8. Ist Gerechtigkeit eine Tugend?
In Gesellschaften wie der deutschen, deren oberstes Prinzip Gleichheit vor dem Recht und also Gleichheit vor dem Gesetz ist, kann Gerechtigkeit nur ein moralisches Instrument der Vermessung von Unterschieden sein. Gerechtigkeit ist weder die Instinktleistung eines Tiers noch der Wille einer höheren Geistigkeit. Sie ist die moralisierte Rationalität des Menschen auf umkämpfter Erde. Vielleicht ist das Gerechtigkeitsempfinden eine anthropologische Grundkonstante. Vielleicht macht Gerechtigkeit den Menschen zum Menschen, während das Tier deswegen Tier bleibt, weil es keinen Gerechtigkeitssinn besitzt. Oder es besitzt sehr wohl einen Sinn für Gerechtigkeit, der aber vielmehr ein Instinkt ist, sich so zu verhalten, dass die natürliche Hierarchie gewahrt und das Leittier anerkannt bleibt.
Das Tier im Menschen nun böte, zoologisch gesprochen, den Solidaritätsinstinkt auf, während der durchrationalisierte Homo sapiens sapiens um diesen Instinkt weiß und daraus die praktischen Konsequenzen zieht. Gerechtigkeit des Menschen als Animal rationale begründete sich folglich durch die Verstandesfähigkeit des Menschen als Animal sociale, der sein Handeln an Normen größerer Netzwerkverbände ausrichtet. Aber mit welcher Motivation? Egoismus? Haben durch Teilen? Teilen und herrschen? Ist Gerechtigkeit vielleicht doch eine sehr rationalisierte Tugend, und dann die edelste und höchste, die dem Menschen zur Verfügung steht?
Vier Namen stehen Pate für vier große historische Leitlinien der Gerechtigkeit zwischen individueller Tugend und Institution. Vier Geistes-Giganten versorgen bis heute jedes Räsonnement über das gute und womöglich richtige Leben mit Weisheit und Tiefe. Keine Reflexion über die Grundlagen der Gerechtigkeit kann es sich leisten, Platon, Aristoteles, Jeremy Bentham und John Rawls nicht für mindestens einen kurzen Moment in Betracht zu ziehen.
Platon
Platon stellt Gerechtigkeit ins Zentrum einer Metaphysik des Guten. Die Idee des Guten schließt das Gerechte in sich ein. Was gut ist, ist gerecht; was gerecht ist, ist gut. Platon nimmt den Göttern die Gerechtigkeit aus der Hand und säkularisiert sie zur Philosophie. Ihr zufolge ist es der Mensch, der für Gerechtigkeit verantwortlich zeichnet. Gerechtigkeit ist neben Besonnenheit, Weisheit und Tapferkeit eine der vier Haupttugenden einer sozialen Ordnung. Für Platon ist ein Gemeinwesen dann gerecht, wenn jeder der Aufgabe nachkommt, die seinen vortrefflichen Fähigkeiten entspricht. Um Gerechtigkeit vollziehen zu können, ist es unabdingbar, an die Behauptung zu glauben, dass nur der Gerechte glücklich sei. Der Glaube ist auch dann wichtig, wenn die Behauptung gar nicht wahr sein sollte. Gerechtigkeit als das absolut Gute nun kann man begrifflich nicht fassen und also nicht begreifen. Man kann es sinnlich nicht erfahren und rational nicht erkennen. Gerechtigkeit folgt aus der Ableitung eines höheren Prinzips, und dieses Prinzip bleibt Geheimnis. Wohl dem Gemeinwesen, das von Philosophenkönigen regiert wird, denn diese verfügen im platonischen Verständnis über den Sinn für Gerechtigkeit!
Aristoteles
Für Aristoteles ist Gerechtigkeit etwas reichlich Geheimnisloses, nämlich eine individuelle Tugend. Sie braucht weder Religion, Theologie noch Metaphysik und handelt von der Art und Weise, wie der einzelne Mensch mit den Ansprüchen der anderen umgeht und sich zu ihnen verhält. Aristotelische Gerechtigkeit bezieht sich auf soziale Harmonie und den selbstgewählten Gehorsam gegenüber dem Regelwerk der Sitte und des Gesetzes. Gerechtigkeit im aristotelischen Sinne ist rechtsstaatliche Gerechtigkeit, gemäß dem Satz: Gleiche gleich und Ungleiche ungleich zu behandeln. Wer ethisch größere Verdienste um das Gemeinwesen hat, der erhält größere Anerkennung durch das Gemeinwesen etwa in Form höherer Posten.
