1. Der Mensch, sein Wert und ich
Vor ein paar Jahren fing es an. Ich war in Albanien, recherchierte zum Thema Menschenhandel. Ein Mädchen erzählte mir, ihre Schwester sei am Vortag nach Italien verkauft worden. Für 800 Euro. Später reiste ich nach Asien, traf eine Frau in Nepal, die man in ein indisches Bordell entführt hatte. Der »Zwischenhändler« aus ihrem Dorf hatte 300 Dollar für sie bekommen. Ähnliche Geschichten hörte ich im südlichen Afrika. Und in Bolivien erzählte mir eine Mutter von ihrem geraubten Baby, das man für ein paar tausend Dollar zur Adoption in die USA verschleppt hatte.
So lernte ich ganz konkret, daß Menschen nicht nur einen Wert, sondern auch einen Preis haben können.
Dann wurde ich in der Berliner U-Bahn Ohrenzeuge eines Gespräches, das sich um einen kurz zuvor geschehenen Raubmord drehte. Der Täter hatte knapp 100 Euro erbeutet. Die beiden jungen Männer diskutierten über die Summe. Knapp 100 Euro für einen Mord fanden sie unsinnig, lächerlich oder besser gesagt: zu wenig. 10?000 Euro, sagte der eine, wäre eine Summe, ab der er die Tat gerade noch nachvollziehen könne. Es klang naiv, nicht bösartig. Doch der andere protestierte. Er bestand auf mindestens 100?000 Euro. Und plötzlich ertappte ich mich bei der Frage, ab welcher Summe ich einen Mord nachvollziehen könnte. Ich erschrak und brach das Gedankenspiel beschämt ab.
Zumindest vorläufig. Denn eine Frage, die ich nur aus Entwicklungsländern kannte, war näher gekommen. Fast schon zu nah.
Was ist ein Leben wert? Genauer: Wieviel ist ein Leben wert?
Die Frage ist schwierig, wirkt böse, und sie verfolgt mich. Genauer gesagt, ich begegne ihr immer wieder. Das macht mich nachdenklich.
Zum Beispiel wenn ich lese, Air France müsse den Hinterbliebenen der Opfer eines Flugzeugabsturzes 240?000 Dollar für jeden Toten bezahlen. Warum 240?000 Dollar? Warum nicht 200?000? Oder 500?000? Oder 10 Millionen? Oder wenn ein nach unendlichen Lösegeldverhandlungen verzweifelter Kapitän eines von somalischen Piraten entführten Frachters im Spiegel mit der Aussage zitiert wird, er und die Mannschaft könnten nicht glauben, »daß ihr Leben und Leiden weniger wert sei als Geld«. Die Frage müsse doch lauten, wieviel Geld ihr Leben und Leiden wert seien, beziehungsweise wieviel der Reeder bereit sei, dafür inklusive seines Schiffes zu zahlen?
Ich höre von einer Kampagne des Berufsverbands der Frauenärzte, der fragt: »Was ist eine kranke Frau in Deutschland wert?« Dabei dreht es sich, so ist zu vermuten, um die Frage, was Gesundheit und damit eben auch ein Leben in Deutschland kosten darf. Ja, wieviel denn?
»100?000 Euro für ein Leben« lautet eine Schlagzeile im Essener Lokalteil der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. In diesem Fall geht es um ein 8jähriges Mädchen aus Mazedonien. Es hat eine dramatische Krebserkrankung und kann nur mit einer Stammzellentransplantation gerettet werden. Die Operation soll 100?000 Euro kosten, welche die mazedonische Krankenkasse aber nicht übernehmen will. Und die Familie des Mädchens ist zu arm. Also bittet sie um Spenden. 100?000 Euro für das Leben einer Tochter. Werden sie das Geld bekommen?
Ein paar Beispiele nur, doch bei jedem frage ich mich, wie es in diesem Fall wohl um mich stünde. Wären 240?000 Dollar angemessen für mich? Wer würde für mich Lösegeld zahlen? Vor allem: wieviel? Und wieviel ist meine Gesundheit wert? Wer würde im Ernstfall für mich wieviel spenden?
Ich bin bei einer anderen Frage angekommen: Was bin ICH wert?
Ich nehme Stift und Papier, versuche eine Bilanz, eine vage Abrechnung meiner Lebensleistungen. Ich habe mal einen Berg bestiegen, der fast 7000 Meter hoch ist, und ich bin auch wieder runtergekommen. Ich kann kochen. Ich telefoniere jede Woche mit meinen Eltern. Ich kann ganz passabel skifahren. Ich habe ein paar gute Freunde. Wenn ich meinen Namen google, finde ich ein paar tausend Einträge. Ich habe kein Auto, kein Haus, keine Yacht und soweit ich mich erinnere auch noch nie einen Baum gepflanzt. Aber ich habe zwei wunderbare Töchter, von denen eine auch noch einen anderen Vater hat. Mit der wunderbaren Mutter bin ich glücklich. Wir teilen Tisch und Bett, Hausarbeit, Erziehungsaufgaben und angenehmerweise auch die finanzielle Verantwortung. Auch davor hatte ich meistens tolle Freundinnen. Für das Selbstwertgefühl eines Mannes ist das nicht ganz unerheblich. Ich kaufe meistens im Bioladen ein und bevorzuge fair gehandelte Produkte. Manchmal spende ich Geld für gemeinnützige Organisationen. Ich habe einen Marathon durchgestanden. Viele der Themen, mit denen ich mich als Journalist beschäftige, haben einen »sozialen Anspruch«. Manchmal bekomme ich Lob von einem Leser oder Hörer. Einmal habe ich auch einen Medienpreis bekommen. Wenn es gut läuft, verdiene ich 3000 Euro im Monat. In Berlin-Kreuzberg ist das viel Geld.
