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E-Book

Wandel durch Schulentwicklung

Essays zu Bildungsreform und Schulpraxis

AutorHans-Günter Rolff
VerlagBeltz
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl238 Seiten
ISBN9783407631411
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,99 EUR
Dieser Sammelband gibt den aktuellen Stand der Bildungsreform in Theorie, Praxis- und Erfahrungsberichten wieder und kommt zu dem Schluss, dass Bildungsreformen am ehesten in Form von professioneller Schulentwicklung gelingen. Nach einem Rückblick auf 50 Jahre Bildungsreform analysiert Hans-Günter Rolff den Begriff der Schulreform und geht kritisch auf den Stand der Chancengleichheit ein. Dazu erläutert er unterschiedliche Lernkonzepte einschließlich der Duplexstruktur pädagogischen Handelns, präsentiert Treiber des Qualitätsmanagements und Konzepte der Unterrichtsentwicklung. In weiteren Beiträgen untersucht der Autor die Wirkungen von Schulleitungshandeln, Change Management, Regionalen Bildungslandschaften, Peer Reviews und digitalen Lernumgebungen. Neben einem Essay über Bildung in der Wissensgesellschaft liefert er eine kritische Analyse der gängigen Schlagwörter in der Bildungsreformdebatte. Das Buch endet mit 15 Leitideen für Schulentwicklung.

Prof. em Dr. Hans-Günter Rolff ist Pionier der Schulentwicklungsbegleitung und -forschung im deutschsprachigen Raum. Er hat 1973 das Institut für Schulentwicklungsforschung der TU-Dortmund gegründet, 32 Jahre lang geleitet und dazu zahlreiche Schulentwicklungsprojekte im In- und Ausland begleitet.

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Leseprobe

1. Fünf Dekaden Schulreform


Im Jahr 2015 hätten wir nicht nur »70 Jahre nach Kriegsende«, sondern auch Jubiläen im Bereich der Schulreform feiern können, vor allem »50 Jahre Schulreform«, aber auch »20 Jahre Bildungskommission NRW« und deren epochemachende Denkschrift »Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft«(Bildungskommission NRW 1995). Beides ist nicht geschehen. Die »Deutsche Akademie für Pädagogische Führungskräfte« (DAPF) indes hat ihr Jubiläum, ein zehnjähriges, gefeiert. Um dieses in einen größeren Zusammenhang zu stellen, sollen im Folgenden die letzten fünfzig Jahre der Entwicklung des Bildungssystems in wenigen Strichen nachgezeichnet und dazu ein Blick auf die Entstehung und Entfaltung des Verständnisses von Schulleitung gerichtet werden. Es bieten sich dabei fünf Dekaden an.

Um 1965: Bildungskatastrophe


Wenn man einen Startpunkt für die neuere Bildungsreform sucht, stößt man unweigerlich auf die Wochenzeitungsserie und spätere Buchveröffentlichung von Georg Picht: »Die Deutsche Bildungskatastrophe« (1964). Picht ging es vor allem um die Bedeutung und die Ausweitung der Zahl der Abiturienten, die er als viel zu wenige diagnostizierte: »Die Zahl der Abiturienten bezeichnet das geistige Potenzial eines Volkes, und von dem geistigen Potenzial sind in der modernen Welt die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft, die Höhe des Sozialprodukts und die politische Stellung abhängig« (S. 26). Er bedauerte auch nachdrücklich, dass »im Jahr 1961 nur 6,2 Prozent der Studenten einen Arbeiter zum Vater hatten« (S. 35). Er vermisste einen Planungsapparat (S. 60 f.) und schlug die Einrichtung eines Bundeswissenschaftsministeriums mit einer Planungsabteilung vor (S. 63). Das »Kardinalanliegen« für Picht war allerdings die Verdoppelung der Abiturientenzahl (S. 65 ff.). Ralf Dahrendorf erreichte mit seiner Publikation, ebenfalls zuerst in einer Wochenzeitung, dann als Buch mit dem Titel »Bildung ist Bürgerrecht (1965)« erschienen, vergleichbar große Publizität. Ihm ging es im Wesentlichen um den Abbau sozialer, geografischer und geschlechtsspezifischer Ungleichheit.

Es entstanden in der Folge die Forderung nach mehr Chancengleichheit und die studentische »Aktion Bildungswerbung«, die Gesamtschul- und Ganztagsschulbewegung und die Trennung der Volks- in Grund- und Hauptschule. Der Begriff des Curriculum und der Curriculumreform, bislang in Deutschland unbekannt, kam auf (Robinsohn 1967). 1966 erfolgte die Gründung des Deutschen Bildungsrats, der 1970 den »Strukturplan für das Bildungswesen« veröffentlichte, in dem es hieß: »Der Strukturplan setzt einen besonderen Akzent …, insofern hier das Bildungswesen als Einheit betrachtet und vom Gesamtzusammenhang her eine Verbindung des Systems und der Bildungswege vorgeschlagen wird: Einige Empfehlungen, die im Strukturplan angesprochen werden, sind von grundlegender Bedeutung; sie betreffen den Ausbau der vorschulischen Erziehung, die Gleichrangigkeit der Schullaufbahnen im Sekundarbereich, die Teilnahme aller Fünf- bis Fünfzehnjährigen an vollzeitschulischen Bildungsveranstaltungen, die Einheit von theoretischer und praktischer Bildung« (S. 28).

