Teestunde mit Micha
Ob ich noch irgendetwas dabeihabe – «Schlüssel, Handy, Waffen?», fragt mich der uniformierte Beamte in gelangweiltem Ton, nachdem ich die Panzerglasschleuse passiert habe. Ich verneine, wie schon zuvor auf die gleiche Frage des Pförtners.
Der Beamte beginnt, mich abzutasten.
«Wir kennen Sie ja noch nicht!», nuschelt er halb vorwurfsvoll, halb entschuldigend.
Schließlich lässt er mich durch, eine automatische Tür öffnet sich zum Innenhof. Die Sonne steht schon hoch am Himmel. Der Hof wirkt verwaist. Ich gehe auf den Vorplatz zu, vorbei an einem Schaukasten, in dem von einem lieben Kollegen Abschied genommen wird. Der Justizbeamte auf dem Foto lächelt in die Kamera – viel zu jung verstorben.
Links das Gebäude mit der sozialpädagogischen Abteilung, rechts das sogenannte «Sprechzentrum», in dem Häftlinge Besuch empfangen können. Ich gehe an der Anstaltsküche vorbei, auf die Kirche am Ende des Platzes zu. An sich ein hübscher roter Backsteinbau, wenn man von der beklemmenden Umgebung absieht. Ich warte vor der verschlossenen Pforte. Nach ein paar Minuten öffnet ein Justizbeamter das eiserne Tor: «Sie wollen zu Haus 6?»
Ich bejahe, wedle mit meinem Passierschein. Er lässt mich ein, schließt hinter mir ab, öffnet krachend die nächste Tür. Metall schlägt auf Metall, laut fällt eine Tür nach der anderen wieder ins Schloss, kaum dass wir sie passiert haben. Wir betreten den nächsten Innenhof. Rundherum Backsteinbauten, die Fenster vergittert, Stacheldraht auf den Dächern, an den Fallrohren. Es geht vorbei an Teilanstalt 2, Teilanstalt 3, riesigen Haftgebäuden, und der anschließenden kleinen Gärtnerei, einem der anstaltseigenen Betriebe, zu Haus 6.
Ich bin etwas aufgeregt. Schließlich lerne ich heute den Häftling kennen, den ich zukünftig als ehrenamtlicher Vollzugshelfer betreuen soll, falls wir «miteinander klarkommen». Bisher weiß ich nicht viel über ihn. Er ist in meinem Alter, rechtsextreme Vergangenheit, Drogenkarriere, inzwischen auf Methadon, hieß es. Und er ist zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden, wegen eines Mordes. Lebenslänglich, das heißt in seinem Fall: Er sitzt schon seit vierzehn Jahren und wird wohl auch noch ein paar Jahre sitzen.
Frau Müller, die Sozialarbeiterin, erwartet mich bereits. Sie steht unten am Eingang, an ihrer Seite ein kleiner, lächelnder Asiate, mit Putzzeug bewaffnet, der mich verlegen angrinst. Später werde ich erfahren, dass er auch ein «LLer», ein Lebenslänglicher, ist. Dieser schüchtern wirkende Mann war Auftragsmörder der vietnamesischen Zigarettenmafia. Wie viele Menschen er auf dem Gewissen hat, wird man wohl nie erfahren. Frau Müller erklärt, indem sie auf den immer noch lächelnden Asiaten zeigt, er hätte noch einen Mülleimer zu leeren, wir müssten ihn «nur kurz» begleiten. Also marschieren wir drei gemeinsam zurück, an der Gefängnismauer entlang, vorbei an der Gärtnerei, auf ein graues Gebäude zu.
«Jetzt sehen Sie dafür etwas, das Vollzugshelfer gewöhnlich nicht zu sehen bekommen», meint Frau Müller entschuldigend, während sie die zahlreichen Türen öffnet und hinter uns wieder schließt, bis wir vor unserem Ziel angekommen sind: das Familienbesuchszimmer, der sogenannte «Langzeit-Sprecher». Hier können sich Langzeithäftlinge – gute Führung vorausgesetzt –, nachdem sie die ersten zwei Jahre abgesessen haben, mit Frau und Kindern in «ungezwungener Atmosphäre» einmal im Monat treffen, bis zu drei Stunden lang. Das mit der «ungezwungenen Atmosphäre» mag man so oder so sehen, der Anblick ist jedenfalls ernüchternd: In der Mitte des schmucklosen Raumes ein Tisch und zwei Stühle, Modell 70er Jahre Jugendherberge, ein Regal mit ein paar abgegriffenen Plüschtieren, Bauklötzen und einer Handvoll ausgelesener Kinderbücher. In der Ecke ein großes Ehebett mit abwischfreundlichem Vollplastik-Überzug. Darüber ein großer Alarmknopf.
«Der wurde letztes Jahr mal wieder genutzt», erklärt Frau Müller auf meinen fragenden Blick hin, «ein Häftling hatte seine Ehefrau gewürgt, ging aber noch mal gut.»
Dann ein kleines Bad mit Dusche und WC, und natürlich Gitterfenster. Unser asiatischer Begleiter geht seiner Pflicht nach, leert einen Papierkorb in der Ecke, dann wird sorgfältig wieder abgeschlossen, und wir machen uns auf den Rückweg zu Haus 6.
Dort, beim Pförtner, sitzt ein Mann, der sich nun erhebt, offensichtlich hat er schon auf uns gewartet. Unsicher lächelnd steht er vor mir. Wir werden einander vorgestellt, geben uns die Hand. Frau Müller fragt höflich, ob sie sich noch zu uns setzen soll, was wir beide spontan ablehnen.
«Nicht nötig», sagen wir beinahe gleichzeitig.
