Einleitung
Seit es menschliche Gesellschaften gibt, geht in den Menschen, die in ihnen leben, eine Veränderung vor: Sie betrachten sich selbst als etwas Besonderes. Nun wäre nichts dagegen einzuwenden, dass die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft das kollektive Selbstbewusstsein stärkt, wenn nicht noch etwas anderes geschähe: Gleichzeitig erfährt das Fremde eine noch radikalere, manchmal verhängnisvolle Transformation. In der Vorstellung der Insider können sich Außenstehende, ja ganze Gruppen von anderen in Untermenschen oder gar Ungeziefer verwandeln.
Fremde als so verachtenswert anzusehen, dass man sie wie Insekten zertreten kann, ist Geschichte. Gehen wir in das Jahr 1854 zurück, ins Washington Territory. Seattle, Häuptling des Stammes der Suquamish und Namenspatron der kurz zuvor gegründeten Stadt, hatte Isaac Stevens, dem gerade ernannten Gouverneur, zugehört, der vor den Stammesältesten gesprochen hatte. Stevens hatte erklärt, man werde die Suquamish in ein Reservat umsiedeln. Als Seattle aufstand, um dem Gouverneur zu antworten, überragte er den kleingewachsenen Mann. In seiner Muttersprache Duwamish beklagte er die Kluft zwischen den beiden Gesellschaften und erkannte an, dass die Tage der Suquamish gezählt seien. Aber er nahm die Nachricht mit stoischer Ruhe: »Stamm folgt auf Stamm, und Nation folgt auf Nation wie die Wellen des Meeres. Das ist die Ordnung der Natur, und sie zu bedauern ist nutzlos.«[1]
Als Freilandbiologe verdiene ich meinen Lebensunterhalt damit, über die Ordnung der Natur nachzudenken. Während ich das menschliche Zusammenleben in Stämmen und Staaten erforschte, hat mich das Konzept der »Gesellschaft« immer beschäftigt. Und das Phänomen der Fremdheit faszinierte mich ganz besonders: Wie es objektiv geringfügige Unterschiede zwischen Einzelnen zu Abgründen zwischen den Menschen macht, deren Auswirkungen in alle Bereiche des Lebens eindringen, von der Ökologie bis zur Politik. Mit Was uns zusammenhält: Eine Naturgeschichte der Gesellschaft möchte ich einen möglichst großen Teil dieses breiten Spektrums abdecken; dazu untersuche ich das Wesen von Tiergesellschaften, einschließlich derjenigen der Menschen. Meine These lautet: Menschliche Gesellschaften ähneln denen sozialer Insekten stärker, als wir gern glauben möchten.
In den Gesellschaften der Menschen kann jede Kleinigkeit Fremdheit signalisieren. In Indien erntete ich entsetzte Blicke, als ich mein Essen in die falsche Hand nahm, und im Iran erzielte ich die gleiche Wirkung, als ich zustimmend nickte, wo ein Nicken für die Einheimischen eine Verneinung bedeutet. Im Hochland von Neuguinea saß ich auf einem Moosteppich und sah mir zusammen mit der ganzen Dorfgemeinschaft auf einem uralten Fernsehgerät, das mit einer Autobatterie betrieben wurde, die Muppet Show an. Alle wussten, dass ich aus Amerika kam, und da die Muppet Show etwas Amerikanisches war, blickten mich alle Männer und Frauen fragend an, als ein Schwein – eine Spezies, die sie verehren – in Kleid und High Heels auf dem Bildschirm herumtanzte. Ich rettete mich während des Volksaufstandes der Tamilen in Sri Lanka durch Reden vor Maschinengewehren und schwitzte, als argwöhnische bolivianische Bürokraten herauszufinden versuchten, wer diese seltsame Person war und was ich in ihrem Land tat – oder was sie mir erlauben sollten. Zu Hause habe ich gesehen, wie amerikanische Mitbürger auf Außenseiter ebenfalls mit Unbehagen, Verwirrung und manchmal sogar Wut reagierten. Es ist eine urtümliche Reaktion: Beide Seiten denken, wie seltsam der andere doch ist, obwohl wir uns als Menschen sehr ähnlich sind: zwei Arme, zwei Beine und der Wunsch nach Liebe, Heimat und Familie.
In Was uns zusammenhält: Eine Naturgeschichte der Gesellschaft untersuche ich die Gesellschaftszugehörigkeit als besonderen Bestandteil unseres Ichgefühls und betrachte sie (insbesondere in den letzten Kapiteln) im Zusammenhang mit den Begriffen race[1] und ethnische Zugehörigkeit – Formen der Identität, welche die gleiche Wertigkeit und emotionale Bedeutung erhalten können. Dass unsere Gesellschaften – und auch die ethnische Zugehörigkeit und race – im Vergleich zu anderen Aspekten unserer Identität einen so hohen Stellenwert einnehmen, erscheint absurd. Der Wirtschaftsnobelpreisträger und Philosoph Amartya Sen beispielsweise kann sich nur schwer erklären, warum Menschen ihre Identität in Gruppen zusammenfassen, die wichtiger erscheinen als alles andere. Am Beispiel der tödlichen Konflikte in Ruanda beklagt Sen, dass »ein Hutu-Arbeiter aus [der Hauptstadt] Kigali dem Druck ausgesetzt sein kann, sich selbst nur als Hutu zu begreifen und Tutsis umzubringen, obwohl er doch nicht nur ein Hutu ist, sondern auch Kigalier, Ruander, Afrikaner, Arbeiter und Mensch«.[2] Diese und andere Formen des Zusammenbruchs sind ein Thema in Was uns zusammenhält: Eine Naturgeschichte der Gesellschaft. Wenn die Meinungen darüber, wofür eine Gesellschaft steht und wer zu ihr gehört oder nicht, auseinanderzugehen beginnen, wächst das Misstrauen, und Bindungen lösen sich auf.
