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E-Book

Was aus der Heimat wurde, während ich lange weg war

Eine Rückkehr nach Deutschland

AutorKarl Heinz Götze
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783104036830
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Der erfolgreiche Autor Karl Heinz Götze kehrt mit seinem neuen Buch »Was aus meiner Heimat wurde, als ich lange weg war: Eine Rückkehr nach Deutschland« in seinen Heimatort in der nordhessischen Provinz zurück. Von dort zog es ihn als jungen Mann zum Studium nach Frankreich - für ihn damals wie heute ein Land der Verheißungen. Nach 37 Jahren betrachtet er, unterdessen emeritierter Professor, diesen Erinnerungsort seiner Kindheit und Jugend, um das Wiedergefundene mit dem Heutigen zu konfrontieren. Wie hat sich das Leben der einst armen Familien verändert? Wie hat sich das Verhältnis zu Kindern, wie haben sich die Kindheiten verändert? Wie stand und steht es mit der Religion? Hat sich gar die Landschaft gewandelt? Karl Heinz Götze blickt unsentimental auf das, was wir Heimat nennen, eine Heimat, die man nicht austauschen und nicht umtauschen kann, die man braucht, aber in die zurück die Lebenskurve nicht führen muss, damit gelegentlich Glück sein kann.

Karl Heinz Götze, geboren 1947 in Hofgeismar, war Professor für deutsche Literatur und Zivilisation an der Universität Aix-en-Provence. Er hat Bücher über die Geschichte der Germanistik, über Böll, Koeppen und Weiss, über das heutige Frankreich und über die französische Küche veröffentlicht. Bei S. Fischer erschien zuletzt »Französische Affären« und »Les Chefs«. Seit 2015 pendelt er zwischen der Provence und Frankfurt.

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Leseprobe

Ortsbesichtigung


Eine Wiederbegegnung mit der Stadt der frühen Jahre

Wir kommen vom Süden, von Kassel her, auf der Umgehungsstraße. Wie die meisten. Im Osten liegt die Weser und liegen die Steigungen des Reinhardswalds. Dahinter eine gefühlte Tagesreise entfernt Göttingen. Was hätte Hofgeismar, die nordhessische Kleinstadt, schon mit Göttingen, der niedersächsischen Universitätsstadt zu tun? Oder mit dem westfälischen Warburg im Westen, wo man, wenn überhaupt, zur »Kierche« geht statt zur Kirche? Warburg gehört woanders hin, das merkt man schon am Akzent. Sicher, dahinter kommt irgendwann das Ruhrgebiet, aber noch nicht so bald, dazwischen sind viele Bäume. Und vom Norden kommt man schon längst nicht. Da liegt Bad Karlshafen und dann lange nichts in Richtung Hannover, Bad Karlshafen, bilderbuchschön, aber ökonomisch notleidend im nördlichsten Zipfel Hessens. Was sollte von dort kommen? Selbst die wenigen Radtouristen folgen abwärts dem Lauf der Weser. Was, wenn nicht gerade Hessentag ist, hätten sie in Hofgeismar zu suchen?

Wir kommen natürlich mit dem Auto. Um mit dem ICE zu kommen, hätten wir die Fahrkarte entweder bis Kassel-Wilhelmshöhe oder bis Göttingen lösen müssen. Aber von Göttingen kommt man nicht direkt weiter. Von Kassel-Wilhelmshöhe schon und ziemlich direkt, ungefähr jede Stunde.

Das ist die Strecke, die mein Vater »nach dem Krieg« bis zur Rente jeden Werktag fuhr. Damals natürlich nur bis zum ehemaligen Hauptbahnhof, jetzt als »Kulturbahnhof« unwichtig geworden, außer alle fünf Jahre bei der Documenta. Jedenfalls gilt immer noch, dass Hofgeismar ökonomisch vielfältig mit Kassel zusammenhängt, und so gehört der frühere Kreis Hofgeismar ja auch seit 1972 administrativ zum Landkreis Kassel.

Unser Auto muss, um nicht aufzufallen, schon der Mittelklasse zugehören. Nichts finden meine französischen Studenten, wenn sie vom Aufenthalt in Deutschland berichten, so auffällig wie die vielen großen, schnellen, schönen, unverbeulten und unzerkratzten Autos auf deutschen Straßen. Auf dem Land gilt das natürlich besonders. Hier kann man ohne Auto nur schwer auskommen. Und hier wird es nur verkratzt, wenn man die Kratzer selbst anbringt, nicht von bösen Buben mit einem scharfkantigen Schlüssel. Kein Auto zu haben ist hier nicht nur unpraktisch, sondern ein Armutszeichen. Und da fast alle eines haben, taugt es auch zur sozialen Einsortierung.

