Sie sind hier
E-Book

Wales. Kultur und Geschichte

Maurer, Michael - die kleinste der britischen Nationen im Porträt

AutorMichael Maurer
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2016
ReiheReclams Ländergeschichten 
Seitenanzahl280 Seiten
ISBN9783159608914
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Wales erscheint in mancher Hinsicht fremd und eigenwillig, gleichzeitig ist es ein herrliches Ferienland und ein höchst lebendiger Teil Europas. Die Menschen sprechen Keltisch (so sie es noch können), sind stolz auf Landessöhne wie König Artus, die Tudors oder den Dichter Dylan Thomas, leben fromm und nonkonformistisch in Ortschaften mit schier unaussprechlichen Namen. Michael Maurer stellt in seinem informativen Band diese kleinste der britischen Nationen vor: Geographie und Nationalcharakter, die reiche Geschichte von der vorrömischen Zeit bis zum Regionalparlament der Gegenwart, Sprache und Literatur, die Rolle der Musik und des Sports - und vervollständigt damit seine glänzenden kulturhistorischen Darstellungen der Länder des United Kingdom.

Michael Maurer, geb. 1954, ist Professor für Kulturgeschichte an der Universität Jena und Autor zahlreicher Bücher zur europäischen Geschichte des 18. Jahrhunderts, zur deutschen, englischen, irischen und schottischen Geschichte.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

Owain Glyndŵr – ein Nationalheld?


Es dient zum Verständnis des Folgenden, wenn man sich klarmacht, dass England in dieser Zeit im Hundertjährigen Krieg in Frankreich engagiert und insofern in weiträumige Machtgespinste verflochten war, in denen Nebenländer wie Wales und Irland keineswegs im Zentrum des Interesses standen. Wenn sich der englische König aber spezieller um die Belange dieser Nebenländer zu kümmern gezwungen war, riskierte er möglicherweise seine Krone.

In Wales herrschte zwar insofern eine gewisse Stabilität, als das Land seit Eduard I. herrschaftstechnisch gefestigt und verwaltungsmäßig neu strukturiert war. Es wurde weitgehend englisches Recht angewandt; die Wirtschaft war in der Hand englischer Kaufleute; die Kirche war dem Erzbischof von Canterbury unterstellt und in der Hand englischer Geistlicher; eine Universität gab es nicht – wer höhere Bildung wollte, musste nach Oxford oder Cambridge. Trotzdem oder gerade deshalb herrschte viel Unzufriedenheit im Lande: Die Waliser fühlten sich als ein unterworfenes Volk, ihr Land besetzt von den Engländern, die alle guten Stellen und alle guten Böden und alle Karrierepositionen an sich gerissen hatten. An der alten Zersplitterung der Herrschaften in Wales hatte sich nichts geändert: Eine Einigung, eine gemeinsame Dynastie, eine Führungsfigur – so etwas war einfach nicht in Sicht.

Freilich: Zuweilen flackerte Widerstand auf. Insbesondere Owain Glyndŵr machte sich einen Namen. Dieser war zwar überwiegend walisischer Abkunft mit einem noblen Stammbaum (ein Nachfahre der Könige von Gwynedd und Powys; seine Mutter stammte aus dem königlichen Hause von Deheubarth), aber englisch akkulturiert und erzogen; er hatte in London an den Inns of Court Jura studiert und anschließend die militärische Karriere eingeschlagen und im englischen Heer in Schottland gedient. Walisische Barden riefen ihn zum Führer aus und stachelten ihn zur Rebellion an. Er war der Mäzen berühmter Dichter; sie erinnerten ihn an den alten Ruhm der freien Waliser und an die Prophezeiung, dass der rote Drache dereinst den weißen Drachen vertreiben werde. Am 16. September 1400 proklamierten ihn seine Anhänger in Glyndy­fyrdwy, seinem Sitz im Gebirge, zum ›Prince of Wales‹. Ein kleines Aufgebot plünderte die Stadt Ruthin, dann auch fernere Städte wie Welshpool. Der Sheriff von Shropshire gebot ihm Einhalt und stellte ihm eine hastig zusammengetrom­melte Söldnerschar entgegen. Zwei seiner Cousins, die Tudur-Brüder in Anglesey, revoltierten ebenfalls. König Heinrich IV. fand diese Auftritte immerhin so wichtig und gefährlich, dass er mit einem Heer durch Nordwales marschierte und durch das Gebirge nach Shrewsbury zurückkehrte, nachdem er die Besitzungen Owain Glyndŵrs konfisziert hatte. Das Erscheinen eines Heeres genügte, um die Ordnung wiederherzustellen.

