Gerade im Zusammenhang mit atomarer Kriegsführung machen sich die Beteiligten gerne Illusionen. Alvin Graves war der wissenschaftliche Direktor der Atombomben-Testprogramme des amerikanischen Militärs in den frühen 1950er Jahren. Er war derjenige, der den direkten Einsatzbefehl zum Zünden der katastrophalen ersten Wasserstoffbombe Castle Bravo gab, die wir schon in der Einführung erwähnt haben. Kein anderer Mensch auf der ganzen Welt hätte die Risiken, die von radioaktiver Strahlung ausgehen, besser einschätzen können als Graves. Graves war einer von jenen acht Männern, die 1946 in dem Werkraum des Laboratoriums des damals hochgeheimen Kernforschungszentrums Los Alamos anwesend waren, als ein junger Physiker namens Louis Slotin dort ein riskantes Experiment durchführte, das der später weltberühmte Physiker Richard Feynman als »den Drachen am Schwanz kitzeln« bezeichnete. (Slotin war derjenige, der im Jahr zuvor den Kern der ersten Atombombe, der Hiroshima-Bombe, montiert hatte.) Slotin wollte seinen Kollegen zeigen, wie sich Plutonium verhält, wenn man es mit Beryllium zusammenbringt. Plutonium ist die wichtigste radioaktive Substanz in Atombomben. Dabei waren zwei Halbkugelschalen aus Beryllium um einen Plutoniumkern angeordnet. Slotin wollte die Halbkugelschalen so dicht zusammenbringen, dass eine Kettenreaktion ausgelöst wurde. Beryllium reflektiert die Neutronen und verstärkt so die Kettenreaktion. Als Slotin die Berylliumschalen einander annäherte, setzte die Kettenreaktion auch ein und verstärkte sich – wie erwartet. Rein von der Handhabung her handelte es sich allerdings um ein gewagtes Experiment. Falls die beiden Halbkugelschalen aus Versehen einander zu nahe kämen, konnte es zu einer unkontrollierten Kettenreaktion und damit zum Austritt von Strahlung kommen. Der damals 36-jährige Slotin war zwar ein erfahrener Experimentator, aber zum Auseinanderhalten der beiden Berylliumschalen verwendete er nur seine linke Hand, mit der er die eine Halbschale mittels eines Daumenlochs im Griff hatte, und mit der rechten Hand lediglich einen flachen Schraubenzieher, mit dessen Hilfe er die beiden Schalen noch auf Abstand hielt. Dabei rutschte der Schraubenzieher aus Versehen aus dem Spalt, die beiden Halbschalen krachten aufeinander, wodurch prompt eine überkritische Reaktion ausgelöst wurde. Die acht Physiker im Raum wurden mit einer gefährlich hohen Strahlendosis verseucht. Slotin hatte zwar aufgrund eines Hitzestoßes die linke Hand unwillkürlich nach oben gerissen und die beiden Berylliumschalen wieder getrennt und dadurch auch die Kettenreaktion beendet. Aber er hatte die mit Abstand höchste Strahlendosis abbekommen und starb neun Tage später im Krankenhaus. Die übrigen Anwesenden konnte sich zunächst von der Strahlenkrankheit wieder erholen, aber einige starben recht jung an Krebs oder anderen Krankheiten, die vermutlich durch die Strahlenverseuchung ausgelöst wurden. Wie konnten so kluge und erfahrene Leute sich so dämlich anstellen?
Natürlich kommt es immer wieder zu Unfällen, das ist der Lauf der Welt. Jeder hat sich schon einmal aus Versehen in den Finger geschnitten oder beim Zuwerfen der Autotür die Hand oder den Fuß von einem Mitfahrer eingeklemmt. Aber man würde doch annehmen, dass eine Gruppe von erfahrenen Experimentalphysikern über geeignetere Vorsichtsmaßnahmen verfügt als einen Schraubenzieher in der Hand, um sich vor tödlicher nuklearer Strahlung zu schützen. Slotins Kollegen sagten hinterher auch aus, dass es im Labor geeignete Sicherheitsvorkehrungen und Sicherheitsmaßnahmen für derartige Elemente mit Plutonium gab, die Slotin durchaus kannte. So wurden normalerweise sogenannte Distanzstücke angebracht, die die Berührung der beiden Halbkugeln verhindern, und es gab auch eine Mechanik auf Schienen, mit der man das Beryllium langsam an das Plutonium heranschob. Warum war Slotin so leichtsinnig? Wir nehmen an, dass er bei seinem Experiment derselben Illusion erlag wie wir alle, wenn wir glauben, wir hätten eine Sache im Griff und verstehen genug davon, obwohl das in Wirklichkeit gar nicht der Fall ist. Die Überraschung, die der junge Physiker erlebt hat, unterscheidet sich kaum von der Überraschung, die wir erleben, wenn wir einen tropfenden Wasserhahn reparieren wollen und das Ganze mit einer Überschwemmung im Bad endet. Oder wenn Sie Ihrer Tochter bei den Mathe-Hausaufgaben helfen wollen, bei Quadratgleichungen aber auch schnell mit Ihrem Latein am Ende sind. So kommt es ziemlich oft vor, dass wir voller Selbstvertrauen eine Sache anpacken und Bescheid zu wissen glauben, »wie die Dinge laufen«; oft ist dieses Selbstvertrauen am Ende einigermaßen erschüttert.