1965 begann das »Max-Planck-Institut für Bildungsforschung« in Berlin seine Arbeit und 1973 wurde die Arbeitsstelle, später »Institut für Schulentwicklungsforschung« in Dortmund gegründet. Die »empirische Wende« der Schulreform begann also viel früher als das Jahrzehnte später behauptet wurde, wie auch die zahlreichen wissenschaftlichen Expertisen zeigen, die vom Bildungsrat eingeholt wurden, wobei der Band »Begabung und Lernen« (Roth 1968), von Heinrich Roth herausgegeben, am Eindrucksvollsten war. Auch war Schulmanagement schon ein Thema, wie 1970 die Gründung der Zeitschrift »Schulmanagement« zeigt. Der Sozialisationsbegriff begann seine Karriere als zentrale Kategorie von Bildungsforschung und Erziehungswissenschaft (Rolff 1967).

Bemerkenswert ist: Schulleitung war ganz und gar kein Thema.

Um 1975: Bildungsplanung und ideologische Polarisierung


In der Folge gab es ein Jahrzehnt lang eine breite öffentliche Reformdebatte, aber kaum konkrete Reformen. Allerdings wurde ein Planungsapparat aufgebaut, der sich auf alle Ebenen der Schulpolitik erstreckte. 1972 wurde das »Bundesministerium für Forschung und Technologie« gegründet, Baden-Württemberg, Hamburg und Berlin richteten als erste Länderministerien Planungsabteilungen ein und die Kommunen wurden von etlichen Kultusministerien zur Erstellung von kommunalen Schulentwicklungsplänen aufgefordert. 1970 startete eine »Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung« (BLK) mittels eines Verwaltungsabkommens. Damit entstand erstmals ein von Bund und Ländern gemeinsam getragenes Planungsgremium für den Bildungsbereich mit einer konkreten Aufgabenstellung. 1975 kam die Forschungsförderung als zusätzliche Aufgabe hinzu, sodass der Name ab 1976 in »Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung« ergänzt wurde.

1973 hat die BLK einen »Bildungsgesamtplan« verabschiedet, der eine langfristige Rahmenplanung inklusive der Berechnung eines entsprechenden Finanzbedarfes enthielt. Er entwarf ein Gesamtkonzept für den Ausbau des Bildungswesens der Bundesrepublik. Er kann als Weiterentwicklung des Strukturplans des Bildungsrats angesehen werden.

Dabei gab es jedoch zwei große Probleme: Zum einen waren die in drei wesentlichen Punkten (Gesamtschule, Orientierungsstufe, Lehrerbildung) entgegengesetzten Positionen von SPD und CDU/CSU nicht zu vereinen, zum anderen wollte die BLK die Bildungsaufgaben als festen Anteil des Bruttosozialproduktes in ihren Planungen festschreiben, wogegen sich Finanzpolitiker aller Parteien in Bund und Ländern sträubten.

Im Jahre 1982 legte die BLK einen Entwurf zu einem zweiten Bildungsgesamtplan vor, der von Finanzpolitikern ebenfalls »als nicht finanzierbar« abgelehnt wurde. Die BLK verlor daraufhin die entsprechenden Zuständigkeiten und wurde 1983 deutlich verkleinert und 2006 mit der Föderalismusreform (»Kooperationsverbot«) aufgelöst.

Mit der durch den Begriff Strukturplan unvermeidlichen Strukturdebatte kam eine Ideologisierung der Schulreform in Gang, die bis heute anhält. Sie fokussierte sich auf den erst zu dieser Zeit ins Spiel gekommenen Begriff der Chancengleichheit. Chancengleichheit ist also ein Begriff der Zeitgeschichte. Er kam erst mit der Thematisierung des deutschen Bildungsnotstandes und den damit zusammenhängenden Überlegungen zur Ausschöpfung von sogenannten Begabungsreserven in die öffentliche Diskussion. Die SPD forderte »Gleiche Bildungschancen für alle«. Willy Brandt erklärte auf dem Dortmunder Parteitag von 1966: »Gleiche Chancen, nicht zuletzt gleiche Bildungschancen, und alles, was darüber hinaus zur Demokratisierung gehört …, dazu bekenne ich mich … mit Nachdruck.«

Obwohl Chancengleichheit später gern als »SPD-Begriff« bezeichnet wurde, verwendeten während dieser Zeit auch CDU/CSU-Politiker und eher als konservativ einzuordnende Zeitungen den Ausdruck Chancengleichheit, ohne ihn zu problematisieren.

Beispielsweise forderte die »Rheinische Post« Chancengleichheit »als Anspruch des freien Menschen auf die (gleiche) Chance« (27. 11. 1964). Das »Handelsblatt« vom 2. August 1964 schrieb: »Der Trend zur Verwirklichung der Chancengleichheit hat sich in unserem Schulwesen noch nicht durchgesetzt […]. Wir sind rückständig, weil wir belastet sind mit allzu vielen Relikten einer ständischen Vergangenheit«; und im » Münchner Kurier« (4. 12. 1964) forderte der bayerische CSU-Kultusminister Ludwig Huber die »Chancengleichheit der Land- mit der Stadtbevölkerung« (Stötzel/Wengeler 1995, S. 180).

Die Empfehlung des Deutschen Bildungsrats von 1969 zu Schulversuchen enthielt ein ganzes Kapitel mit der Überschrift »Größere Chancengleichheit«. Die Bundesregierung veröffentlichte den »Bildungsbericht ‘70«, in dem es im Kapitel über »Allgemeine Grundsätze für die Reform des Bildungswesens« hieߨ: »Der Verfassungsgrundsatz der Chancengleichheit muss durch eine intensive und individuelle Förderung aller Lernenden in allen Stufen des Bildungssystems verwirklicht werden« (Bundesminister für Bildung 1970, S. 9). Individuelle Förderung war also auch schon ein Thema.

Chancengleichheit präsentierte sich in den...

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