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Was bleibt mir übrig

Anmerkungen zu (meinen) 30 Jahren Kabarett

AutorDieter Hildebrandt
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783688103829
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Dieter Hildebrandt, einer der bekanntesten deutschen Kabarettisten, blickt in seinem erstmals 1986 erschienenen Werk «Was bleibt mir übrig» zurück auf dreißig Jahre Kabarett. Er erinnert sich an entscheidende Tage in seinem Leben, an denen nicht selten auch Entscheidendes in der Republik geschah, und erzählt von seinen satirischen Fehden gegen Personen und Vorgänge, die die Nachkriegsgeschichte des Landes geprägt haben. Dieter Hildebrandt, bekanntgeworden auf den Brettern der «Münchner Lach- und Schießgesellschaft», Verkünder der «Notizen aus der Provinz» im ZDF und Star der Sendung «Scheibenwischer», ist eine faszinierende Rückschau gelungen: ein persönliches Tagebuch, das drei Jahrzehnte kritisch beleuchtet.

Dieter Hildebrandt, 1927 in Bunzlau/Niederschlesien geboren, studierte in München Theaterwissenschaften und Literatur. Mit Sammy Drechsel Gründer der «Münchner Lach- und Schießgesellschaft». In den Jahren 1974 bis 1982 Zusammenarbeit mit Werner Schneyder. Von 1973 bis 1979 «Notizen aus der Provinz» für das ZDF, von 1980 bis 2003 «Scheibenwischer» im SFB. Dieter Hildebrandt starb 2013 in München.

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Leseprobe

2. Dezember 1985


Ein Tag, an dem »nichts los ist«. Wellen von gestern bewegen die Schlagzeilen von heute. Der Bayern-Kicker Augenthaler beteuert, er hätte den Berufskollegen aus Bremen nicht mit ganzer Konsequenz gefoult, sondern nur mit halber. Der Dienstwagen von Maggie Thatcher ist durch Liebesspiele eines Chauffeurs entweiht worden.

Die CDU-Linke warnt die Regierung vor Strangulierung der Gewerkschaft durch Einschränkung des Streikrechts.

Ein CSU-MdB warnt die Union auch vor irgend etwas.

Edmund Stoiber, Privatsekretär der Bayerischen Staatskanzlei des Franz Josef Strauß, verwarnt den Grafen Lambsdorff, der einen Tag zuvor Strauß einen »Wichtigtuer« genannt hatte.

»Soll sich lieber um seinen Prozeß kümmern«, meinte Stoiber. Ein Prozeß, in dem Stoiber durchaus die Meinung Lambsdorffs vertritt. Niemand warnt Stoiber.

Parteichef Gorbatschow (UdSSR) wird möglicherweise vom Papst (Vatikan) empfangen. Stellungnahme aus dem Vatikan: »Verfrühte Hypothese«.

Schneller Blick in das Fremdwörterbuch. Hypothese: »Wissenschaftliche, noch nicht beweisbare Annahme.«

Trifft nicht zu. Mit Wissenschaft haben die Kaffeesatzleser der Weltpresse nichts zu tun. Zweite Bedeutung: »Grundlage zur Erklärung eines Vorganges.«

Trifft nicht zu. Was hier vorgeht, ist zwar leicht zu erklären, daß nämlich der voraussichtliche Besuch Gorbatschows in Italien zu der Vermutung verleitet, der Papst könnte ihn empfangen wollen, aber dazu fehlt jegliche Grundlage.

Dritte Bedeutung: »Unterstellung, Voraussetzung.«

Trifft zu. Allerdings gibt es keine Voraussetzung für diese Unterstellung.

Was mich aber endgültig in Zweifel stürzt, ist die Vatikan-Formulierung: »Verfrühte Hypothese.«

Ist eine Unterstellung, die nicht verfrüht ist, keine mehr? Oder gibt es etwas wie eine rechtzeitige Unterstellung? Bin ich als Leser einer solchen Mitteilung zu der Unterstellung berechtigt: Der Papst will kneifen?

Becker, unseren stündlich alternden 18jährigen Leimener, wird er empfangen. Und hinter ihm werden die unvermeidlichen ständigen Begleiter Bosch und Tiriac zu sehen sein, die so viel von Tennis verstehen, daß sie von nichts anderem mehr etwas wissen.

