Sind Sie noch im grünen Bereich?
Halten Sie kurz inne und richten Sie Ihre Aufmerksamkeit ganz auf sich selbst. Ich möchte Sie zu einem kurzen Moment der Selbstwahrnehmung einladen und Ihnen drei Fragen stellen.
Drei Fragen
Die erste Frage lautet: Wo sind Sie jetzt gerade auf einer Skala von 0 bis 10, was Ihren inneren Stresspegel angeht?
0 ist vollkommen entspannt, 10 ist Ihr Maximum an Anspannung. Am besten beantworten Sie die Frage spontan, ohne lange nachzudenken. Machen Sie sich im Augenblick keine Gedanken, ob Ihre Antwort hundertprozentig stimmt und was sie bedeutet. Später werden Sie mehr über die einzelnen Werte auf der Skala erfahren und Ihre Zahl einordnen können.
Schauen wir uns nun Ihr Ergebnis genauer an: Ist dieser momentane Stresspegel zurzeit für Sie normal oder ist er jetzt gerade höher, weil Sie sich über etwas ärgern oder aufregen? Ist er im Augenblick niedriger als normal, weil Sie gerade den zweiten Saunagang hinter sich haben und sich auf ein langes Wochenende freuen?
Die zweite Frage lautet daher: Wie hoch ist Ihr Grundspannungspegel in letzter Zeit normalerweise?
Auf meine Frage, wie hoch er seinen Stresslevel auf der Skala von 0 bis 10 einstufen würde, beschrieb sich ein kurz vor dem Burn-out stehender erfolgreicher Geschäftsmann: »Vor ein paar Jahren war ich normalerweise auf 2. Dann ist der Stress in den letzten Jahren kontinuierlich von 2 auf 8 angestiegen. Jetzt muss ich etwas tun.«
Mit dem Stresslevel ist hier nicht äußerer Stress gemeint, also die Fülle oder Schwierigkeit der anstehenden Pflichten und Anforderungen im Leben. Es geht um das innere Empfinden von Stress im Körper. Dieses zeigt sich zum einen in der Anspannung von Muskeln, die oft zum Dauerzustand geworden ist und gar nicht mehr wahrgenommen wird, zum Beispiel in chronisch hochgezogenen Schultern. Zum anderen äußert sich innerer Stress darin, dass das Nervensystem hochgradig erregt ist und nicht mehr herunterfahren kann.
Die dritte Frage lautet demzufolge: Wann waren Sie das letzte Mal bei 2, 1 oder 0 auf der inneren Stress-Skala?
Immer unter Strom
Vielleicht kennen Sie es aus eigener Erfahrung. Sie sehnen sich nach Ihrem Urlaub und können doch in den ersten Tagen die Ruhe gar nicht richtig genießen. Sie brauchen einige Zeit, bis Sie innerlich ruhiger werden und anfangen sich zu erholen.
Keine Termine, keine Verpflichtungen. Endlos Zeit. Tun können, was man will. Endlich mal richtig entspannen. Wenn man innerlich auf Hochtouren läuft, geht das gar nicht. Die äußere Ruhe ist schwer zu ertragen, weil sich innen alles weiterdreht.
Wenn der Stress nicht mehr von außen kommt, hat man keine Ausrede mehr. Dann ist es ganz klar: Der Stress ist in mir.
Wohin geht der Trend bei Ihnen?
Meine Klienten wissen fast immer sofort, wo sie sich auf der Stress-Skala von 0 bis 10 einstufen. Ebenso haben sie ein Gespür dafür, wann sie das letzte Mal bei 2, 1 oder gar 0 waren, ob das häufig oder selten in ihrem Leben vorkommt oder auch gar nicht. Diese Werte sind sehr aufschlussreich. Sie sagen viel darüber aus, wie sich jemand im Augenblick und generell in seinem Leben fühlt.
Wir alle können uns von Zeit zu Zeit fragen: Bin ich, auch wenn mein Alltag stressig ist, zwischendurch in der Lage herunterzufahren? Wann war ich das letzte Mal bei 2? Oder noch tiefer auf der Skala? Kenne ich das überhaupt?
Wenn Sie die erste und die letzte Frage für sich mit Ja beantwortet haben, herzlichen Glückwunsch! Lautet Ihre Antwort Nein, werden Sie im Lauf der Lektüre dieses Buches immer besser verstehen, warum Sie auf einem hohen inneren Stresslevel bleiben und was dabei in Ihrem Körper vor sich geht. Sie werden einen neuen Weg kennenlernen, wie Sie diesen Zustand mit Hilfe Ihres Körpers verändern können.
Wenn Sie Ihren inneren Spannungspegel der letzten Jahre betrachten, wohin geht der Trend bei Ihnen? Was schätzen Sie, sind Sie auf der Stress-Skala noch im grünen Bereich oder schon im roten?
Ich funktioniere bis zum Umfallen
Anna redet in großem Redefluss und mit hoher Stimme. Ihr Spannungspegel liegt bei 7, das ist für sie normal. Sie beschreibt sich so:
»Ich funktioniere, bis ich umfalle. Ich merke nicht, dass mir kalt wird oder ich Hunger und Durst habe. Ich habe kein Gefühl dafür, wann ich aufhören muss. Mein Mann sagt zu mir: ›Du hast einen 48-Stunden-Tag‹. Schon mein kleiner Sohn sagt zu mir: ›Hetz mich nicht so!‹«
Und so fühlt sie sich gerade: Ein Pulsieren in der Herzgegend, wie ein Schmetterling. »Ich kenne mich gar nicht anders als aufgeregt. Selbst wenn ich sitze, bin ich atemlos.«
Der ursprüngliche Sinn des Funktionierens
Wenn wir »funktionieren«, sind wir von unseren Bedürfnissen abgekoppelt. Anna beschreibt, dass sie nicht mehr merkt, wenn sie friert oder Hunger und Durst hat. Ihre Körperwahrnehmung ist ausgeblendet, »dissoziiert«.