Individuelle Gerechtigkeit als soziale Tugend ist heute etwas aus der Mode gekommen, war in der Antike aber ein Leitwert: die Qualität eines Individuums, das sich die Kompetenz zu freiwilliger Rechtschaffenheit erworben hat. Man könnte sagen: Aristotelische Gerechtigkeit entsteht durch Selbstverantwortung des Individuums gegenüber der Gemeinschaft. Sie ist zentraler Teil einer sozialen Ethik der maßvollen Mitte.
Jeremy Bentham
»Wenn Gerechtigkeit Glück ist, dann ist eine gerechte Gesellschaftsordnung unmöglich, solange Gerechtigkeit so viel wie individuelles Glück bedeutet. Aber eine gerechte Gesellschaftsordnung ist selbst unter der Voraussetzung unmöglich, dass sie zwar nicht das individuelle Glück aller, aber das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl herbeizuführen sucht.«
So lautet die legendäre Definition des englischen Ökonomen, Juristen und Philosophen Jeremy Bentham, der im frühen und mittleren 19. Jahrhundert (weitergeführt von John Stuart Mill) den Utilitarismus begründet hat. Dem zufolge ist gerecht, was Nutzen maximiert und zum größten Wohl der meisten beiträgt. Die utilitaristische Gerechtigkeitsvorstellung ist jene einer Gerechtigkeit der meisten. Nach Bentham ist Nutzenmaximierung gleich Glücksmaximierung, eine mathematische Summierung von Glück über die Summe der größten Zahl seiner Profiteure. Aber der Nutzen für den einen muss noch lange nicht ein Nutzen für den anderen, das Glück des einen muss noch lange nicht das Glück des anderen, das der Masse noch lange nicht das jedes Individuums sein, auch wenn wohl relativ schnell Einigkeit darüber zu erzielen wäre, dass die Vermeidung von Schmerz ein Ziel sei, dem unabhängig von Geschlecht, Religionszugehörigkeit, Hautfarbe und sexueller Orientierung so gut wie alle zustimmen könnten, wohingegen sich eine umfassende Zustimmung im Fall von Lustgewinnung etwas differenzierter gestalten dürfte.
Das Problem des Utilitarismus liegt in seiner kühlen Kosten-Nutzen-Kalkulation: Wenn eine einfache Mehrheit erreicht ist, ist das Glück in der Summe mehrheitlich legitimiert und also gut. Gut für die meisten heißt dann gut für alle. Punktum. Das Leiden Einzelner braucht nicht berücksichtigt zu werden, und das Prinzip utilitaristischer Maximierung erlaubt sogar Menschenrechtsverstöße, wenn sie nur der Allgemeinheit zugutekommen. Ist aber etwas, das den Beifall einer großen Mehrzahl findet, allein dadurch schon gut und gerecht? Gerade in einer Demokratie, deren obere Priorität der Minderheitenschutz durch das Mehrheitsprinzip ist, kann nicht allein dadurch gerecht sein, weil es die Begierden einer großen Zahl befriedigt. Und dann ist noch lange nicht gesagt, ob Gerechtigkeit bei 50,1 Prozent zu wirken beginnt – und wer durch welche Messung die entscheidende Dezimale liefert. Der Utilitarismus liegt als intellektuelle Blaupause vornehmlich angelsächsischem Denken zugrunde.
John Rawls
Im Gegensatz zur platonisch-aristotelischen Vormoderne ist das Primat der Gerechtigkeit in der Moderne nicht mehr in der Tugendhaftigkeit des Individuums begründet, sondern im Verfahren sozialer Institutionen. Die berühmteste Theorie der Gerechtigkeit der jüngeren Geschichte stammt aus Kopf und Feder des US-amerikanischen Philosophen John Rawls. »Die Gerechtigkeit«, eröffnet dieser sein wirkmächtiges Opus magnum von 1971, »ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen. Eine noch so elegant und mit sparsamen Mitteln arbeitende Theorie muss fallengelassen oder abgeändert werden, wenn sie nicht wahr ist; ebenso müssen noch so gut funktionierende und wohlabgestimmte Gesetze und Institutionen abgeändert oder abgeschafft werden, wenn sie ungerecht sind.«
Nach Rawls ist die Gesellschaft ein Unternehmen zur Förderung des gegenseitigen Vorteils, gleichermaßen geprägt von Interessenharmonie wie von Konflikten. Interessenharmonie ergebe sich daraus, so Rawls sinngemäß, dass die gesellschaftliche Zusammenarbeit allen ein besseres Leben ermögliche, als wenn sie nur auf ihre eigenen Anstrengungen angewiesen wären. Ein Interessenkonflikt dagegen ergebe sich...