Auf dem Land? Kassel wäre Stadt, Hofgeismar läge auf dem Land, wäre Land? Wie triftig sind solche Unterscheidungen noch, wenn auf dem Land die Landwirtschaft kaum mehr eine Rolle spielt, wenn hier gewohnt und dort gearbeitet wird? Und dann ist Hofgeismar ja auch eine Stadt und stolz darauf. 1223 soll sie die Stadtrechte vom Mainzer Erzbischof erhalten haben. Die kleine Stadt macht auch nicht den Eindruck, ein Dorf zu sein, wie wir uns ein Dorf vorstellen. In meiner Kindheit war jedenfalls Hofgeismar die Stadt, und die Dörfer lagen drumherum: Sababurg, Beberbeck, Karlsdorf, Hombressen, Hümme, Kelze, Schöneberg, Friedrichsdorf. Die sind heute alle eingemeindet. Das mag verwaltungstechnisch sinnvoll sein, aber natürlich ist, wie anderen und höheren Orts auch, nicht zusammengewachsen, was vielleicht zusammengehören sollte. Jedenfalls ist seltsam, dass unsere Begriffe die wirklichen Siedlungsformen und die ihnen entsprechenden Lebensweisen kaum zutreffend abbilden: Klar, Berlin-Mitte ist Stadt; Hamburg um die Alster und in Sankt Pauli, das ist Stadt. Lokstedt oder Stellingen, das ist noch Hamburg, sicher, aber ist es Großstadt? Unsere Vorstellungen von dem, was ein Dorf ist, stammen häufig aus dem 19. Jahrhundert, in dem der Bauer noch die Rösslein einspannte und ringsum bis zum Waldsaum golden die Kornfelder wogten. Sie lassen sich in reiner Form in Deutschland kaum noch auffinden. Es gibt Dörfer, da wohnen fast nur noch Zugezogene aus der Stadt und kaum noch eine alteingesessene Familie. Es gibt aber auch Dörfer, da wohnt fast niemand mehr, weder Zugezogene noch Eingeborene.

Aber ein Dorf ist Hofgeismar eben nicht. »Ackerbürgerstadt« sagen die Historiker, und das ist, das war zumindest ein ziemlich zutreffender Ausdruck. Der Akzent lag auf »Acker«. Eine Stadt, umgeben und lebend von Ackerland. Nicht vom Handel, obgleich es an Anläufen nicht gefehlt hatte. Der berühmteste, das Projekt des Landgrafen Carl von Hessen-Kassel, die Weser bei Karlshafen zwecks Umschiffung der Braunschweigischen Zollrechte in Münden durch einen Kanal auf hessischem Terrain direkt mit Kassel und dann weiter mit der Lahn zu verbinden, scheiterte am Wassermangel erst der Diemel und dann vor Hofgeismar dem der Esse, des Flüsschens, über das wir als Kinder im Sommer an schmalen Stellen hüpften.

Die schönen Reste des angesichts der damaligen Möglichkeiten verrückten Projekts kann man noch besichtigen. Carls Nachfahre Friedrich II. von Hessen-Kassel hatte dann mehr Handelsglück mit dem Verkauf von 12000 Soldaten an Großbritannien, die als Söldner im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg Dienst taten, aber diesem Warenverkehr fehlte es schließlich an Nachhaltigkeit. Auch die Eisenbahn, im 19. Jahrhundert mit großen Hoffnungen und majestätischen Bahnhöfen zwischen Kassel, Hümme und Karlshafen errichtet, wartete vergeblich über gut ein Jahrhundert auf ökonomische Bedeutung, endete mangels Brücke in der Weser und ist heute ein hübscher Öko-Radweg. Ich weiß das deshalb, weil im Kleiderschrank meines Großvaters eine sorgfältig gebügelte blaue Uniform mit Epauletten und Kragenspiegeln hing, die ich bei besonderen Anlässen bewundern durfte. Er erhielt sie als königlich-preußischer Beamter und Bahnhofsvorstand der Bahnhöfe in Karlshafen, erst linkes Ufer, dann rechtes. Ja, Bahnhofsvorsteher waren damals noch etwas, zu der Zeit, als selbst die kleinen Bahnhöfe sich als mächtige Tempel des Fortschritts in Szene setzten.