Heinrich IV. reagierte vor dem Hintergrund eines panischen englischen Parlaments. Dieses erließ sofort Gesetze gegen öffentliche Versammlungen in Wales (Zusammenrottungen!); und Walisern wurde es förmlich verboten, in den englischen Städten von Wales und den Marches Eigentum zu erwerben oder Positionen einzunehmen.

Im Frühjahr 1401 flammten an verschiedenen Orten in ­Wales Widerstandsaktionen gegen England auf. Die Tudur- Brüder nahmen Conwy ein. Andere Gruppen von Aufständischen wurden von den Engländern sofort niedergeschlagen. Owain Glyndŵr marschierte mit seinen Männern südwärts und errang verschiedene Siege. Vergeblich wandte er sich um Hilfe nach Frankreich, Schottland und Irland. 1402 eroberte er verschiedene Städte, errang mehrere Siege und nahm wichtige Gegner gefangen. Damit wurde er so gefährlich, dass der englische König drei Heereskolonnen aus Shrewsbury, Chester und Hereford nach Wales marschieren ließ. Doch der Aufruhr wurde von schlechtem Wetter begünstigt. Immer wieder zogen sich die Einheimischen ins Gebirge oder in unwegsames Gelände zurück, um dann blitzartig über versprengte Truppenteile herzufallen.

Der Aufstand in Wales war für den englischen König deshalb so bedrohlich, weil er sich seinerseits nicht auf eine dynastisch unbezweifelte Legitimität stützen konnte. Heinrich Bolingbroke, der Earl von Lancaster, hatte erst 1399, als sich König Richard II. von England auf einem Kriegszug in Irland befand, in dessen Abwesenheit nach der Krone gegriffen und sich als Heinrich IV. zum König krönen lassen, unter Mitwirkung des Parlamentes. Es gab aber nicht wenige, welche andere Bewerber für berechtigter und stärker hielten. Obwohl Richard II. 1401 getötet worden war, kamen noch genügend andere ­Magnaten als Rivalen in Frage. Es lag nahe, dass diese nun Owain Glyndŵr zuströmten und sich mit ihm verbündeten. Die Mortimers, eine mächtige Familie aus den Marches, sahen ihre Stunde gekommen. Obwohl der ältere Edmund Mortimer einst Owain Glyndŵrs Feind gewesen und sogar von diesem gefangen genommen worden war, alliierten sich die beiden nun. Sein Neffe, Edmund Mortimer, Earl von March, war ein Abkömmling des zweiten Sohnes von König Eduard III. von England und galt deshalb vielen als besser legitimiert als Heinrich IV., der nur ein Abkömmling des dritten Sohnes von Eduard III. war. Mit ihnen verbündete sich Henry Hotspur (Percy), der eine Schwester Edmund Mortimers geheiratet hatte. König Heinrich IV. hatte also allen Grund, sich bedroht zu fühlen, und lieferte im Sommer 1403 bei Shrewsbury eine Schlacht, in welcher er Hotspur besiegte und tötete. Trotzdem konnte Owain Glyndŵr den größten Teil von Wales halten; 1404 nahm er die Festungen von Harlech und Aberystwyth und berief ein Parlament nach dem zentral gelegenen Machynlleth ein, um finanzielle Unterstützung für seinen Aufruhr gegen die englische Krone zu gewinnen, nicht zuletzt aber auch, um den Engländern zu zeigen, dass seine Führung im ganzen Lande anerkannt wurde. In gewisser Hinsicht kann die Lokalisierung in Machynlleth auch als erster Versuch gelten, eine Hauptstadt für Wales zu finden.

Denn in der Tat plante Owain Glyndŵr so etwas wie einen walisischen Staat. Er bemühte sich um den Aufbau eigener Strukturen. Er berief einen Geistlichen, Gruffudd Young, zu seinem Kanzler. 1404 schmiedete er eine Allianz mit dem König von Frankreich, der auch tatsächlich eine Flotte schickte und die Engländer mit Überfällen auf verschiedene Küstenstädte piesackte. Ein weiteres Bündnis mit Mortimer und dem Earl von Northumberland sah für den Fall des Sturzes Heinrichs IV. eine Dreiteilung Englands vor, bei der sich jeder der Verbündeten mit einem Drittel abfinden wollte. Aber bei den kommenden Feldzügen mussten sie überwiegend Niederlagen einstecken. Erneut berief Owain Glyndŵr ein Parlament ein, diesmal nach Harlech.

