In diesem Kapitel werden übergeordnete Faktoren angesprochen und diskutiert, die das Leben an der Grenze und die Einstellungen der Menschen prägen bzw. bedingen. Von besonderer Bedeutung für eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen können nach STRYJAKIEWICZ (1996a:43) Faktoren folgender Art sein:
- außenpolitisch, innenpolitisch, historisch, gesetzlich, verwaltungsmäßig, ökonomisch, finanziell, infrastrukturell, ökologisch, demographisch, kulturell und psychosozial.
Aufgrund der ähnlichen Ausgangslage eignen sich solche Untersuchungskriterien auch für eine Untersuchung an der deutsch-tschechischen Grenze. Alle diese Kriterien werden im Rahmen dieses Kapitels angesprochen und, entsprechend ihrer Relevanz, genauer betrachtet.
Eine Untersuchung der aktuellen Auffassungen in einem Grenzraum setzt zwingend auch einen Abriß der historischen Begebenheiten voraus. Historische Argumente finden sich noch immer in den Argumenten der Bevölkerung wieder, obwohl die Ereignisse Generationen zurückliegen. So führt zum Beispiel KOWALKE (1996:80) das fehlende Kontaktbedürfnis zwischen den Menschen auf die geschichtlichen Geschehnisse zurück, die in diesem Kapitel dargestellt werden.
Die Grenze zwischen Deutschland und Tschechien besteht in der heutigen Form seit dem Ende des zweiten Weltkrieges. Wichtig für die Betrachtung der historischen Entwicklung ist aber im Besonderen das, was vorher geschah. GRIMM (1996:3) geht in seiner Arbeit über die Euroregion Neisse bis zur ersten Besiedlung von germanischen Stämmen beidseitig der heutigen Grenze zurück. Im Rahmen der großen Völkerwanderungen siedelten slawische Stämme in der Region. Im 13. und 14. Jahrhundert erfolgte dann eine erhebliche Bevölkerungszunahme im Zuge der Ostsiedlung deutscher Siedler und damit einhergehend eine Assimilierung der slawischen Bevölkerung im Untersuchungsgebiet. Die deutsch-slawische Sprachgrenze lag von nun an für eine lange Zeit etwa 60 km nördlich (sorbisch), über 150 km östlich (polnisch) und etwa 30 km südlich (tschechisch) von Zittau. Die Oberlausitz gehörte aber während dieses Zeitraums bis zum 30jährigen Krieg zu Böhmen[13].
Mit der Orientierung der Lausitz zum Königreich Sachsen und der Stärkung Böhmens durch den damaligen Verzicht Polens auf Schlesien entstand im 14. Jahrhundert die säch- sisch-böhmische Grenze, wie wir sie heute kennen (vgl. KOWALKE 1997:14). Offiziell wurde Zittau aber erst 1635 an Kursachsen abgegeben. Bis auf kurze Ausnahmen, auf die ich im folgenden eingehen werde, behielt diese Grenze ihre Gültigkeit bis heute.
Weder KOWALKE noch GRIMM erwähnen in ihren historischen Abrissen allerdings die, während und kurz nach dem 30-jährigen Krieg im Zuge der Gegenreformation in die Oberlausitz geflohenen, böhmischen Exulanten[14]. Die Exulanten waren Protestanten und flohen im Zuge der Hussitenverfolgung aus Mähren und Böhmen. Sie wurden allerdings rasch von der deutschsprachigen Bevölkerung assimiliert.
Die Grenze zwischen Böhmen und Polen entstand als Resultat des Siebenjährigen Krieges mit der Abtretung Schlesiens von Österreich an Preußen. Böhmen gehörte bis zum Ende des ersten Weltkrieges zu Österreich, behielt als Königreich allerdings eine gewisse Autonomie. Die Bevölkerung im sogenannten „Sudetenland“ - einem ca. 50 km breiten Streifen entlang der Grenze zu Bayern und Sachsen war in der Mehrheit deutschsprachig. Interessanterweise gab es den größten slawischen Siedlungsanteil, wenn man die heutige Euroregion Neisse betrachtet, weder im tschechischen noch im polnischen (früher schlesischen) Teil, sondern im sächsischen, wo die Lausitzer Sorben lebten und noch heute leben.
Während die österreichisch-ungarische Monarchie noch ein multiethnisches Gebilde war, in dem Deutsche, Juden, West- und Südslawen, Madjaren und Roma mehr oder weniger gleichberechtigt und friedlich lebten, bildeten sich nach der Niederlage der Mittelmächte und der Abdankung der Habsburger auf Druck des Kriegsgewinners USA Nationalstaaten auf ethnischer Grundlage[15].
Mit der Gründung des tschechoslowakischen[16] Nationalstaates (CSR) im Jahr 1919 änderte sich auch die Situation für die Sudetendeutschen grundlegend. Sie waren nun nicht mehr die privilegierte Schicht im böhmischen Teil der Kaiserlich-Königlichen Monarchie, sondern eine ethnische Minderheit in einem slawischen Staat. Die Sudetendeutschen forderten zusehend den Anschluß ans Deutsche Reich und gerieten so in Probleme mit der tschechoslowakischen Regierung in Prag. Der Streit entschied sich 1938 dann gegen den Willen der CSR im Münchner Abkommen zugunsten der Sudetendeutschen. Deutsche Panzer rollten wenig später unter dem Jubel der deutschen Minderheit sogar in Prag ein. Das Sudetenland[17] wurde ins Reich eingegliedert, die sogenannte „Resttschechei“ zum „Protektorat Böhmen und Mähren“ deklariert und die Slowakei erhielt eine Unabhängigkeit „unter Hitlers Gnaden“.
