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E-Book

Was bleibt

Über die Dinge, die wir zurücklassen

AutorSusannah Walker
Verlagkein & aber
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl432 Seiten
ISBN9783036993959
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Die meisten von uns kommen früher oder später in diese Situation: Die Eltern oder ein Verwandter sterben und alles, was zurückbleibt, muss geordnet, aufgehoben oder weggeworfen werden. So ergeht es auch Susannah Walker. Das Haus ihrer Mutter im englischen Worcester beherbergt ein Sammelsurium an Nippes, alten Fotos und Gebrauchsgegenständen, die jeweils eine Geschichte zu erzählen scheinen. Wie eine Alltagsarchäologin sortiert und befragt die Autorin das Material, um einer Frau näherzukommen, die zwar die eigene Mutter war, aber dennoch zeitlebens eine fremde Person blieb. Dabei kommt ihr der eigene Beruf zu Hilfe: Sie ist es als Kuratorin gewohnt, sich mit Dingen und deren Bedeutung zu beschäftigen, sie als Objekte zu betrachten und zu interpretieren. Mit großem psychologischem Geschick rekonstruiert sie längst verschüttete Erinnerungen und legt auf diese Weise die Geschichten ihrer Herkunft frei, in denen eine liebesunfähige Mutter, ein verstorbener Bruder und andere Familiengeheimnisse ans Licht kommen.

SUSANNAH WALKER studierte Englische Literatur in Cambridge und Design History am Royal College of Art and Victoria & Albert Museum. Sie arbeitet als Kuratorin, hat mehrere Bücher über Design verfasst und ist als Beraterin und Produzentin für Fernsehsendungen über Kunst, Architektur und Lifestyle tätig.

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Leseprobe

Ausnahmsweise ist es mir gelungen, einen Parkplatz direkt vor dem Haus meiner Mutter zu ergattern. Aber ich will nicht hineingehen. Nachdem ich die letzten Tropfen eines wässrigen Coffee-to-Go ausgetrunken habe, schreibe ich eine Textnachricht an meinen Mann T, starre auf den verhangenen grauen Januarhimmel und suche nach einem Vorwand, um diese letzten Minuten in die Länge zu ziehen. Alles, nur nicht den Bürgersteig überqueren und die Haustür öffnen. Selbst das geht nicht so ohne Weiteres. Meine Augen bleiben an dem rohen Metallriegel hängen, der an den Türrahmen angeschraubt und mit einem großen silbernen Vorhängeschloss gesichert ist. Nicht alles am Haus meiner Mutter ist so normal, wie es auf den ersten Blick scheint.

Der Grund, weshalb ich hier bin und nicht an meinem Schreibtisch neunzig Meilen entfernt sitze, ist, dass meine Mutter gestern ins Krankenhaus gekommen ist, nachdem sie in ihrem Schlafzimmer gestürzt war. Das ist an sich nicht sonderlich überraschend: Meine Mutter ist siebenundsiebzig, und sie wird zunehmend schwächer, ihre Lungen arbeiten kaum noch, nachdem sie ihr ganzes Leben lang vierzig oder mehr Zigaretten am Tag geraucht hat. Ich bin, zum Teil jedenfalls, seit einiger Zeit auf diese Krise vorbereitet gewesen, daher hatte meine zweistündige Fahrt auf der Autobahn an diesem Morgen etwas Unvermeidliches an sich. Jede gute Tochter würde das tun.

Das Problem ist: Ich bin mir nicht sicher, dass ich eine gute Tochter bin oder jemals eine war. Dies ist meine große Chance. Mit etwas Entschlossenheit könnte ich mir diese Rolle jetzt zu eigen machen. Meine Stärken könnten zum Einsatz kommen. Den größten Teil meines Arbeitslebens habe ich damit verbracht, in Stresssituationen ruhig und organisiert zu sein, und deshalb habe ich gestern Nachmittag im Internet nach Pflegediensten und Haushaltshilfen gesucht, während ich überschlug, wie oft in der Woche ich die Fahrt machen könnte. Hinter all diesen praktischen Erwägungen konnte ich jedoch einen leisen Ärger verspüren. Warum sollte ich mich jetzt um meine Mutter kümmern, war der ständig wiederkehrende Gedanke, wenn sie nie dazu in der Lage gewesen ist, sich um mich zu kümmern?