Der Konversationsraum ist eine karge kleine Zelle. Ein Tisch am Fenster, zwei Stühle. An der Wand hängen zwei Collagen, offenbar das künstlerische Werk von Inhaftierten: nicht definierbare geometrische Figuren in Blutrot auf dunkelrotem Untergrund.
Einen Alarmknopf gibt es nicht, der sei auch nicht nötig, hatte der Justizbeamte den angehenden Vollzugshelfern vor ein paar Wochen erklärt. Weil der Vollzugshelfer für viele Häftlinge die einzige Verbindung nach draußen wäre, sei keinerlei Gefahr zu erwarten. «Die wissen schon, was sie an Ihnen haben», hatte der Mann erläutert, und sollte ein Häftling einem Vollzugshelfer etwas antun, habe er nicht nur die entsprechenden juristischen Konsequenzen zu erwarten, sondern auch die seiner Mithäftlinge, denn «die haben hier drin noch mal ihre eigene Justiz». Lächelnd hatte er hinzugefügt: «Und das wissen sie auch sehr genau.» Klingt logisch, denke ich – aber handeln Menschen immer logisch, insbesondere solche, die hier drin sind?
Micha sitzt mir nun gegenüber, wir sehen uns schüchtern an. Sein Äußeres hat etwas Furchteinflößendes: stämmige Figur, die Arme großflächig tätowiert, ebenso der Nacken. In seinem T-Shirt-Ausschnitt sind weitere Tattoos zu sehen, auf den Handknöcheln stehen die Worte «Skin» und «Hass», in Großbuchstaben. Selbst auf der Kopfhaut schimmert ein großes, flammenartiges Tattoo unter den kurzen dünnen Haaren. Doch am meisten fallen mir seine Augen auf: die Pupillen nur stecknadelgroß, starrer Blick.
Er sagt, dass er sich freut, mich kennenzulernen, und unter seinem martialischen Äußeren scheint kurz etwas Jungenhaftes auf – oder täusche ich mich? Dann meint er überraschenderweise, dass wir uns schon mal gesehen hätten.
Ich wundere mich kurz. Kennt er mich eventuell aus dem Fernsehen? Dann fällt es mir wieder ein: Bei der Gefängnisführung vor ein paar Wochen, als den künftigen Vollzugshelfern die Anstalt vorgestellt wurde, hatte man uns auch zwei Zellen gezeigt: Die Häftlinge hatten uns einen Blick in ihre Privatsphäre gestattet – es war ein beklemmender Augenblick, in einen Acht-Quadratmeter-Raum zu treten, der die komplette Intimsphäre eines Menschen darstellt. Als ich dann, etwas peinlich berührt, wieder herausgetreten war, hatte Micha mich aus seiner offenen Zelle gegenüber angesehen. Unsere Blicke trafen sich, und es hatte mich kurz durchzuckt: Sein Aussehen hatte mich erschreckt, gleichzeitig fühlte ich mich wie ein «Gefängnistourist».
Jetzt ist die Situation eine andere: Wir sitzen uns gegenüber, und ich spüre, dass dieser Mann, der laut Sozialarbeiterin während der vergangenen vierzehn Jahre Haft Vater, Mutter und Bruder verloren hat, sehr dankbar ist, dass ich hier bin.
Er gießt aus einer mitgebrachten Thermoskanne heißes Wasser in meinen Becher. Ich reiße das Päckchen Instantkaffeepulver auf, das er mir reicht, und schon redet Micha munter drauflos: wie froh er ist, dass Frau Müller ihm so schnell «jemand Neues» besorgt hat, nachdem seine vorherige Vollzugshelferin ins Ausland gegangen war. Was für ein harter Schlag das für ihn war, der ihn erst wütend machte, aber irgendwann hätte er es natürlich verstehen können. Ich bin überrascht, wie unverklemmt und locker dieses Gespräch zwischen zwei völlig Fremden beginnt, die sich unter anderen Umständen wohl nie begegnet wären.
Micha beginnt zu erzählen: wie wichtig es für einen Inhaftierten ist, «mal was über die Welt da draußen» zu erfahren. Zu hören, wie sich alles verändert hat in diesen vierzehn Jahren, mit Handy, Internet, Computern und so. Und er erzählt von seiner ersten Ausführung, die unter schweren Sicherheitsvorkehrungen vor gar nicht langer Zeit stattfand. Das heißt: Mit Hand- und Fußfesseln und in Begleitung zweier Beamter ging es mit dem Taxi zu EXIT, einem Verein für rechtsextreme Aussteiger, quer durch die Stadt. Wie erschöpft und froh er war, nach all den ungewohnten Eindrücken, den Lichtern, dem Lärm und dem Verkehr, am Abend wieder in seiner Zelle zu sein. Er erzählt von der Macht der Gewohnheit, der Eintönigkeit und wie manche «Kollegen» auch gar nicht mehr rauswollen.
Angekündigt worden war mir dieser Mann als «sehr einfach». Nun, wo er vor mir sitzt und redet, stelle ich fest: Ich höre Micha gerne zu. Manchmal frage ich nach, und er antwortet freimütig, mit überraschender Offenheit. Ich hatte alles Mögliche erwartet, aber nicht, dass ich ihm und seiner fremden Welt gespannt zuhören könnte, dass ich von Anbeginn an das Gefühl habe, ein interessantes und intensives Gespräch zu führen.
Schnell stoßen wir auf eigenartige Parallelen: Micha erzählt, dass er vor seiner Inhaftierung auch einmal in Potsdam gewohnt hat. In derselben Straße, nur drei Häuser weiter, in der auch ich anfangs mit meiner Familie lebte, als wir vor zehn Jahren nach Potsdam gezogen waren. Die...