Dorothea Erxleben
1715 – 1762
DOROTHEA ERXLEBEN war die erste und für eineinhalb Jahrhunderte auch die einzige Ärztin, die in Deutschland promovieren und ihren Beruf offiziell ausüben durfte.
AUS »HASE« WIRD »LEPORIN«
Justus Hase, der Sohn eines Schlachters, wird Theologe und latinisiert den Familiennamen zu »Leporin(us)«. Sein Enkel Christian Polycarp Leporin studiert Medizin. 1714 beginnt er, in Quedlinburg zu praktizieren, wo er seit drei Jahren mit Anna Sophia verheiratet ist, der jüngsten Tochter des angesehenen Konsistorialrats Albert Meinecke. Im zweiten Jahr seiner Tätigkeit in Quedlinburg gerät Leporin mit dem Stadtphysikus Johann Heinrich Bollmann in einen heftigen, öffentlich ausgetragenen Streit über die richtige Behandlung einer Schussverletzung an der Hand eines Jungen. Leporin scheint nicht sonderlich beliebt zu sein, denn nach Bollmanns Tod erhält er bei der Wahl des Nachfolgers keine einzige Stimme.
Als seine acht Jahre ältere Ehefrau am 13. November 1715 mit Dorothea Christiana niederkommt, ist die Tochter Maria Elisabeth bereits drei Jahre alt; die Söhne Christian Polycarp und Johann Christian Justus kommen knapp zwei beziehungsweise fünf Jahre später zur Welt.
WISSENSDURSTIGES MÄDCHEN
Dorothea ist kränklich wie der jüngere ihrer beiden Brüder: »Oft war eine Krankheit noch nicht völlig überstanden, wenn sich eine andere bereits wieder einfand«, wird sie später in ihrem Lebenslauf berichten. Als der Vater beobachtet, dass Dorothea von ihren Unpässlichkeiten abgelenkt wird, wenn sie zuhören darf, wie er Christian unterrichtet, erlaubt er ihr häufiger, dabeizusitzen, und es kommt bald vor, dass sie anstelle ihres Bruders eine Frage beantwortet, wenn der nicht schnell genug ist. Angespornt durch Dorotheas offensichtliche Begabung bezieht Dr. Leporin sie in den systematischen Unterricht mit ein, der eigentlich dazu dient, Christian auf den Besuch der Lateinschule vorzubereiten. Während Dorothea in Religion, »Gelehrsamkeit« und »nützlichen Wissenschaften« unterwiesen wird und Deutsch, Latein und Französisch lernt, muss ihre kräftigere und gesündere Schwester der Mutter im Haushalt helfen. Obwohl Maria es eher langweilig finden würde, an den Unterrichtsstunden teilzunehmen und ihr längst erklärt wurde, dass es für ein Mädchen viel wichtiger sei, einkaufen und kochen, spinnen und weben, waschen und putzen zu können, ärgert sie sich immer wieder über die Bevorzugung Dorotheas, besonders wenn nach einem langen Waschtag Rücken und Hände schmerzen. So kommt es nicht selten zu Reibereien zwischen den Schwestern, und Leporin muss hin und wieder ein Machtwort sprechen. Aufgrund der Tatsache, dass er ein Mädchen am häuslichen Unterricht seines älteren Sohnes teilnehmen lässt, könnte man annehmen, er vertrete unkonventionelle Ansichten. Aber das ist nur bedingt richtig: In einer der Schriften, die er auf eigene Kosten drucken lässt, betont er, dass sich selbst eine gebildete Frau ihrem Vater beziehungsweise Ehemann unterordnen müsse.
Da Dr. Leporin sich bei seinen Krankenbesuchen von Christian und Dorothea begleiten lässt, führt er sie schon früh ins medizinische Grundwissen ein. Während Christian schließlich die Lateinschule besucht, wird Dorothea – der wie allen anderen Mädchen der damaligen Zeit eine höhere Schulbildung versagt bleibt – weiter zu Hause unterrichtet, jetzt auch von ihrem Bruder, der beispielsweise seine Sprachlektionen mit nach Hause nimmt und sie mit ihr durchgeht. Offenbar zeigt er Dorotheas Arbeiten dem Rektor und Lateinlehrer Tobias Eckhart, denn der lobt die Fünfzehnjährige in einem Brief: »Nicht ohne Vergnügen habe ich deine lateinischen Übungen gelesen. Ich habe diese so vorbereitet gefunden, dass sie die jungen Männer, die allein darauf bedacht sind, die Wissenschaft zu behandeln, zu einem Wettstreit reizen können. Ich gratuliere dir deshalb und bewundere die Fähigkeiten deines Geistes, auch die Begierde, diese Wissenschaft zu behandeln und bewundere deine Fortschritte […]«
»DASS DIESES GESCHLECHT DER GELEHRSAMKEIT SICH BEFLEISSIGE«
Auch als Christian 1736 zum Marwitz’schen Regiment in Quedlinburg eingezogen wird, hört der Vater nicht auf, Dorothea medizinische Kenntnisse und Erfahrungen zu vermitteln. Wenn er – was jetzt häufiger vorkommt – bettlägrig ist, kümmert sie sich auch schon mal allein um eine seiner Patientinnen. Trotzdem beneidet sie ihren Bruder, der im April 1740 beurlaubt wird, damit er sein Medizinstudium an der 1694 gegründeten, vom Pietismus geprägten Universität Halle beginnen kann. Sie hätte so gern studiert. »Wie oft habe ich mir gewünscht, mit ihm gleiches Glück zu genießen […]« Aber die Universitäten sind männlichen Studenten vorbehalten. Es gibt noch immer Gelehrte, die über die Frage disputieren, ob Frauen überhaupt Menschen sind (F. H. Hoeltichius: Femina non est homo. 1672). Zwar hatte ein Professor in Halle 1707 die Gründung einer »Jungfern Akademie« vorgeschlagen, aber verwirklicht wurde nichts dergleichen. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts geht die vorherrschende Meinung davon aus, dass Frauen nicht für höhere Bildung geeignet seien und »eine Überbeanspruchung des Gehirns« zum »Nachlassen der Fortpflanzungsfähigkeit« führen könne (Herbert Spencer).
