Kunden abblitze, sei das wie eine persönliche Zurückweisung. »Damit muss man leben lernen. Das ist wie in der Tanzschule ohne Partnerin sitzen zu bleiben.«
Ein anderer Vertreter klagt, dass Berufseinsteiger häufig verheizt würden. »In unserem Gewerbe heißt es: Senkrechtstarter starten nicht nur senkrecht, sie kommen auch so runter«, sagt er. Der Druck auf die Mitarbeiter sei immens, Burn-out und Mobbing in einigen Unternehmen an der Tagesordnung.
Die Vertriebsbranche ist ambivalent. Einerseits schillernd – gute Verkäufer von Finanzprodukten können nicht nur bei zwielichtigen Strukturvertrieben viel Geld machen und sich auf luxuriösen Incentive-Reisen von den Mühen des Alltags erholen. Andererseits ist die Branche verschlossen. Anfragen zu Interviews mit Vertriebsvorständen lehnen viele Finanzunternehmen pauschal ab, unter Klarnamen redet kaum ein Vertriebler, um nicht als Nestbeschmutzer identifiziert zu werden.
Die Autoren dieses Buchs haben mit mehreren Dutzend Finanzvertrieblern geredet. Anonym berichten sie, mit welchen Tricks sie Kunden zum Kauf überreden können, welchem Druck sie ausgesetzt sind und was sie verdienen. Basis des Buches ist eine Serie bei Handelsblatt Online, die im vergangenen Jahr mehr als eine Million Mal aufgerufen wurde. Ziel ist keine empirische Analyse, sondern ein Blick in den Alltag. Es geht nicht darum, einen Berufsstand pauschal an den Pranger zu stellen. Wie in jedem Job gibt es gute und schlechte Standesvertreter ebenso wie seriöse und unseriöse Geschäftsmodelle. Die Schilderungen sollen einen Einblick in die Mentalität vieler Vertreter verschaffen, Missstände aufdecken und mögliche Ursachen dafür offenlegen.
Was die wenigsten Kunden wissen: Vertrieb ist ein Knochenjob. Ein freier Vertreter von Geldanlage-Produkten aus dem Rheinland beschreibt seinen Joballtag so: Schon bis circa acht Uhr morgens sollten die Konzepte für die wichtigsten Kundengespräche des Tages stehen.
Auf vermögende Kunden bereitet sich der Verkäufer bis ins Detail vor. Er analysiert, welchen Bedarf die Person haben könnte, bereitet Argumentationslinien vor und geht Strategien gegen mögliche Einwände durch. Danach werden Termine ausgemacht, vom frühen Vormittag bis zur Essenzeit laufen die Verkaufsgespräche. In der Mittagspause werden Angebote geschrieben und Papierkram erledigt.
Danach folgen wieder Verkaufsgespräche und Termine, die bis in die Nacht dauern können. Erfolgreiche Verkäufer brauchen eine Bärennatur oder so viel Geld, dass sie nach einigen Jahren aussteigen können.
»Die Selbstausbeutung der Vertriebler geht tatsächlich bis an den Rand der persönlichen Selbstauslöschung«, erklärt ein anderer Vertreter. Das Geschäftsmodell sei die Ursache für stressbedingte Erkrankungen bis hin zum Burn-out. Viele Vertriebe setzen neben völlig freien Verkäufern auch auf selbstständige Mitarbeiter, die fast ausschließlich für sie arbeiten.
Wie der Joballtag funktioniert, berichtet eine Vertrieblerin, die für mehrere namhafte Versicherer sowohl in Festanstellung als auch freiberuflich gearbeitet hat. Zum Start kümmern sich fünf bis sieben Mitarbeiter um den neuen Kollegen, arbeiten ihn in die teils komplizierte Materie ein und begleiten ihn zu Kundengesprächen. Schon bei der Einarbeitung gäbe es jedoch Zielvorgaben. Es gelte die Regel: »Wer schreibt, der bleibt«.
Die Mitarbeiter müssen sich zur Decke strecken. Die finanzielle Unterstützung ende bei den Versicherern nach zwölf Monaten, bei Strukturvertrieben sogar nach sechs Monaten. Mancher Strukturvertriebler muss dann sogar noch Kredite zurückzahlen, etwa für Schulungen. Schafft der Kollege seine Ziele nicht, drohen Repressalien.
Wenn Mitarbeiter schwache Leistungen erbringen, werden sie von speziellen Betreuern ein- bis zweimal pro Woche angerufen, müssen Tätigkeitsprotokolle verfassen oder Vertriebserfolge nachweisen. Die »Spezialisten« telefonieren die Kundenlisten gemeinsam mit dem »Minderleister« ab. Die Fluktuation ist hoch. »In einem Jahr kündigten 20 von 130 Vertretern aus meiner Direktion«, sagt die Rheinländerin.