1405 sandten die Franzosen ein Hilfscorps nach Wales. Sie landeten in Milford Haven und bildeten den Kern eines walisischen Heeres, das über 10 000 Mann stark war und unter der Führung Owain Glyndŵrs Schlachten bei Haverfordwest und Carmarthen für sich entschied. Das Heer rückte vor auf Worcester, nahm auch diese Stadt und stellte sich zur Schlacht auf Woodbury Hill, aber Heinrich IV. trat nicht an. Daraufhin kehrte Owain Glyndŵr unter letztlich ungeklärten Erwägungen um und zog sich mit seinem Heer nach Westen, in sein heimatliches Wales, zurück. Heinrich IV. folgte ihm mit einem starken Heer. Aber wiederum sahen sich die Waliser in ihrer Heimat vom Wetter begünstigt. Es kam nicht zu einer Schlacht, aber die Waliser eroberten die Bagage des englischen Heeres. 1406 kehrte das französische Hilfscorps in die Heimat zurück.

Owain Glyndŵr war zwar vor einer Invasion in England zurückgeschreckt, als sie ihm bei Worcester (Woodbury Hill) offenzustehen schien, doch war die internationale Lage damals so vielversprechend, dass er immer noch alles erwarten konnte. Auch auf dem Wege der Diplomatie. Denn anders als andere walisische Rebellen war dieser spätmittelalterliche Nationalheld ein Mann der großen Kombinationen und übergreifenden Projekte. Zu seiner Zeit sah sich das Papsttum geschwächt durch das ›Große Schisma‹: Außer dem Papst in Rom gab es noch einen Papst in Avignon unter dem Einfluss des französischen Königs. Wales war durch Canterbury an Rom gebunden. Aber Owain Glyndŵr wandte sich an den Papst in Avignon, dem auch die Schotten und Iren schon zugeflogen waren. Benedikt XIII., damals Papst in Avignon, verhandelte nun, vermittelt durch den französischen König, mit Owain Glyndŵr über dessen Pläne, die Kirche von Wales unabhängig zu machen von der Kirche von England. St. David’s sollte zum Sitz eines Erzbischofs werden. In Wales, wo man bisher keine höhere Bildung erwerben konnte, sollten zwei Universitäten gegründet werden, eine im Norden, eine im Süden.

Aber 1406 verloren die Rebellen mehrere Schlachten. Die Engländer drangen von den Marches her nach Wales vor; sie machten im Süden Boden gut, nahmen aber auch Anglesey ein. Der Sohn Heinrichs IV., der künftige Heinrich V., konnte sich zunehmend als Heerführer auszeichnen. 1407 hielt Owain Glyndŵr noch einen großen Teil des Landes im Westen mit den Festungen Aberystwyth und Harlech. 1408 musste er weitere Rückschläge hinnehmen, weil mehrere seiner wichtigsten Verbündeten getötet wurden; und als Aberystwyth und Harlech fielen, wurden seine Frau, seine Töchter und Enkelinnen als Gefangene in den Tower von London gebracht. In...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Europa - Geschichte und Geografie

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Spätmoderne

E-Book Spätmoderne
Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa I Format: PDF

Der Sammelband „Spätmoderne" bildet den Auftakt zur Reihe „Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa" und widmet sich zuvorderst osteuropäischen Dichtwerken, die zwischen 1920 und 1940…

Spätmoderne

E-Book Spätmoderne
Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa I Format: PDF

Der Sammelband „Spätmoderne" bildet den Auftakt zur Reihe „Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa" und widmet sich zuvorderst osteuropäischen Dichtwerken, die zwischen 1920 und 1940…

Weitere Zeitschriften

aufstieg

aufstieg

Zeitschrift der NaturFreunde in Württemberg Die Natur ist unser Lebensraum: Ort für Erholung und Bewegung, zum Erleben und Forschen; sie ist ein schützenswertes Gut. Wir sind aktiv in der Natur ...

AUTOCAD Magazin

AUTOCAD Magazin

Die herstellerunabhängige Fachzeitschrift wendet sich an alle Anwender und Entscheider, die mit Softwarelösungen von Autodesk arbeiten. Das Magazin gibt praktische ...

Card-Forum

Card-Forum

Card-Forum ist das marktführende Magazin im Themenbereich der kartengestützten Systeme für Zahlung und Identifikation, Telekommunikation und Kundenbindung sowie der damit verwandten und ...

cards Karten cartes

cards Karten cartes

Die führende Zeitschrift für Zahlungsverkehr und Payments – international und branchenübergreifend, erscheint seit 1990 monatlich (viermal als Fachmagazin, achtmal als ...

Das Grundeigentum

Das Grundeigentum

Das Grundeigentum - Zeitschrift für die gesamte Grundstücks-, Haus- und Wohnungswirtschaft. Für jeden, der sich gründlich und aktuell informieren will. Zu allen Fragen rund um die Immobilie. Mit ...

Euro am Sonntag

Euro am Sonntag

Deutschlands aktuelleste Finanz-Wochenzeitung Jede Woche neu bietet €uro am Sonntag Antworten auf die wichtigsten Fragen zu den Themen Geldanlage und Vermögensaufbau. Auch komplexe Sachverhalte ...