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Was tun?

Vollständige Ausgabe

AutorWladimir Iljitsch Lenin
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl198 Seiten
ISBN9783849625368
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
1902 veröffentlichte Lenin in München die programmatische Schrift Was tun?, unter dem Decknamen 'N. Lenin'. Sie machte ihn unter den Revolutionären bekannt, polarisierte aber auch stark. Denn darin entwarf er das Konzept einer geheim agierenden, disziplinierten und zentralisierten Arbeiterpartei, bestehend aus Berufsrevolutionären. Die Partei sollte in ideologischen und strategischen Fragen geeint auftreten und die Masse der Bevölkerung auf dem Weg zur Revolution anführen. (aus wikipedia.de)

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Leseprobe

e) Die Arbeiterklasse als der Vorkämpfer der Demokratie

 

Wir haben gesehen, daß die umfassendste politische Agitation und folglich auch die Organisierung allseitiger politischer Enthüllungen die unbedingt notwendige und allerdringendste Aufgabe der Arbeit ist, wenn sie eine wahrhaft sozialdemokratische Arbeit sein soll. Doch diese Schlußfolgerung haben wir gezogen, ausgehend allein von dem dringendsten Bedürfnis der Arbeiterklasse nach politischem Wissen und politischer Erziehung. Indes wäre diese Problemstellung allein zu eng, sie würde die allgemein demokratischen Aufgaben jeder Sozialdemokratie schlechthin und der heutigen russischen Sozialdemokratie insbesondere außer acht lassen. Um diesen Satz möglichst konkret zu erläutern, wollen wir versuchen, an die Frage von der Seite heranzugehen, die dem „Ökonomisten“ „am nächsten“ liegt, nämlich der praktischen Seite. „Alle sind damit einverstanden“, daß es notwendig ist, das politische Bewußtsein der Arbeiterklasse zu entwickeln. Es fragt sich, wie das getan werden muß und was erforderlich ist, um es zu tun. Der ökonomische Kampf „stößt“ die Arbeiter nur auf Fragen, die das Verhältnis der Regierung zur Arbeiterklasse betreffen, und wie sehr wir uns auch abmühen mögen mit der Aufgabe, „dem eigentlichen ökonomischen Kampf politischen Charakter zu verleihen“, wir würden es nie zustande bringen, im Rahmen dieser Aufgabe das politische Bewußtsein der Arbeiter (bis zur Höhe des sozialdemokratischen politischen Bewußtseins) zu entwickeln, denn dieser Rahmen selbst ist zu eng. Die Martynowsche Formel ist für uns keineswegs deshalb von Wert, weil sie Martynows Fähigkeit, die Dinge durcheinanderzubringen, illustriert, sondern weil sie den Grundirrtum aller „Ökonomisten“ plastisch zum Ausdruck bringt, nämlich die Überzeugung, daß man das politische Klassenbewußtsein der Arbeiter aus ihrem ökonomischen Kampf sozusagen von innen heraus entwickeln könne, d.h. ausgehend allein (oder zumindest hauptsächlich) von diesem Kampf, basierend allein (oder zumindest hauptsächlich) auf diesem Kampf. Eine solche Auffassung ist grundfalsch – und eben weil die „Ökonomisten“, die uns wegen der gegen sie geführten Polemik zürnen, über den Ursprung der Meinungsverschiedenheiten nicht ordentlich nachdenken wollen, ergibt es sich, daß wir einander buchstäblich nicht verstehen, daß wir verschiedene Sprachen sprechen.

 

Das politische Klassenbewußtsein kann dem Arbeiter nur von außen gebracht werden, das heißt aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern. Das Gebiet, aus dem allein dieses Wissen geschöpft werden kann, sind die Beziehungen aller Klassen und Schichten zum Staat und zur Regierung, sind die Wechselbeziehungen zwischen sämtlichen Klassen. Deshalb darf man auf die Frage: Was ist zu tun, um den Arbeitern politisches Wissen zu vermitteln? – nicht allein die Antwort geben, mit der sich in den meisten Fällen die Praktiker begnügen – von den Praktikern, die zum „Ökonomismus“ neigen, ganz zu schweigen –, nämlich die Antwort: „Zu den Arbeitern gehen“. Um den Arbeitern politisches Wissen zu vermitteln, müssen die Sozialdemokraten in alle Klassen der Bevölkerung gehen, müssen sie die Abteilungen ihrer Armee in alle Richtungen aussenden.

 

Wir wählen absichtlich eine so schroffe Formulierung, drücken uns absichtlich vereinfacht kraß aus, nicht etwa aus dem Wunsch heraus, Paradoxa zu sagen, sondern um die „Ökonomisten“ gehörig auf die Aufgaben „zu stoßen“, die sie in unverzeihlicher Weise vernachlässigen, auf den Unterschied zwischen trade-unionistischer und sozialdemokratischer Politik, den sie nicht verstehen wollen. Darum bitten wir den Leser, sich nicht zu ereifern und uns aufmerksam bis zu Ende anzuhören.