Betrachten wir dieses Phänomen einmal mit dem neutralen Blick des Biologen. Das Dissoziieren, also die Fähigkeit, Teile unserer Wahrnehmung auszuschalten, ist ein evolutionäres Erbe, das in unseren Genen verankert ist. Es ist ein Notfallmechanismus, der es uns ermöglicht, mit extremem Stress und Trauma weiterzuleben. Es ist ein Schutz vor zu starken Gefühlen oder Körperempfindungen, die uns überwältigen könnten – also eine Gnade der Natur, die uns schmerzunempfindlich macht. Sie lässt uns weiterleben, egal, was passiert ist. Sie sorgt dafür, dass wir funktionieren können, für unsere Kinder sorgen, unseren Alltagsgeschäften nachgehen, ein von außen gesehen normales Leben führen.
Nach außen ruhig, innerlich auf Hochtouren
In der Natur ist das Dissoziieren ursprünglich für einen begrenzten Zeitraum gedacht, als Notmaßnahme, nicht als Dauerzustand. Denn das Nervensystem läuft dabei auf Hochtouren. Auch jemand, der nach außen völlig ruhig wirkt, kann innerlich hochgradig erregt sein.
Wir dürfen uns von einer ruhigen Fassade nicht täuschen lassen. Dahinter kann sich eine explosive Mischung aus Stress und Emotionen verbergen. Wenn ein Klient ganz ruhig dasitzt und trotzdem sagt: »Ich bin bei 8«, weiß ich, dass in dieser äußerlich ruhigen Person heftige innere Kämpfe vor sich gehen.
Abb. 1: Roter und grüner Bereich auf der Stress-Skala
Den eigenen Spannungspegel auf einer Skala einzustufen, hilft, sich und andere besser kennenzulernen. Wir können dann einschätzen, wann wir noch im grünen Bereich sind und wann wir Gefahr laufen, in den roten Bereich zu kommen – auf Dauer ein nicht nur unangenehmer, sondern zudem unberechenbarer Zustand. Auch mit anderen Menschen können wir anders umgehen, wenn wir berücksichtigen, ob sie gerade im grünen oder im roten Bereich sind.
Gelassen oder geladen?
Die Grenze zwischen grünem und rotem Bereich auf der Stress-Skala liegt bei 7. An einer alltäglichen Situation möchte ich verdeutlichen, wie sich unser Stresspegel auf der Skala bewegt. Während Sie lesen, lade ich Sie ein, gleichzeitig wahrzunehmen, was dabei in Ihrem Körper geschieht.
Stellen Sie sich vor, Sie fahren zum Flughafen, um eine Freundin abzuholen. Sie sitzen entspannt im Auto, hören Ihre Lieblingsmusik und freuen sich auf einen gemütlichen Abend mit Ihrer Freundin. Ihr Stresslevel ist vielleicht bei 3.
Plötzlich wird der Verkehr vor Ihnen langsamer, und Sie sehen nur noch rote Bremslichter vor sich. Allmählich kommen alle Autos zum Stehen; Sie fragen sich, ob Sie es noch rechtzeitig zum Flughafen schaffen. Ihre Anspannung steigt ungefähr auf 5.
Eine Viertelstunde ist vergangen, und Sie sind mit Stop-and-go gerade einmal zwei Kilometer weitergekommen. Sie sind in leichter Panik, sogar die Musik nervt Sie. Eine typische Stresssituation, in der das Nervensystem Alarm schlägt und den Körper auf Kampf oder Flucht vorbereitet. Ihr Stresspegel ist wahrscheinlich auf 6 oder 6,5 angestiegen. Doch noch hoffen Sie, dass sich der Stau schnell auflöst. Sie haben noch nicht das Gefühl, der Situation völlig ausgeliefert zu sein. Noch sind Sie im grünen Bereich.
Nehmen wir an, Sie hören jetzt im Verkehrsfunk, dass Sie in einem zehn Kilometer langen Stau stecken und keine Chance haben, rechtzeitig zum Flughafen zu kommen. Die meisten von uns empfinden in einem solchen Augenblick massiven Stress und ein Gefühl großer Hilflosigkeit – auf der Skala vielleicht 7 oder 8. Auch wenn Sie sich mit dem Verstand sagen, dass nichts wirklich Schlimmes passiert, reagiert Ihr Körper mit Alarm. Das Schlimmste dabei ist das Gefühl von Hilflosigkeit. Sie sind geladen, können aber nichts tun und bleiben auf Ihrem Stress sitzen. Jetzt sind Sie im roten Bereich.
Nach einer Weile fällt Ihnen ein, dass Sie mit Ihrem Handy im Internet nachsehen könnten, ob das Flugzeug Ihrer Freundin pünktlich ankommt. Sie haben Glück: Es hat eine Stunde Verspätung. Bis dahin schaffen Sie es sicher, am Flughafen zu sein. Schon dieser Gedanke genügt, um Sie aus der Hilflosigkeit wieder in die Kraft zu katapultieren. Sie ärgern sich kurz über sich selbst, dass Sie nicht schon zu Hause auf die Idee gekommen sind, den Flugplan zu checken, aber die Erleichterung überwiegt schnell wieder. Sie beruhigen sich, Ihr Stresspegel fällt wieder in den...