Kapitel 2
Wir sind nicht allein –
Wer anderen hilft, hilft sich selbst
Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern dass man nie beginnen wird, zu leben.
Marcus Aurelius
Was mich der plötzliche Tod lehrte
»Ich bin so wütend. Ich werde nicht zu deinem Geburtstag kommen. Ich hasse dich.« Dabei betonte ich jedes einzelne Wort. Und beendete das Telefonat. Meine letzten Worte an meinen Vater. Wir hatten nur wenige Worte gewechselt, es ging um die Gestaltung seines Geburtstags, da merkte ich an seiner Stimme: Er hatte wieder getrunken. »Verdammt!« Ich spürte, wie eine kalte Wut in mir aufstieg.
Jeder, der mit einem Menschen mit einem Alkoholproblem zusammengelebt hat, kennt diese Wachsamkeit und Aufmerksamkeit, das Misstrauen gegenüber den Ablenkungs- und Beschwichtigungsmanövern, die erst versteckte, dann aggressive Kontrolle, dahinter die Wut und die Angst. Man achtet einfach auf alles. Man achtet genau darauf, wie der andere blickt, wie er sich bewegt, wie er redet, man passt auf, ob er irgendwohin verschwindet, um heimlich etwas zu trinken – das ist wie ein Scan-Programm, das ganz automatisch abläuft.
»Du hast wieder getrunken«, sagte ich.
»Nein.«
»Mach mir nichts vor. Ich kenne dich inzwischen. Und ich weiß ganz genau, wie die Symptome sind. Du hast es mir versprochen.«
»Ich hab nichts getrunken, mein Liebchen.«
Das war gelogen. Und ich wusste, was es bedeutete. Wenn er an diesem Tag getrunken hatte, würde er auch am folgenden Tag trinken. Und am übernächsten auch. Er würde seinen kompletten Geburtstag im Alkohol ertränken. Es wäre wahnsinnig anstrengend, die Gäste bei Laune zu halten. Und meine Mutter wäre einmal mehr außer sich vor Zorn.
Schon in der ersten Nacht, nachdem man ihn tot aufgefunden hatte, als meine Mutter endlich schlief und ich als Einzige wach im Bett lag, schoss mir der Gedanke durch den Kopf: »Er ist gestorben und hat gedacht, dass du ihn hasst.« Mein inneres Gericht tagte. Der Staatsanwalt war mein Gewissen, ich war die Angeklagte, die Verteidigung hatte Verspätung, der Straftatbestand war Unbarmherzigkeit.
Natürlich gab es keinen Hinweis, in welchem Zustand sich mein Vater befunden hatte, was er kurz vor seinem Tod noch mitbekommen, was er gedacht und gefühlt hatte, ob ihm überhaupt bewusst gewesen war, dass er im Sterben lag, oder ob der Tod auch für ihn ganz plötzlich eingetreten war. Aber wenn er an mich gedacht hat, wenn er in diesem kurzen Augenblick des Sterbens überhaupt noch an etwas denken konnte – was ja durchaus möglich ist –, wie sehr muss es ihn dann geschmerzt haben, dass ich ihn hasste?
Meinen letzten Worten an ihn war eine längere Geschichte vorausgegangen. Ich arbeitete seit einem knappen halben Jahr als Psychologin in einem Wohnheim für mittellose und obdachlose Frauen und war dort für sechsundfünfzig Frauen zuständig. Wir hatten eine Aufnahmestation, eine sogenannte Resozialisierungsstation und eine Vollversorgungsstation. Natürlich gab es sehr viele Fälle von alkohol- und drogenabhängigen, psychisch sehr kranken Frauen. Mit den Klientinnen hatten wir zu diesem Zeitpunkt gemeinsam mehrere »therapeutische Wochenenden« durchgeführt. Das war in den Siebzigerjahren sehr in Mode. Es bedeutete, die schwer abhängigen Frauen verbrachten das Wochenende mit einem Suchttherapeuten, und das Team nahm daran aktiv teil.
Bei einer dieser Wochenend-Sessions bekam ich eine Ahnung davon, wie sich Sucht anfühlen muss. Ich wurde Zeugin der beiden folgenden Szenen.
Eine alkoholabhängige Frau und eine tablettenabhängige Frau sollten glaubhaft machen, inwieweit sie wirklich bereit waren, ihr Leben zu ändern und künftig auf ihre Suchtmittel zu verzichten. Lippenbekenntnisse waren das eine. Wie oft hatten wir es von ihnen gehört: »Ich schwöre, nie wieder trinke ich einen Tropfen Alkohol!« – »Nie wieder rühre ich die Tabletten an, bestimmt nicht!« Das zu sagen war einfach. Es in den Alltag umzusetzen, Taten, waren das andere.
Der alkoholkranken Frau gab der Suchtherapeut eine Flasche Korn in die Hand. In unserem Raum befand sich ein Waschbecken. Sie sollte nun die Flasche nehmen, zum Waschbecken gehen und den Inhalt bis auf den letzten Tropfen ausleeren. Der tablettenabhängigen Frau gab man einen Mörser. Sie sollte die Tabletten in die Schale füllen, sie mit dem Mörser zerstampfen und das Tablettenmehl anschließend über dem Becken ausspülen.
»Wo ist das Problem?«, dachte ich zunächst. Was sich mir dann bot, erschreckte mich zutiefst. Am Anfang dachte ich, die Frauen machen sich einen Spaß mit uns. Die alkoholsüchtige Frau ging zum Waschbecken, hielt die Flasche in der Hand, schaute im Wechsel zur Flasche, in unsere Richtung, zum Abfluss.
