3. Das Wie und das Was
Kunst ist geformter Ausdruck von Bewusstseinsinhalten. Ohne das Wie der Form wäre das Ausgedrückte keine Kunst, ohne das Was des Inhalts gäbe es nichts Geformtes. Die Qualität der Form beurteilt man nach ihrem ästhetischen Wert, die des Inhalts nach seiner Bedeutung. Goethes kleines Gedicht «Über allen Gipfeln» gehört zu den formal vollendetsten Werken der deutschen Lyrik, denn darin lässt sich keine einzige Silbe zum Besseren verändern. Demgegenüber darf man sich bei Faust II durchaus fragen, ob diese Dichtung nicht durch Streichungen gewinnen würde. Dennoch ist sie unzweifelhaft bedeutender als das kleine Gedicht. Das Verhältnis von Form und Inhalt ist das zentrale Problem aller Künste, insbesondere aber der Literatur, denn deren Material sind Wörter, die einerseits aus sinnlich wirksamen Lauten bestehen und andererseits Bedeutung kommunizieren. Da eine getrennte Betrachtung von Form und Inhalt dazu verführt, sich die Form als ein Gefäß vorzustellen, in das ein Inhalt gefüllt wurde, werden in der Literaturwissenschaft die beiden Begriffe gern durch Gestalt und Gehalt ersetzt, weil damit eine festere Verbindung zwischen beiden ausgedrückt wird. Entscheidend ist, die Gestalt eines Kunstwerks als Teil seines Gehalts zu verstehen.
Für die Musik ist das selbstverständlich, denn deren Gehalt besteht ausschließlich aus der hörbaren Gestalt. Auch in der bildenden Kunst nehmen wir zuerst die sichtbare Gestalt wahr, und erst, wenn uns diese beeindruckt, denken wir über den Gehalt nach. Selbst in der Lyrik haben sich die Gedichte, die in Anthologien von Generation zu Generation weitergereicht werden, vor allem auf Grund ihrer formalen Vollendung gegen die vielen vergessenen durchgesetzt. Dennoch besteht hier in stärkerem Maß als in Musik und Malerei die Tendenz, dem Inhalt mehr Beachtung zu schenken. Unter den Lieblingsgedichten der Deutschen kam das folgende von Hermann Hesse auf den ersten Platz:
Stufen
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …
Wohlan, denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
Die hohe Wertschätzung für das Gedicht bezeugt nicht nur das Votum der Hörer des WDR, sondern auch die Tatsache, dass daraus der Satz «jedem Anfang wohnt ein Zauber inne» oft zitiert wird. Doch Literaturkritiker werden dem Urteil des Publikums kaum beipflichten. Das Gedicht ist nicht schlecht, aber auch kein Spitzenwerk, sondern gut gemachte Erbauungslyrik und genau deswegen so beliebt. Viele Leser erwarten von Gedichten das, was man Lebenshilfe nennt. Als gut empfinden sie solche, die auf prägnante Weise gute Gefühle ausdrücken und zu guten Taten anhalten. Doch man sollte bedenken, dass sich diese Erwartung leicht manipulieren lässt. In Kriegszeiten wurde mit populären Versen der Patriotismus beflügelt und in ideologischen Auseinandersetzungen wurden sie zur Propaganda eingesetzt. Auch den gutgemeinten religiösen Texten haftet oft etwas an, das nichtreligiöse Menschen als falsche Tröstung empfinden. Wann also ist ein Gedicht nicht nur ethisch gut gemeint, sondern auch im ästhetischen Sinn gut gemacht? Vielleicht hilft ein Beispiel von Goethe weiter. Im West-östlichen Divan findet sich das folgende, das in seiner Kernaussage dem Gedicht Hesses nahekommt und doch von ganz anderer Art ist.
Selige Sehnsucht
Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebend’ge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.
In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Kerze leuchtet.
Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.
Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du, Schmetterling, verbrannt.
Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und Werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
Hier wird nicht das optimistische Vertrauen in Stufen, die zu höherem Sein führen, verkündet, es geht vielmehr um das risikobereite Wagnis dem Licht zuzustreben, auf die Gefahr hin, in der Flamme zu verbrennen. Das Gedicht ist ambivalenter als Hesses. Zudem vertraut es mehr auf die Kraft des Poetischen. Hesses Gedicht «redet» mit poetischen Mitteln, Goethes «bildet» das Auszudrückende gemäß seiner eigenen Forderung, die er in einem anderen Gedicht ausspricht:
Bilde Künstler, rede nicht,
nur ein Hauch sei dein Gedicht.
Für Goethe-Kenner gehört das Gedicht zum Kernbestand seiner Dichtung, da es Ausdruck von etwas ist, das er als das Dämonische bezeichnete, ein Begriff, der im Zentrum seiner persönlichen Lebensphilosophie stand. Das Gedicht gilt zugleich als eines seiner schwierigsten, denn es scheint sich selbst zu widersprechen: wie kann aus dem verbrannten Schmetterling etwas Neues werden? Das Motiv des verbrennenden Schmetterlings war in der persischen Lyrik, durch die Goethe zu seinem West-Östlichen Divan angeregt wurde, weit verbreitet. Liest man das Gedicht mit dem so genannten gesunden Menschenverstand, scheint es sich zu widersprechen. Wer von Dichtung eindeutigen Sinn erwartet, muss sich gerade bei den besten Werken auf Enttäuschung gefasst machen, denn sie bleiben oft ambivalent und scheinen Ja und Nein zur gleichen Zeit zu sagen. Der englische Dichter und Literaturtheoretiker Samuel Taylor Coleridge prägte 1817 den seitdem oft zitierten und zu einer Art Fachbegriff gewordenen Ausdruck: willing suspension of disbelief (willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit). Was Leser von Märchen und fantastischen Erzählungen bereitwillig tun, wenn sie sich auf deren unrealistische Wirklichkeit einlassen, gilt auch für alle anderen Literaturgattungen. Dichtung will keine eindeutigen Wahrheiten vermitteln, sondern Einsichten eröffnen, die widersprüchlich sein können. So wie man bei einem tragischen Helden auf der Bühne zwischen Einsicht in seine Schuld und Sympathie für seine Person hin- und hergerissen ist, so wird man auch im obigen Gedicht beides zugleich spüren: das Risiko der Selbstpreisgabe und die daraus entspringende Kraft zu lebenssteigerndem Werden. Solche Ambivalenzen sind das, was den inhaltlichen Wert guter Gedichte ausmacht und was Dichtung von Wissenschaft und Philosophie unterscheidet. Von diesen erwarten wir kognitive Erkenntnis, d.h. eindeutige Wahrheitsaussagen, von Dichtung dagegen ein affektives Erlebnis, das uns eine komplexe Lebenswirklichkeit erfahren lässt.
Inhalt ist aber nur die eine Seite. Ein Gedicht mag noch so gedankenreich und ambivalent sein: wenn es nicht zugleich eine vollendete Form hat, wird man es kaum für gut halten. Wäre es anders, würden die Dichter nicht so große Mühe darauf verwenden, ihrem Werk die optimale Sprachgestalt zu geben. Ein Musterbeispiel für diese handwerkliche Arbeit ist C. F. Meyers Gedicht «Der römische Brunnen», das zu den...