Zum Beispiel davon, daß sie, je mehr wir Deutschen unseren Boris für uns vereinnahmen, um so rumänischer werden. Haben sie ihm geraten, seine Steuern in Monte Carlo zu bezahlen? Natürlich! Und warum?

Beendet Boris mit einem Elefantenaufschlag das Finale in einem hochdotierten Turnier siegreich und es fallen ihm 300000 Mark zu, zieht ihm das Finanzamt in Leimen 150000 davon ab. Ein Betrag, der einem Leopardpanzer schon einmal eine Panzerkette garantieren würde. Monaco, das mit einem Bruchteil dieser Summe zufrieden wäre, müßte davon wieder einen Bruchteil an Frankreich abliefern, das, man weiß es, sich der Nato nicht verpflichtet fühlt und diesen Bagatellbetrag höchstenfalls dem Centre Pompidou zuführen würde.

Das heißt: Jeder Sieg von Boris höhlt die Verteidigungsbereitschaft von Westeuropa aus. Tennis ist Weltpolitik. Ob der westdeutsche Fernsehzuschauer das alles bedenkt, wenn er nachts um drei Uhr seinen Boris in Cincinnati siegen sieht? Weiß Boris mehr und siegt jetzt weniger? Man muß der Sache nachgehen, schreiben darüber.

Heute nicht mehr.

Die Fröhlichkeit hält sich in Grenzen.

Ein Blick in meine Boulevardzeitung sagt mir, daß die Weihnachtszeit begonnen hat, denn, wie zu lesen ist, die ersten Nikoläuse werden überfahren. Umsatzrekorde stehen bevor. Mein Nachbar hat seinem Sohn zu Weihnachten eine Verkabelung geschenkt. Die Post reißt bereits alles auf. Frohe Weihnachten. Postminister Schwarz-Schilling lacht sich in eines seiner vielen Fäustchen.

Das Niveau der Fernsehprogramme steigt und steigt. Kuli hat einen Quizsieger geboren. Der wußte, wer der frischgebackene russische Schachweltmeister ist. Kasparow, sagt er einfach so, und das Publikum ist begeistert.

Immer wieder taucht das leidige Tempolimit 100 auf. Laßt doch die armen Deutschen, die endlich einmal eine freiheitliche demokratische Grundordnung haben, wirklich frei sein. Laßt sie doch fahren!

Die Deutschen, nicht die Grundordnung.

Von der Wiege bis zur Bahre, vom Gasfuß bis zum Raucherbein sollen ihre Freiheiten unangetastet bleiben.

Ab welcher Geschwindigkeit, ob schon bei 150 Stundenkilometern oder erst ab 190, die Freiheit als ausgekostet zu gelten hat, wollen die Automobilclubs demnächst entscheiden.

Das MdB Dionys Jobst, Experte für denkwürdige Aussagen aller Art, hat mit einem rhetorischen Juchzer ohnehin sämtliche Bedenken weggefegt: »Das Tempolimit ist tot – töter geht es gar nicht.«

Durch den deutschen Wald ist ein Ruck gegangen. Bundeskanzler Helmut Kohl ist guten Mutes. Wer durch eigene Kraft krank wird, kann auch durch eigene Kraft wieder gesund werden.

Kein Zitat. Kann aber kommen.

Kommen wird in den vor uns liegenden Monaten in jedem Fall das entrüstete Dementi der Bayerischen Staatsregierung zu der Behauptung, es gebe bereits heute in lawinengefährdeten Bergdörfern Evakuierungsplätze.

Hier muß einmal ein Riegel … da muß einmal ganz klipp und klar … wer hat denn da schon wieder nicht dichtgehalten?

Wir wollen in aller Deutlichkeit feststellen: Wer heute schon Panik verbreitet, gefährdet die ruhigen Vorbereitungen auf den Ernstfall!

Wer heute schon in verantwortungsloser Weise darauf hinweist, daß ohne Wald die Berge in Bewegung geraten werden, tritt bereits die Lawine los, die jene vorzeitige Panik auslöst, auf die wir erst später vorbereitet sind.

Den Zeitpunkt der Angst bestimmen wir. Das war schon immer so. Der Staatsminister für angepaßten Umweltschutz, Dick, hat in Schliersee, anläßlich eines Treffens der bayerischen Bergbahnbesitzer, dazu Stellung genommen: Er würdigte eingangs,

führte dann aus,

legte Wert auf die Feststellung, wobei er besonders betonte,

warnte ausdrücklich vor,

vergaß nicht, darauf hinzuweisen, daß er durchaus die Überzeugung vertrete,

was ihn nicht daran hindere

an alle den Appell zu richten,

fügte sofort hinzu, daß er der Hoffnung Ausdruck verleihe

und dieses sehr eindringlich.