Meine Mutter hat viele gute Eigenschaften. Sie ist eine interessante, intelligente und oft auch lustige Frau. In ihrer Jugend war sie elegant und attraktiv, ihre hohen Backenknochen und ihre schmale Taille passten gut zur Mode der 1950er-Jahre. In ihrem späteren Leben las sie viel, hatte eine ganze Reihe von Jobs und engagierte sich ehrenamtlich, doch eine Mutter zu sein, war die eine Sache, in der sie nie gut gewesen ist. Was erklärt, warum ich jetzt hier bin und mich in meinem Auto verstecke, anstatt mich auf den Weg zu ihrer Haustür zu machen. Ich weiß, was mich drinnen erwartet, und ich habe an diesem Morgen schon genug zu bewältigen.

Gestern Abend gelang es mir endlich, die Stationsschwester zu erreichen, die mir versicherte, dass es keine größeren Komplikationen gebe und meine Mutter bei Bewusstsein und vollkommen klar sei. Dennoch hatte ich nicht gut geschlafen, und als ich die Autobahn entlangfuhr, vollgepumpt mit Kaffee, die Hände ans Lenkrad geklammert, versuchte ich mich vergeblich auf das Radio zu konzentrieren, während mein Gehirn sich mit praktischen Überlegungen abmühte. Eine Mischung aus Panik und äußerster Anspannung stieg in mir auf. Als ich Worcester erreichte, hatte die Panik überhandgenommen.

Dem Namen nach hatte ich erwartet, dass die Royal Infirmary sich in einem roten viktorianischen Backsteinbau irgendwo in der Innenstadt befinden würde, doch das war nicht so. Das Krankenhaus wurde an die Ringstraße verlegt, und ich konnte die richtige Ausfahrt nicht finden. Nachdem ich mich zum dritten Mal verfahren hatte, hielt ich an einem Weidegatter an und fing beinahe an zu heulen. Aber daran waren nur die Straßenschilder schuld, die ihren Zweck nicht erfüllten. Es hatte gar nichts mit meiner Mutter zu tun.

Als ich das Krankenhaus endlich erreichte, entpuppte es sich als eine Ansammlung moderner Gebäude aus braunen Backsteinen und Glas, die an einen Universitätscampus denken ließ und von Fußwegen und Parkplätzen durchzogen war. Es schien Stunden zu dauern, bis ich an einer neuen Krebsstation, Fahrradständern, einer Baugrube, zwei Lichthöfen und einem Waldstück vorbeigewandert war und mein Ziel erreichte.

Meine Mutter befand sich in der Notfallstation, die direkt neben der Notaufnahme lag, was auf den eher provisorischen Zweck dieser Einrichtung hinweist. Die Notfallstation dient als Unterbringungsort für Unfallpatienten, die einen Krankenhausplatz benötigen und noch keiner bestimmten Station zugewiesen werden konnten. Meiner Mutter ging es offensichtlich nicht gut, wofür es diverse Gründe gab, aber niemand schien in der Lage zu sein, diese exakt zu bestimmen. Bis irgendjemand darüber entschied, worin das Problem bestand, konnte sie nur in der Notfallabteilung bleiben.

Die Krankenhausmitarbeiter schienen jedoch nicht weiter besorgt zu sein. Ja, meine Mutter war gestürzt, doch abgesehen von einigen Kratzern, schien sie nicht verletzt zu sein. Sie war leicht dehydriert und bekam Sauerstoff, doch es bestand kein Grund dafür, dass sie nicht in einigen Tagen entlassen werden konnte. Wirklich, es gehe ihr gut, sagten sie. Nur mit ihrer Zahnprothese gebe es ein kleines Problem, aber der Zahnarzt würde vorbeikommen, vielleicht schon morgen, um zu sehen, was sich da tun ließe. Das sagte die Schwester so nebenbei, während sie mich durch die überfüllte Station zum Bett meiner Mutter führte. Wenn die Schwester es sagte, dann musste wohl alles in bester Ordnung sein.