Hier kommt einem das Wort »Stammesdenken« oder »Tribalismus« in den Sinn: Es bezeichnet Menschen, die sich durch irgendetwas einander verbunden fühlen, sei es die Begeisterung für Autorennen oder die Leugnung der globalen Erwärmung.[3] Der Stamm in diesem weiter gefassten Sinn ist ein beliebtes Thema für Bestsellerlisten. Aber immer wenn wir von einem Stamm von Hochlandbewohnern in Neuguinea oder von Tribalismus im Hinblick auf unsere eigenen Bindungen an eine Gesellschaft sprechen, haben wir dabei nicht nur im Kopf, wie ein lebenslanges Zugehörigkeitsgefühl bei uns Liebe und Loyalität entstehen lässt, sondern wir denken auch daran, wie es – bezogen auf Außenstehende – Hass, Zerstörung und Verzweiflung fördern kann.
Doch ehe wir uns solchen Themen zuwenden, müssen wir die grundsätzlichste Frage betrachten: Was ist eigentlich eine Gesellschaft? Wie wir dabei erfahren werden, besteht ein wichtiger Unterschied zwischen Sozialverhalten – der positiven Bindung an andere – und der in der Natur viel selteneren Situation, dass eine Spezies getrennte Gruppen bildet, die wir Gesellschaften nennen und die über Generationen hinweg erhalten bleiben. Teil einer Gesellschaft zu sein ist keine Frage der eigenen Entscheidung, normalerweise ist allen klar, wer dazugehört. Außenstehende, deren Fremdheit sich unverkennbar in allem Möglichen zeigt – von Aussehen, Akzent und Gesten über die Einstellung zu Schweinen bis hin zur Frage, ob Trinkgelder als Beleidigung gelten –, werden nur unter Schwierigkeiten aufgenommen, und in vielen Fällen werden sie erst nach längerer Zeit vollständig integriert, manchmal erst nach Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten.
Neben der Familie ist unsere Gesellschaft die Gruppe, der wir uns am häufigsten verpflichtet fühlen, für die wir kämpfen und sterben.[4] Und doch ist die überragende Stellung der Gesellschaft im Alltagsleben nur selten zu erkennen: Sie macht nur einen Teil unseres Ichgefühls und unseres Gespürs für das Anderssein anderer aus. In unserem täglichen Erleben schließen wir uns politischen Parteien, Leseclubs, Pokerrunden oder Teenagercliquen an. Selbst Menschen, die für eine Rundreise in demselben Bus sitzen, fühlen sich ihren Mitreisenden eine Zeitlang stärker verbunden als denen aus einem anderen Bus und arbeiten deshalb als Gruppe zusammen, um eventuelle Probleme zu lösen.[5] Eine Neigung, uns Gruppen anzuschließen, prägt uns als Individuen und war Gegenstand umfangreicher Forschungsarbeiten. Gleichzeitig arbeitet unsere Gesellschaft weiter und wird dabei ebenso leicht übersehen wie der Herzschlag oder die Atmung. In den Vordergrund rückt sie, natürlich, in Zeiten der gemeinsamen Entbehrung oder des gemeinsamen Stolzes. Ein Krieg, ein Terroranschlag oder der Tod einer Führungspersönlichkeit kann eine ganze Generation prägen. Aber selbst in ereignislosen Zeiten prägt unsere Gesellschaft unseren Alltag, sie beeinflusst unsere Überzeugungen und bildet die Grundlage unserer Erfahrungen.
Wenn man über die manchmal unüberwindlichen Unterschiede zwischen Gesellschaften nachdenkt – seien es die Bevölkerungen kontinentweiter Nationen wie der Vereinigten Staaten oder kleine Stämme in Neuguinea –, stellen sich Fragen von größter Wichtigkeit. Sind Gesellschaften und die Etikettierung anderer als Fremde ein Teil der »natürlichen Ordnung« und deshalb unvermeidlich? Sind Gesellschaften, die durch ein Überlegenheitsgefühl zusammengehalten und möglicherweise von anderen Gruppen bedroht werden, immer zum Zusammenbruch verurteilt, wie Seattle annahm, entweder als Folge kriegerischer Auseinandersetzungen mit anderen Gesellschaften oder weil sich unter den eigenen Mitgliedern ein Gefühl der Entfremdung breitmacht?
Was uns zusammenhält: Eine Naturgeschichte der Gesellschaft ist mein Versuch, solche Fragen zu beantworten. Meine Argumentation reicht von der Naturgeschichte über die Vorgeschichte bis zur wechselhaften Geschichte der Zivilisationen – von den Lehmziegelmauern Sumers bis zur elektronischen Weite von Facebook. Verhaltensforscher zerlegen die Interaktionen zwischen Menschen und betrachten sie im schmalen Rahmen unterschiedlicher Zusammenhänge, beispielsweise indem sie mit Strategiespielen herauszufinden versuchen, wie wir uns gegenseitig behandeln. Dagegen wähle ich einen weiter gefassten Ansatz. Die Fragen nach...