Handelt es sich bei diesen Fällen um willkürliche oder gar gezielt ausgesuchte Beispiele oder kann man hinter solchen Ereignissen irgendeine Systematik erkennen? Neigen wir Menschen generell dazu, unsere Kenntnisse zu überschätzen? Ist unser Wissen viel oberflächlicher und ungenauer, als wir selbst meinen? Mit diesen Fragen hat sich der Kognitionswissenschaftler Frank Keil eingehend beschäftigt. Er forschte längere Zeit an der renommierten Ivy-League Privatuniversität Cornell im amerikanischen Bundesstaat New York, bevor er 1998 an die Yale-Universität in Connecticut berufen wurde. Schon an der Cornell-Universität hatte er sich intensiv mit den Mutmaßungen beschäftigt, die die Menschen haben, wenn sie sich erklären wollen, warum etwas funktioniert hat und warum nicht. Es zeigt sich bald, dass diese ganzen Mutmaßungen und Theorien ziemlich oberflächlich und unzulänglich waren, aber zunächst kam er nicht weiter. Denn es gelang ihm nicht, eine wissenschaftlich zuverlässige Methode zu entwickeln, mit der sich messen lässt, was die Menschen tatsächlich wissen, im Vergleich zu dem, was sie zu wissen meinen. Die verschiedenen Untersuchungsmethoden, die er zunächst anwandte, nahmen entweder zu viel Zeit in Anspruch, erwiesen sich als zu unsicher in der Bewertung oder führten dazu, dass die Teilnehmer die Dinge bei ihren Angaben schönten. Aber dann hatte er eine Erleuchtung und entwickelte eine Methode, die er Illusion of Explanatory Depth, kurz IoED nannte (Selbsttäuschung über das Erklärungsvermögen). Bei dieser Untersuchungsmethode traten die bisherigen Probleme nicht mehr auf: »Ich erinnere mich noch genau, wie ich zu Hause unter der Dusche stand und mir dabei die gesamte Versuchsanordnung der IoED einfiel, während mir das Wasser – zugegeben – länger als sonst über den Rücken lief. Ohne Frühstück raste ich sofort mit dem Wagen in die Uni und schnappte mir meinen Mitarbeiter Leon Rozenblit, mit dem ich schon seit Längerem über Arbeitsteilung beim Erkenntnisgewinn forschte; wir fingen sogleich damit an, die Eckpunkte meiner neuen Methode festzuhalten, und dann ging es an die Ausarbeitung der Einzelheiten.«
Damit war eine Methode erfunden, wie sich der Grad von Nichtwissen messen lässt, indem man die Teilnehmer einfach bittet, etwas Beliebiges zu erklären, und bewertet, wie diese Erklärung deren Beurteilung des eigenen Verständnisses beeinflusst. Wenn Sie einer von den vielen Menschen wären, die Keil und Rozenblit anschließend in ihren Untersuchungsreihen getestet haben, dann wären Ihnen unter anderem folgende Fragen gestellt worden:
Geben Sie auf einer Skala von 1 bis 7 an, wie genau Sie wissen, wie ein Reißverschluss funktioniert.
Wie funktioniert ein Reißverschluss? Beschreiben Sie so detailliert wie möglich, wie ein Reißverschluss schließt.
Wenn Sie, wie die meisten von Rozenblits und Keils Probanden, nicht gerade zufällig in einer Reißverschlussfabrik arbeiten, dann haben Sie aller Wahrscheinlichkeit nach als Antwort auf die zweite Frage nicht viel beizutragen. Sie wissen einfach nicht, wie der Mechanismus eines Reißverschlusses funktioniert. Dann beantworten Sie die dritte Frage:
- 3.
Geben Sie noch einmal auf einer Skala von 1 bis 7 an, wie genau Sie wissen, wie ein Reißverschluss funktioniert.
Jetzt werden Sie bei der Angabe dieser Skalenzahl vermutlich etwas bescheidener sein. Nachdem sie aufgefordert wurden, die Funktionsweise eines Reißverschlusses genau zu erklären, werden die meisten Menschen einsehen, dass sie davon wenig bis keine Ahnung haben, und begnügen sich mit einer Angabe von eins oder zwei.
Dieses Beispiel zeigt sehr schön, wie wir alle im Hinblick auf unser Wissen in einer Illusionsblase leben. Bei der ersten Selbsteinschätzung gaben die Probanden an, besser zu wissen, wie ein Reißverschluss funktioniert, als sie es tatsächlich taten. Wenn sie ihre Kenntnisse...