Doch als ich vor ihr stand, war es das nicht mehr. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich mir nicht einmal sicher, dass es überhaupt meine Mutter war, weil die alte Frau, die in einem Sessel saß, nur mit einem Krankenhausnachthemd bekleidet, überhaupt nicht so aussah wie die Person, die ich kannte, die ich erst einige Wochen zuvor abgeholt und zu mir nach Hause mitgenommen hatte, die adrett angezogen und so klar wie immer gewesen war, und in der ich meine Mutter erkannte, auch wenn sie jedes Mal ein bisschen älter war. Das Gesicht dieser Frau war von tiefen Falten durchzogen, ihre Augen waren klein und eingesunken, eines war von einem violetten Veilchen umgeben, das sich bis zu ihrem Wangenknochen erstreckte. Ihr Nachthemd war hochgerutscht, und weitere Prellungen an ihren Beinen waren sichtbar, die sich gelb, braun und blau verfärbt hatten. Die wenigen Sekunden ihres Sturzes hatten sie um zwanzig Jahre altern lassen. Schlimmer noch, sie war vom Leben überrumpelt und niedergestreckt worden. Es war meine Mutter, aber sie sah aus wie eine alte Frau, die einem brutalen Überfall zum Opfer gefallen war, wie man sie aus der Fernsehsendung Crimewatch kennt.

In dieser kurzen Sekunde sah ich, wie auch in ihren Augen die Panik aufblitzte, als hätte sie ihr eigenes Abbild in meinem Blick gesehen und wäre genauso erschrocken wie ich. Dann nahm sie sich zusammen und verschwand hinter der Fassade, an der ich sie erkannte.

»Hallo, Liebes«, sagte sie und winkte mir mit einer Hand zu. Die Stimme klang wie ihre eigene, aber ich konnte die Worte nur gerade so verstehen. Die Schwestern hatten das Problem mit ihrer Zahnprothese heruntergespielt, denn sie schien lose in ihrem Mund hin und her zu rutschen und hinderte sie am Sprechen. Sie hob die Hand, um zu verhindern, dass sie herausfiel.

Ich versuchte, woanders hinzusehen, doch die Schwester war verschwunden. Ich musste so normal und gutgelaunt wie nur möglich wirken, um ihretwillen und weil zahlreiche andere Besucher anwesend waren, doch ich war mir nicht sicher, ob mir eine solche Vorstellung gelingen würde.

»Tut mir leid wegen der Zähne«, schien sie zu sagen. Dabei winkte sie wieder mit der Hand, als würde das den Verlust ihrer Artikulationsfähigkeit ausgleichen, während sie versuchte, mir zu erklären, dass sie von der Luft in der Station einen trockenen Mund bekam.

Mir ging so vieles durch den Kopf, dass ich keine Worte fand. Wie war das nur passiert? Wenn es ihr angeblich gutging, wie sah dann jemand aus, dem es nicht gutging? Seit wann hatte meine Mutter eine vollständige Zahnprothese, und warum, verdammt noch mal, saß sie nicht richtig? Es wirkte, als hätte sie sie von jemand anderem ausgeborgt.

Auf der Hinfahrt war ich fest entschlossen gewesen, mich zu ihr zu setzen und nett zu sein; ich würde ihr zuhören und Vertraulichkeiten austauschen, ein Gespräch führen, wie wir es seit Jahren nicht getan hatten, wenn überhaupt jemals. Selbst unter den günstigsten Umständen wäre das eine Illusion geblieben; auf der Station war es zu heiß und zu laut, die Betten standen zu nah beieinander. Hier war kein Platz für irgendeine Form von Intimität.

Schlimmer noch, die schreckliche Situation fing an, mir zuzusetzen. Ich wollte keine Sekunde länger als nötig in diesem stickigen, beengten Raum bleiben; ich konnte es nicht ertragen, hier mit dieser fremden, lädierten alten Dame zu sitzen, die den Platz meiner Mutter eingenommen hatte. Vor allem nicht, wenn jedes verstümmelte Wort mich daran erinnerte, in welchem Zustand sie sich befand. Ich war mit dem festen Vorsatz in das Krankenhaus gekommen, mitfühlend zu sein, doch stattdessen wollte ich nur noch weglaufen, frische Luft atmen, die Autobahn nach Hause nehmen und so tun, als wäre all das nie passiert.

Also tat ich das, was ich in stressigen und schwierigen Situationen immer tue, ich flüchtete mich in das Organisatorische. Meine Mutter brauchte frische Schlafsachen anstelle des papierdünnen Krankenhausnachthemds, Toilettenartikel und ein tragbares Radio, damit sie rund um die Uhr Radio Four hören...

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