 

Man nehme einen sozialdemokratischen Zirkel von dem Typus, wie er in den letzten Jahren am meisten verbreitet war, und betrachte seine Arbeit. Er hat „Verbindungen mit Arbeitern“ und gibt sich damit zufrieden, er gibt Flugblätter heraus, in denen die Mißstände in den Fabriken, die Begünstigung der Kapitalisten durch die Regierung und die Gewalttaten der Polizei gegeißelt werden; gewöhnlich geht in den Versammlungen die Unterhaltung mit den Arbeitern nie oder fast nie über den Rahmen der gleichen Themen hinaus; Referate und Aussprachen über die Geschichte der revolutionären Bewegung, über die Innen- und Außenpolitik unserer Regierung, über Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung Rußlands und Europas und über die Stellung der verschiedenen Klassen in der modernen Gesellschaft usw. sind eine überaus große Seltenheit; niemand denkt daran, systematisch Verbindungen in anderen Gesellschaftsklassen anzuknüpfen und sie auszubauen. Im Grunde genommen schwebt den Mitgliedern eines solchen Zirkels in den meisten Fällen als Ideal eines Funktionärs viel eher so etwas wie der Sekretär einer Trade-Union vor als der sozialistische politische Führer. Denn der Sekretär einer beliebigen, beispielsweise englischen Trade-Union hilft den Arbeitern stets, den ökonomischen Kampf zu führen, organisiert Fabrikenthüllungen, erläutert die Ungerechtigkeit von Gesetzen und Maßnahmen, die die Streikfreiheit und die Aufstellung von Streikposten (um jedermann zur Kenntnis zu bringen, daß in dem betreffenden Betrieb gestreikt wird) behindern, klärt über die Voreingenommenheit der Schiedsrichter auf, die den bürgerlichen Klassen des Volkes angehören usw. usf. Mit einem Wort, jeder Sekretär einer Trade-Union führt „den ökonomischen Kampf gegen die Unternehmer und gegen die Regierung“ und hilft ihn führen. Man kann nicht genug betonen, daß das noch nicht Sozialdemokratismus ist, daß das Ideal eines Sozialdemokraten nicht der Sekretär einer Trade-Union, sondern der Volkstribun sein muß, der es versteht, auf alle Erscheinungen der Willkür und Unterdrückung zu reagieren, wo sie auch auftreten mögen, welche Schicht oder Klasse sie auch betreffen mögen, der es versteht, an allen diesen Erscheinungen das Gesamtbild der Polizeiwillkür und der kapitalistischen Ausbeutung zu zeigen, der es versteht, jede Kleinigkeit zu benutzen, um vor aller Welt seine sozialistischen Überzeugungen und seine demokratischen Forderungen darzulegen, um allen und jedermann die welthistorische Bedeutung des Befreiungskampfes des Proletariats klarzumachen. Man vergleiche zum Beispiel solche Männer wie Robert Knight (bekannter Sekretär und Führer des Verbandes der Kesselschmiede, einer der mächtigsten englischen Trade-Unions) und Wilhelm Liebknecht, und man versuche auf sie jene Gegenüberstellung anzuwenden, in die Martynow seine Meinungsverschiedenheit mit der Iskra faßt. Man wird sehen – ich beginne Martynows Artikel durchzublättern –, daß R. Knight viel mehr „an die Massen den Appell zu gewissen konkreten Aktionen“ richtete (39), während W. Liebknecht sich viel mehr „mit der revolutionären Beleuchtung des ganzen bestehenden Regimes oder seiner Teilerscheinungen“ befaßte (38/39); daß R. Knight „die nächsten Forderungen des Proletariats formulierte und auf die Mittel zu ihrer Verwirklichung hinwies“ (41), während W. Liebknecht, der dies auch tat, nicht darauf verzichtete, „gleichzeitig die aktive Tätigkeit der verschiedenen oppositionellen Schichten zu leiten“ und „ihnen ein positives Aktionsprogramm zu diktieren“  (41); daß R. Knight bestrebt war, eben „nach Möglichkeit dem eigentlichen ökonomischen Kampf politischen Charakter zu verleihen“ (42), und es ausgezeichnet verstand, „an die Regierung konkrete Forderungen zu stellen, die gewisse greifbare Resultate verheißen“ (43), während W. Liebknecht sich viel mehr mit „einseitigen“ „Enthüllungen“ (40) befaßte; daß R. Knight der „Vorwärtsbewegung des unscheinbaren Tageskampf es“ (61), W. Liebknecht aber „der Propaganda glänzender und vollendeter Ideen“ mehr Bedeutung beimaß (61); daß W. Liebknecht aus der von ihm geleiteten Zeitung gerade „das Organ der revolutionären Opposition“ machte, „das unsere Zustände enthüllt, vor allem die politischen Zustände, soweit sie mit den Interessen der verschiedensten Bevölkerungsschichten kollidieren“ (63), während R. Knight „für die Arbeitersache in enger organischer Verbindung mit dem proletarischen Kampf arbeitete“ (63) – wenn man „die enge und organische Verbindung“ im Sinne jener Anbetung der Spontaneität versteht, wie wir sie oben an den Beispielen Kritschewskis und Martynows untersucht haben – und „die Sphäre seiner Einwirkung einengte“, weil er natürlich ebenso wie Martynow davon überzeugt war, daß er „dadurch die Einwirkung selber komplizierte“ (63). Kurz und gut, man wird sehen, daß Martynow. de facto die Sozialdemokratie zum Trade-Unionismus degradiert, obgleich er das natürlich keineswegs deshalb tut, weil er etwa der Sozialdemokratie nicht das Beste wünscht, sondern einfach, weil er sich ein wenig beeilt hat, Plechanow zu vertiefen, anstatt sich die Mühe zu machen, Plechanow zu verstehen.

 

Doch kehren wir zu unserer Darstellung zurück. Wir haben gesagt, daß ein Sozialdemokrat, der nicht nur in Worten für die Notwendigkeit einer allseitigen Entwicklung des politischen Bewußtseins des Proletariats eintritt, „in alle Klassen der Bevölkerung gehen“ muß. Es entstehen die Fragen: Wie ist das zu machen? Haben wir die Kräfte dazu? Ist...

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