Damit findet Dorothea sich nicht ab. 1738 verfasst die Zweiundzwanzigjährige eine Schrift, die später gedruckt wird. Im Vorwort vom 29. Januar 1742 heißt es dazu: »Als ich vor mehr als vier Jahren diesen Aufsatz zu Papier brachte, hatte ich keinesfalls im Sinn, ihn zu veröffentlichen. Es war mir genug, dass ich Gelegenheit fand, mich darin zu üben, meine Gedanken in Ordnung zu bringen. […] Mein lieber Vater versetzte mich in große Angst, denn nachdem er alles gelesen hatte, beschloss er, es drucken zu lassen.« Der Titel lautet: »Gründliche Untersuchung der Ursachen, die das weibliche Geschlecht vom Studieren abhalten, darin deren Unerheblichkeit gezeigt, und wie möglich, nötig und nützlich es sei, dass dieses Geschlecht der Gelehrsamkeit sich befleißige, umständlich dargelegt wird«. Ohne die traditionell untergeordnete Rolle der Frau in der Familie in Frage zu stellen, versucht Dorothea auf 240 Seiten Vorurteile über eine prinzipielle Unvereinbarkeit von Weiblichkeit und Bildung zu widerlegen. So erläutert sie beispielsweise, Frauen seien nur solange gefühlsbetonter, unkonzentrierter und unbeständiger als Männer, wie man sie daran hindere, ihren Verstand zu schulen. Sie fordert die Zulassung von Frauen zur »Gelehrsamkeit«, damit sie nicht länger »dieses herrlichen und kostbaren Gegenstandes beraubt werden«. Die Schrift sorgt für Aufsehen, und sieben Jahre später erscheint sogar ein Raubdruck. In diesem Zusammenhang schreibt die »Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten« am 11. Oktober 1749: »Diese Schrift hat ihren Wert und verdient Beifall, weil sie aus der Feder eines vernünftigen Frauenzimmers geflossen ist.«
BITTSCHRIFT AN DEN KÖNIG
Als die Quedlinburger am 24. November 1740 dem preußischen König Friedrich II. huldigen, der vor einem halben Jahr seinem verstorbenen Vater auf den Thron folgte, sieht Dorothea eine Gelegenheit, auf ihr persönliches Anliegen aufmerksam zu machen. Die Fünfundzwanzigjährige überreicht dem Regierungspräsidenten von Halberstadt, der den Monarchen bei dem Festakt vertritt, eine Supplik. Darin bittet sie zunächst darum, ihren Bruder Christian weiter studieren zu lassen. Offenbar befürchtet sie, dass seine Beurlaubung vom Militärdienst widerrufen wird, sobald der preußische König das seit 20. Oktober von Maria Theresia regierte Habsburger Reich angreift. Dass eine junge Frau es wagt, sich mit einer Bittschrift an den König zu wenden, sorgt für Erstaunen, aber vor allem der zweite Teil des Gesuchs ist ganz und gar außergewöhnlich: Dorothea möchte sich ihrem Bruder anschließen und an der medizinischen Fakultät der Universität Halle eine Abschlussprüfung machen dürfen. Wo nimmt sie nur den Mut für so eine Bitte her, deren Gewährung mehr als unwahrscheinlich ist? Noch nie hat eine Frau in Deutschland einen akademischen Grad erworben! Die Romanautorin Regina Hastedt geht davon aus, dass Dorothea von Maria Elisabeth, der Äbtissin des Quedlinburger Damenstifts, protegiert wurde, aber diese Darstellung lässt sich nicht belegen.
DIE MÄNNER AUF DER FLUCHT
Das Vorgehen seiner Tochter ermutigt Leporin offenbar zu einer eigenen Eingabe. Da er mit seiner Arztpraxis in Wernigerode nur wenig verdient, wendet er sich an den Stiftshauptmann Georg Otto Edler von Plotho. Der schreibt am 20. Dezember 1740 an Friedrich II., der vier Tage zuvor mit seinen Truppen in Schlesien einmarschiert ist, um Maria Theresia die reiche Provinz Schlesien zu rauben: »Man gibt diesem Dr. Leporin hier das Zeugnis, dass er nicht nur ein guter Medikus, sondern auch in verschiedenen anderen nützlichen Dingen geschickt, bei der hiesigen...