Völlig unverständlich erscheint in diesem Zusammenhang, daß die umfangreiche Betrachtung der historischen Entwicklung des deutsch-tschechischen Grenzgebietes in der Aufsatzsammlung von WESSEL (1998:67-72) die Zeit von 1939 bis 1945 ausläßt. In diese Zeit fällt eins der grausamsten Kapitel im deutsch-tschechischem Verhältnis, das Massaker von Lidice. Folgende „Racheaktion“ spielte sich in dem Dorf (ca. 50 km westlich von Prag) ab, nachdem dem tschechischen Widerstand ein Attentat auf den Protektoratsführer Heydrich glückte. Nach PROSS-WEERTH (1967:253) geschah damals folgendes:
In der Nacht vom 9. zum 10. Juni 1942 umzingelten SS-Männer das Dorf. Alle Bewohner wurden aus den Häusern gejagt, Frauen, Männer, Kinder voneinander getrennt. Die Frauen schaffte man auf Lastautos in das nahegelegene Kladno, von dort in verschiedene Konzentrationslager. Alle männlichen Bewohner von 15 Jahren aufwärts wurden erschossen. Von den Kindern kam später ein Teil in Gaskammern um. Das Dorf wurde dem Erdboden gleichgemacht, was sich nicht verbrennen ließ, wurde gesprengt. Bulldozer ebneten zum Schluß die Grundmauern ein. Lidice bestand nicht mehr, sein Name wurde aus allen amtlichen Verzeichnissen und in allen Karten getilgt.
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden die territorialen Zugehörigkeiten neu entschieden. Das Sudetenland kam wieder zur Tschechoslowakei. Ähnlich wie in Schlesien wurde die deutsche Bevölkerung im Rahmen der noch heute geltenden Benesch-Dekrete enteignet und größtenteils vertrieben[18]. Von einer historischen Verbundenheit, wie es sie teilweise an EU-Binnengrenzen gibt, kann man nach SCHAMP (1995:6) hier in Anbetracht der Ereignisse des 2. Weltkrieges also nicht ausgehen. Im Unterschied zu Polen, wo im Rahmen der „Westverschiebung“ Millionen Polen umgesiedelt wurden, gab es aber in der CSR keine große Zahl von Zwangsumgesiedelten. Zwar kamen auch kleinere Gebiete der Ostslowakei[19] zur UdSSR; die dort ansässigen Karpato-Ukrainer (Russinen oder Huzulen) fühlten sich aber zum Großteil auch der Ukraine zugehörig. Die Bevölkerungszahlen von vor dem Krieg wurden in der Region dementsprechend nie wieder erreicht. Viele nicht zerstörte Häuser wurden und werden noch heute als Ferien- oder Landhäuser von Prager Bürgern genutzt.
Nach dem Wahlsieg der Kommunisten in der restaurierten CSR[20] 1948 und der Gründung der DDR 1949 standen sich von nun an zwei offiziell in „sozialistischer Bruderfreundschaft“ verbundene Staaten gegenüber. Die DDR bewies ihre „Freundschaft“ dann zuletzt im August 1968 im Rahmen der Niederschlagung des Prager Frühlings durch Armeen der Warschauer-Pakt-Staaten. Es mag in Deutschland vielleicht nicht so bekannt sein, aber während der vorangegangenen Verhandlungen in Moskau war es die Staatsführung der DDR und nicht etwa die UdSSR, die auf diesen Eingriff in die Souveränität der CSSR drängte[21]. Die Tschechen können sich in diesem Jahrhundert also zweimal von Deutschen überfallen und vom Westen sich selbst überlassen fühlen. Ein aus den historischen Bedingungen erwachsenes Mißtrauen gegenüber den Deutschen ist demnach zu vermuten.
Im Gegensatz zum bayrisch-tschechischen Grenzabschnitt gab es aber an diesem Grenzabschnitt seit 1972 „ein vergleichsweise großzügiges Grenzreglement [...], das die Grundlage für einen lebhaften beiderseitigen Besucherverkehr bildete”(KOWALKE 1997:14). Der Grenzverkehr zur Volksrepublik Polen war in der Zeit von 1980 bis 1989 nach der Streikwelle der Solidarnosc allerdings stark eingeschränkt worden.
Nach KOWALKE (1996:80) war die 40 Jahre existierende „Freundschaftsgrenze“ zwischen der DDR und Polen sowie der CSSR allerdings keine offene Grenze. Die „verordnete Freundschaft“ förderte nicht oder nur bedingt - und nur so weit es von den Regierungen gewollt war - die Kontakte zwischen den Menschen, den kommunalen Verantwortlichen und den Trägern der Wirtschaft. Letztendlich war die Anzahl der Grenzübergänge sehr beschränkt, so daß ein Grenzübertritt mit größeren Umwegen verbunden war (siehe Kapitel 4.4). Die...