Um es gleich zu sagen: Sie hat es nicht geschafft. Sie konnte den Schnaps nicht in den Abfluss gießen. Die Szene trug groteske Züge, das Ganze zog sich über fast eine halbe Stunde hin. Das gleiche Spiel mit den Tabletten. Die Patientin war nicht in der Lage, das zerstampfte Tablettenmehl unter das laufende Wasser zu halten und das Ganze ins Becken zu spülen.
Mir fiel später ein, wie häufig ich zu meinem Vater gesagt hatte: »Papa, tu’s für mich!« Wenn er derart an seiner Flasche festhielt, dann hieß das für mich: Er liebte den Alkohol mehr als mich. Dieser Schluss war falsch. Es geht nicht um Liebe. Der Süchtige braucht den Stoff, er liebt ihn nicht. Es ist wie mit der Luft. Man liebt sie nicht, aber man braucht sie.
Reden, reden, reden
Ich hatte mich an den Suchttherapeuten aus unserer Einrichtung gewandt und ihn um Rat gebeten. »Die Behandlung eines Anfallstrinkers ist natürlich besonders schwierig«, erklärte er mir. Der Anfallstrinker könne sich lange in der Illusion wähnen, er sei gar nicht abhängig, er könne auch ohne Alkohol auskommen. Aber der Suchttherapeut war bereit, mir zu helfen und mit meinem Vater ein Gespräch zu führen. Ich war froh über das Angebot, es ließ mich hoffen.
»Jetzt kannst du beweisen, dass du wirklich mit dem Trinken aufhören willst«, erklärte ich meinem Vater, als er das nächste Mal voller Reue schwor, nie wieder trinken zu wollen. Ich gab ihm die Telefonnummer und forderte ihn auf, einen Termin zu vereinbaren. »Wenn du das jetzt nicht schaffst«, sagte ich ihm, »dann schaffst du es nie.« Mein Vater blickte auf den Zettel mit der Telefonnummer, als wäre sie irgendwie schwer zu entziffern. Aber er sagte nichts dazu. Vermutlich wusste er, dass ich recht hatte. »Bitte, Papa, du musst diese Chance ergreifen, sonst ist es zu spät«, beharrte ich.
Die Abstände zwischen seinen Trinkanfällen waren immer kürzer geworden. Außer uns gab es niemanden, der Druck auf ihn ausübte. Für meinen Vater war es nie ein größeres Problem, aus seinem Büro zu verschwinden. Das war sicher für ihn ein Vorteil als Mitglied des Betriebsrats. Er war viel unterwegs und daher nicht kontrollierbar. Soweit ich weiß, hat er sich am Arbeitsplatz auch nie betrunken – jedenfalls nicht deutlich sichtbar –, das hat er erst zu Hause oder auf dem Weg dorthin erledigt.
Das Alkoholproblem meines Vaters zeigte sich, als ich etwa elf Jahre alt war. Oder eher: Da wurde es für uns sichtbar. Mein Vater war drei Jahre auf Montage, ungefähr zwischen meinem achten und elften Lebensjahr. Er hatte in einem Abendlehrgang eine dreijährige Fortbildung zum Konstruktionsingenieur gemacht, damit den Blaumann, die wöchentliche Lohntüte und die Stechuhr gegen den grauen Kittel und das höhere soziale Prestige eines Angestellten mit einem monatlichen Gehalt eingetauscht, sehr zur Freude meiner Mutter. Die Männer verdienten deutlich mehr, wenn sie auf Montage waren. So war mein Vater oft auf Mallorca – immer dann, wenn die Baumaschinen der Klöckner-Humboldt-Deutz AG zum Bau von Fabriken eingesetzt wurden. Ich vermute, dass er und seine Kollegen sich in ihrer Einsamkeit mit Kartenspiel, Alkohol und Prostituierten getröstet haben.
Dass mein Vater sich in der Folge dieser langen Auslandsaufenthalte verändert hatte, das haben meine Mutter und ich erst später gemerkt, als er wieder zu Hause war. Die Entwicklung verlief schleichend. Als ich elf, zwölf Jahre alt war, begann der Tanz auf dem Vulkan: Wir wussten nie, wann er ausbrach bzw. wann mein Vater abstürzte. Es war nicht einschätzbar, sodass wir in ständiger Unruhe und Angst lebten.
Erst als Erwachsene wurde ich ihm gegenüber zunehmend härter, bis zu dem Punkt, dass ich sagte: »Ich hasse dich.«
Er bot keinen Widerstand, sondern wurde ganz klein, wenn ich ihn konfrontierte. »Du hast allen Grund, wütend zu sein, ich könnte mich ja selbst ohrfeigen.«
Totale Einsicht und voller Schuldgefühle. Was ihn nicht davon abhielt, drei, vier Wochen später wieder loszuziehen. »Du weißt, dass ich inzwischen etwas davon verstehe«, sagte ich zu ihm. »Du bist krank.«
Er wollte es nicht wahrhaben. Er dachte, er hätte es im Griff. Und sein Hausarzt hat ihm nicht nur Kuren gegen den vermeintlichen Stress verschrieben, er hat fatalerweise auch noch sein aufgeblähtes Herz auf den Sport zurückgeführt und ihm deshalb jedes weitere Training verboten. Obwohl mein Vater sehr gerne und sehr viel Sport trieb und das für seine seelische und körperliche Verfassung sicher sehr wichtig war und weiterhin gewesen wäre. Dieser Arzt hat nicht gesehen oder wollte nicht sehen, dass die erweiterten Herzklappen mit dem Alkoholkonsum in Verbindung standen. Dabei hätte man auch mit weniger medizinischem Sachverstand den Zusammenhang leicht herstellen können.
Es ist eigentlich ganz einfach. Alkohol lässt den Blutdruck ansteigen und bringt das Herz aus dem...