Der rege Wechsel ist gewünscht. »Jeder neu eingestellte Vertreter bringt zwangsläufig seine Freunde und Familie im Bestand unter«, sagt die Vertreterin. Wenn der Mitarbeiter nach kurzer Zeit den Konzern verlässt, verbleiben die Kunden. »Die Vertriebsleiter erhalten Kopfprämien für Neueinstellungen«, erklärt die Versicherungsvermittlerin. »Sie erhalten aber keine Prämie, wenn der Mitarbeiter bleibt.« Der Ton ist rau. »Eine Frau hält es irgendwann nicht mehr aus: die Männerwitze, die Anzüglichkeiten, die Hinweise, dass Frauen doch eher im Sekretariatsempfang sitzen sollten.«
Auch Festangestellte stehen unter enormem Druck. Ein pensionierter Filialleiter einer bekannten Privatbank berichtet von Rennlisten für verschiedene Produktarten. Die Filialen stehen im Wettbewerb, niemand möchte sich erlauben, konstant hinten zu liegen. »Zuerst wurde die Leistung nur alle paar Monate oder Quartale erfasst, dann wochenweise und zuletzt täglich«, sagt der Banker. Die eigene Vertriebsleistung sei jederzeit transparent.
Der Druck steigerte sich nach dem Bericht noch, als die Zentrale dazu überging, die Organisation der Beratungstermine zu übernehmen. »Einige Berater wurden mit Terminen geradezu eingedeckt.«
Nicht immer verläuft die Motivation derart profan. Ein ehemaliger Mitarbeiter einer Sparkasse berichtet aus seiner Ausbildungszeit. Während einer Vertriebsaktion für Bausparverträge sollten die Azubis im zweiten Lehrjahr während einer Teamrunde einen Vorschlag machen, wie viele Verträge sie absetzen wollten. »Keiner hat sich getraut, bis ich mit dem Vorschlag aufkam, ein Volumen von 1,2 Millionen abzusetzen«, berichtet der Banker.
Die Summe sei sehr hoch für die Filiale gewesen, eben noch machbar. »Das sowie meine Vertriebsaktivität in der Filiale haben dazu geführt, dass ich in der Praxis exzellente Beurteilungen in meiner Azubizeit bekommen habe.«
Fachwissen wurde in der Ausbildungszeit angeblich nur selten abgefragt. »Es ging nur um Gesprächs- und Vertriebstaktiken und darum, die Zahlen in die Höhe zu schrauben, damit die Provisionserträge für die Filiale stimmen«, erklärt der Banker. Und: »In jeder Bank, eben auch den Sparkassen, ist es üblich, dass freitagabends die Leiter herumgehen und fragen, was und wie viel abgesetzt wurde.«
1.2 Die Verkaufstricks
Beim Kundengespräch greifen die Mitarbeiter gern in die Trickkiste. Motivationsseminare und »Arbeitstreffen« mit den Chefs sollen die Vertriebler motivieren. Wie das funktionieren soll, zeigen die Unterlagen eines Workshops, bei dem der Chef einer Fondsgesellschaft seinen Vertrieblern Beine machen wollte. »Früh zu Bett! Früh wieder auf! Arbeite wie der Teufel! Und mach Werbung!« Diesen dem Coca-Cola-Gründer Asa Griggs Candler zugeschriebenen Spruch sollten sich die Vertriebler zu eigen machen.
Neben vermeintlichen Bagatellen wie »perfekte, saubere, gute Angebotsvorlagen«, der »Verkaufsmappe auf dem aktuellen Stand« und einer stundengenauen Einteilung des Arbeitstages ging es auch um die Akquise von Neukunden. Jeder Vertriebler sollte eine Liste mit möglichen Interessenten erstellen. Darunter: »ehemalige Kollegen, Vereine, Freunde, Nachbarn, Eltern und Großeltern«. In zwei Stunden würden so schnell 200 Personen zusammenkommen, denen man vielleicht etwas verkaufen kann.
Die Rechnung ist einfach, wie der Fondsmanager weiß: »Bei guten Verkäufern führen fünf Kontakte zu einem Verkaufsgespräch. Jedes zweite Gespräch führt zu einem Abschluss.« Mindestens zwei Kundengespräche pro Tag seien für ein auskömmliches Vermittlungssalär nötig. Jeder freie Vertriebler hütet deshalb die Kundendatei wie seinen Augapfel – und zeigt sich bei der Suche nach neuen Kontakten unersättlich. »Da niemand von den Bestandsprovisionen leben kann, müssen ständig neue hinzukommen«, erklärt der Manager.
Der Handel mit Daten von potenziellen Kunden läuft wie geschmiert. Im Datenbusiness gibt es illegale Auswüchse. Eine Masche: Nach Schilderungen von verschiedenen Vertrieblern rufen etwa in der Türkei Mitarbeiter von Call-Centern potenzielle Kunden in Deutschland an und bieten ihnen zum Beispiel einen kostenlosen Vergleich von privaten Krankenversicherungen an.
Die Adressen der Interessenten werden dann an deutsche Versicherungsvertreter weitergegeben. Bei einem Abschluss erhält der Betreiber der...