Alles Dinge, die mir ein gutes Gefühl verschaffen. Zumindest ziemlich oft. Nicht immer. Denn auf der anderen Seite sind da die zurückgehenden Haare, der vordrängende Bauch, der überforderte Rücken – kurz: ich bin 46 Jahre alt. Da wird so was schon ein Thema. Ich meine das Selbstwertgefühl. Ich meine die Midlife Crisis. Die ist noch nicht da. Nein. Wahrscheinlich kommt die auch gar nicht. Aber wenn sie vielleicht mal kommen sollte, kann ich sie nicht durch ein neues Cabrio und will ich sie nicht durch eine jüngere Frau verdrängen. Da könnte also ein wohlfundiertes und vielleicht gar monetär gesichertes Selbst-WERT-Gefühl von Vorteil sein. Denn natürlich weiß ich, daß gesellschaftlicher Status, Anerkennung und Wertschätzung sehr oft mit materiellen Fragen, also Besitz und Einkommen verknüpft sind. Wer viel verdient, wird, ob nun in der Bank oder beim Arzt, besser behandelt. So gese-hen könnte sich mein persönlicher Geldwert auch auf meinen persönlichen Selbstwert durchschlagen. Nur eine Hypothese. Aber vielleicht hilft es ja. Nach dem Motto: »Sehr geehrter Herr Hotelportier, ich bin zwar mit dem Bus gekommen, ich besitze auch nur die allereinfachste Kreditkarte, habe lediglich einen alten Rucksack, nehme bloß das billigste Zimmer, ABER – wissen Sie – ich selbst bin eine Million Euro wert!«
Wobei – das nur am Rande – für den teuersten Hund der Welt, eine Tibetdogge, in China angeblich sogar 1,1 Millionen Euro gezahlt wurden.
So oder so, ich meine »Wert« im ökonomischen Sinn, so wie der Begriff ursprünglich verstanden wurde. Seine philosophische Karriere begann erst Ende des 19. Jahrhunderts mit der modernen Axiologie, der Lehre von den moralischen Werten. Die beschäftigt sich mit den Wertungen, die der Mensch vornimmt, mit Wertgefühl, Wertrealismus und den »absoluten Werten«, die eine Kultur prägen und einer Gesellschaft Sinn und Bedeutung geben.
Darum geht es mir nicht. Ich will das trennen, auch wenn ich schon ahne, daß das schwierig werden könnte.
Also: Wieviel Euro bin ich wert?
Meine spontane Antwort lautet »unendlich viel«. Theoretisch, denn praktisch wird das schwierig. Ich habe nicht unendlich viel Geld. Nicht für mich, nicht für meine Familie und auch nicht für ein Mädchen aus Mazedonien. Dann also »alles was ich habe«. Zumindest für mich und meine Familie. Und wenn das nicht reicht? Wo ist Schluß? Keiner, nicht mal Bill Gates oder der deutsche Staat haben unendlich viel Geld.
Die 100?000 Euro für das mazedonische Mädchen kamen übrigens innerhalb einer Woche zusammen, und für die 24 Seeleute und ihr Schiff vor Somalia zahlte der Reeder schließlich etwa zwei Millionen Euro Lösegeld. Von daher waren die Seeleute billiger als das mazedonische Mädchen. Sogar wenn man das Schiff nicht mitrechnet. Das kann man natürlich nicht vergleichen. Oder?
Je mehr ich mich mit dem klassischen Bankräuberslogan »Geld oder Leben« beschäftige, desto mehr Fragen drängen sich auf. Was heißt eigentlich »in eine Beziehung investieren«? Kann es zum Beispiel sein, daß es immer weniger anstrengende, kraftraubende Beziehungen gibt? Daß also weniger investiert wird? Oder sollte man sagen: daß klüger investiert wird? Ich meine Zeit, Kraft, Geduld und Energie. Wobei sich zumindest in den Zeiten der expandierenden beruflichen Selbständigkeit Zeit, Kraft, Geduld und Energie leicht in Geld umrechnen lassen. Wer kann oder will es sich noch leisten, langfristig energieraubende Auseinandersetzungen auszutragen, eine amour fou auszuleben? Okay, ein paar gibt es vielleicht noch. Ich kenne nur keine mehr. Das kann aber auch am Alter liegen.
Andererseits fallen mir Situationen auf, in denen ich so was wie den Wert meines Lebens zumindest intuitiv schon längst berechne. Etwa beim Bergsteigen. Das...