Auch die Industrielle Revolution kam nur bis Kassel. Bis »zum Henschel«, wie man dort noch sagt, obgleich es Henschel nicht mehr gibt. Eine Industriestadt war Hofgeismar nie, wurde also auch keine Wüste der Deindustrialisierung. Aber wo sollte in dieser Stadt bürgerlicher Lebensstil herkommen? Den paar Bürgern klebte doch allemal Ackerkrume an den Stiefeln, die die einen stolz vorzeigten, die anderen leicht beschämt abwischten.

Beinahe hätten wir die Abfahrt verpasst, kurz nach dem Kelzer Teich, wo es früher immer so nach Abdeckerei roch. Das kommt daher, dass die Abfahrt neu ist, neu für mich. Hier kam immer (wir sind leicht zur Hand mit dem »immer«, das doch meist nur die eigene Lebenszeit meint) eine langgezogene Rechtskurve, dann eine knappe Linkskurve, eine kleine Steigung und dann sah man Hofgeismar in seiner Senke zwischen Reinhardswald rechts, geradeaus der Kette von Schöneberg, Westberg, Heuberg, links Kelzer Berg, Rosenberg, Messhagen. Das war nun wirklich fast schon immer so, immer schon ganz hübsch, vorzüglich im Sommerhalbjahr und vor allem für die, die nicht hier wohnen.

Verpasst hätten wir die Abfahrt beinahe deshalb, weil Hofgeismar seit drei Jahren eine Umgehungsstraße hat. Die B 83 führt jetzt in elegantem und schnellem Bogen um Hofgeismar herum. Der Fuß muss nicht vom Gas, die Straße ist glatt, eben, verläuft geschützt in einer begrünten Schlucht, ermöglicht gerade einen kurzen Blick auf das Gymnasium, wo ich Abitur gemacht habe, und dann ist es schon vorbei: Hofgeismar.

Später werde ich erfahren, dass die Hofgeismarer in der Frage, ob diese Umgehungsstraße eine gute Idee war, geteilter Meinung sind. Die einen sagen, die Stadt sei nun abgehängt und dem Fetisch des fließenden Verkehrs sei mit Verspätung und entgegen anderenorts gemachten Erfahrungen nun auch hier gehuldigt worden, die anderen verweisen darauf, dass die dicken Lastwagen, die durch die Stadt brummten, zu deren Wohlfahrt gewiss nicht beigetragen hätten. Man mag sich da als Fremder nicht einmischen. Ich wohne ja seit Jahrzehnten nicht mehr hier. Und ich müsste ja nicht sagen, dass ich ziemlich zufrieden bin damit, dass das letzte fehlende Stück der Umgehungsstraße zwischen Aix-en-Provence, wo ich lebe, und dem TGV-Bahnhof bzw. dem Flughafen nun endlich fertig ist und sich die alltäglichen Staus auflösen, obgleich da Quadratkilometer provenzalischer Landschaft planiert wurden.

Aber in einem bin ich mir sicher: Die Landschaft hier ist nicht mehr dieselbe wie die, die ich kannte: Sie ist nun egalisiert, automobilglattgestrichen. Man merkt das kleine Flusstal nicht mehr, das man überquert, nicht die Hügel, die verschiedenen Farben der Felder. Die Perspektive auf die östliche Stadt entfaltet sich nicht allmählich, sondern man sieht sie aus dem Augenwinkel, und dann ist sie auch schon wieder weg. Mein Vater hat noch Holz geholt mit Pferdegespannen. Da konnte eine kleine, feuchte Senke ein riesiges Hindernis sein. Nicht zufällig heißt ein Straßenabschnitt, nicht weit von hier, die »Hölle«. Im schlimmsten Falle musste per Hand wieder ein Teil der Ladung abgeladen werden, damit es die Pferde schafften. Und ich erinnere mich noch daran, dass da drüben die Steigung am Krähenberg selbst im ersten Gang meines Torpedo-Rades nur an guten Tagen zu schaffen war. Jetzt ist hier alles (fast) eben, zumindest für das Auto. Die Er-fahrung ist eine ganz andere.

Aber wir haben die Abfahrt ja gar nicht verpasst, sondern fahren hinein nach Hofgeismar, das, wie es sich gehört, anfängt mit Ackerland links und rechts. Die Aral-Tankstelle, die gab es hier früher nicht, die Großbäckerei auch nicht. Früher standen hier nur Aussiedlerhöfe, zwei ganz nah an der Straße. Die Aussiedlerhöfe markieren in dieser Region die...

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