Ergänzend bekräftigte er,

räumte ein, bezweifelte,

erinnerte daran, daß,

räumte jeden Zweifel aus,

wies noch einmal darauf hin

und dann energisch zurück.

Von 21 Uhr bis 22 Uhr 30

untermauerte er seine

Ausführungen.

Hat er natürlich nicht in dieser Form, aber mir ist so, als hätte ich in den letzten Jahren dieses als das Wesentliche in seinen Stellungnahmen empfunden.

Sicher bin ich nicht. Vielleicht habe ich dieses oder jenes vergessen, was er zu

Autobahnen, irgendwelchen Kanälen, Wiederaufarbeitungsanlagen, aussterbenden Vögeln oder neuartigen Waldschäden bemerkt hat. Vielleicht wäre es für alle Politiker, die dazu etwas gesagt haben, besser, wenn wir alle alles vergessen würden?

Oder verdrängen.

Bei mir stelle ich immer wieder erschrocken fest, daß ich ein paar Dinge vergessen habe zu verdrängen. Daß ich einmal als Pimpf durch die Straßen marschiert bin und den Menschen mit meiner hellen Knabenstimme mitgeteilt habe, ich würde immer weiter marschieren und immer weiter, bis alles in Scherben fiele, was wir in gemeinsamer Anstrengung dann auch schafften. Die Erwachsenen standen an den Straßenrändern und fanden das alles ganz in Ordnung. Selbst als wir behaupteten, daß Börsengauner und Schieber das Vaterland knechten würden, hat sich niemand empört, und ich marschierte weiter und weiter, direkt aus Schlesien hinaus, hinein nach Bayern. Dort muß man das als Flucht ausgelegt haben, denn ich bekam einen Flüchtlingspaß.

Das war allerdings, wie sich später herausstellte, eine Fehleinschätzung. Nach genauerer Betrachtung der geschichtlichen Abläufe wurde mir mitgeteilt, daß ich vertrieben worden war. Es war mir auch recht.

Der Weg war der gleiche. Heute ist mir klar, daß wir in Wirklichkeit Verdrängte sind. Westrussen verdrängten Ostpolen nach Westpolen und Ostdeutsche nach Westdeutschland.

Die heute als Ostdeutsche bezeichnet werden, sind aber im Sprachgebrauch der Westdeutschen Mitteldeutsche, was darauf schließen läßt, daß Ostdeutsche jene sind, die in Westpolen leben.

So in etwa scheint die Sprachregelung des Verdrängtenvorsitzenden Hupka zu sein, der drauf und vor allen Dingen dran ist, den verloren geglaubten Krieg doch noch zu gewinnen.

Ich bin da skeptisch. Wir haben den Biß nicht mehr.

Feindbild, Verteidigungsauftrag, die Sehnsucht nach Heimat, nämlich der Heimat der anderen, Bürger in Uniform, Pazifismus im Stahlhelm, Vorwärtsverteidigung, Rückwärtsangriff, alle diese Begriffe sind in unseliger Weise durcheinandergeraten. Militärisch gesehen sind wir Schweizer geworden, die keine Berge haben.

Oh, welcher Unterschied zu den Offizieren der Volksarmee. Aus ihren stahlharten Blicken liest man den glasklaren Willen, den mit sich selbst kämpfenden Sozialismus durch soldatische Haltung zu stützen. Wer hätte gedacht, daß Preußen einmal zu Sachsen gehören würde. Durch die müssen wir durch, Kamerad Hupka, wenn wir an der Oder wieder »Mensch ärgere Dich nicht« spielen wollen!

Töchter Ulla und Jutta haben mir übrigens vor einigen Tagen klipp und klar gesagt, das von den Polen verwaltete Erbe in Niederschlesien auf keinen Fall antreten zu wollen.

Ich bin da anderer Ansicht! Käme Polen heute zu der Meinung, daß es, im Sinne einer sozialistischen Bruderschaft, angebracht sei, Schlesien zurückzugeben und zwar an die Deutsche Demokratische Republik, zumal ja inzwischen feststeht, daß...

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