Weihnachtsmann ist Kult
Es ist Hochsommer. Ich hole Britta von einem Fortbildungsseminar ab, das an einem brandenburgischen See stattgefunden hat. Wir machen eine Wanderung nach Himmelpfort. Es soll dort religiöse Geheimnisse geben! Wir erwandern uns ein großes, an der Schleuse zwischen Haussee und Stolpsee gelegenes Gelände. Schon von weitem erkennt man dort die Ruinen der verfallenen Klostergebäude. Coeli porta, Himmelpfort, 1299 vom brandenburgischen Herrschergeschlecht der Askanier zur Kolonisierung der Landschaft gegründet, besaß zehn Mühlen und 39 Seen. Die Techniker und Arbeiter des Zisterzienser-Ordens siedelten immer gerne an Orten, wo sie die Bewässerung der umliegenden Ebenen kontrollieren konnten. Wasser, gut kontrolliertes Wasser, nicht zu viel und nicht zu wenig, war damals eines der kostbarsten Güter und ist es noch heute. Die genialen mönchischen Ackerbauern haben Sankt Nikolaus ganz besonders verehrt, den Heiligen des Wassers, der Seefahrer und der freien Wege. Ihre zentrale Schulungsstätte war 1385–1582 das Kollegium zum Hl. Nikolaus in Wien.
Wir entern Himmelpfort, ermüdet von der Wanderung. Auch das Weihnachtspostamt mit seinen Informationsschildern kann uns nicht vom Weg zur nächsten Quelle von Flüssigkeit und Nahrung abbringen. Wir landen im Gemeinschaftshaus des kleinen, stark auf Tourismus angewiesenen Luftkurortes. Vor lauter Hunger entgeht uns erst, was wir dort alles sehen können, ein Weihnachtszimmer mit Schlitten, maskierten Santa-Puppen und geschmückten Kunsttannen, und eine Tafel, aus der hervorgeht, dass sich die Zahl der Briefe, die im Weihnachtspostamt eingehen, zwischen den Jahren 1985 und 2008 sehr gesteigert hat: von drei auf zweihundertachtzigtausend! 20 Mitarbeiterinnen beschäftigt die Post von Himmelpfort im Winter, um jedem Kind eine vorgestanzte Antwort unter seinem Namen zukommen zu lassen. In der Spätphase der DDR wurden das Weihnachtsfest und der damit verbundene Konsum auch offiziell geduldet. Die Weihnachtsfeiertage abzuschaffen hatte man ohnehin nie gewagt. Himmelpfort war seit den 1920er Jahren Luftkurort, und ab den 1950er Jahren gab es dort zahlreiche Schulungsstätten gesellschaftlicher Organisationen der DDR, verbunden mit viel Fremdenverkehr. Manche Besucher werden sich damals gefragt haben, warum der Ort diesen seltsamen Namen trägt. Vielleicht hatten einige auch von den Weihnachtspostämtern gehört, die es schon seit Jahrzehnten im Westen gab. Die ersten Briefe kamen aus Sachsen und Berlin. Postfrau Kornelia „Konni“ Matzke brachte es anscheinend nicht über sich, sie als unzustellbar zurückzuschicken. So fing es an, und jedes Jahr kamen mehr Briefe. 1989 wurde die „Weihnachtspost Himmelpfort“ in die Wendezeit hinübergerettet, ein im Jahre 1991 ausgestrahlter Bericht im damals noch existierenden DFF-Fernsehen zeigte große Wirkung. Heute gehört Himmelpfort zu den acht großen Weihnachtspostämtern Deutschlands, man findet sie zum Beispiel in Himmelsthür in Niedersachsen, in Himmelstadt in Bayern und im nordrhein-westfälischen Engelskirchen. Die Leiterin des Gemeinschaftshauses von Himmelpfort ist eine sportlich gekleidete Frau um die fünfzig, blass, das Gesicht in strenge Falten gelegt. Als Britta und ich uns bei Kaffee und Broten erholt haben, fällt uns wieder ein, dass wir ja Ethnologen sind. Wir versuchen, die Gastgeberin auszufragen. Doch wir beißen auf Granit. „Stimmt es, dass hier sogar ein Schauspieler angestellt wurde, der im November und Dezember den Weihnachtsmann spielt?“ (Das hatten wir vom Nebentisch gehört) – „Dazu kann ich Ihnen nichts sagen, ich kann Ihnen nur eins sagen, nämlich dass Weihnachtsmann hier bei uns im Hause ist.“ Es könnten ja Kinder mithören, und sie könnten dabei auf die Idee kommen, dass der Weihnachtsmann ein Schauspieler ist. „Wie schaffen es die Frauen, in wenigen Wochen je über 10000 Briefe zu beantworten?“ Unsere Gesprächspartnerin spielt ihre Rolle in aller Ruhe weiter. „Fragen Sie bei der Pressestelle der Post! Die machen das hier!“ Die Post will das Briefeschreiben in das Zeitalter des Internet retten, sie verdient an jedem Postverkehr. Wir fragen: „Ach so, die Post verdient daran?“ – „Ich sage Ihnen, Weihnachtsmann ist hier bei uns im Haus, ab Mitte November, und wenn Sie wollen, können Sie ihn hier erleben.“ Sie sagt „Weihnachtsmann“ und nicht „der Weihnachtsmann“ – in demselben Ton sprechen gläubige katholische und evangelische Christen oft von „Kirche“, anstatt „die Kirche“ zu sagen wie die anderen. Unbeirrt schaut sie uns dabei an mit ihren hellblauen Augen. Auch die vom Heimatverein Himmelpfort erstellte Broschüre „Lieber guter Weihnachtsmann“ hält sich streng an diesen Tonfall: „Zum großen Bedauern von Weihnachtsmann und seinen Helferinnen vergessen doch recht viele Briefschreiber, ihren Absender anzugeben, selbst Kindergärtnerinnen und Muttis passiert so etwas. Man weiß hier um die Enttäuschung derer, die keine Antwort bekommen und man bemüht sich um eine Lösung. Da schlägt die große Stunde von ,Oberengel Konni‘, die sich über Telefonauskünfte, Einwohnermeldeämter, Postleitzahlenverzeichnisse … bemüht, den Wohnsitz der Briefschreiber zu ermitteln, manchmal leider vergeblich …“
So steht es mit dem Kult um Weihnachtsmann. Weltweit scheinen ihn viele Kinder für eine reale Figur zu halten, sie sind zwischen dem zweiten und dem sechsten, siebten Lebensjahr, manchmal auch noch etwas älter. In Berlin stammen die Eltern dieser Kinder aus deutschen christlichen oder auch unchristlichen Familien, aus Familien der türkisch-islamischen, der arabisch-sozialistischen oder der arabisch-islamischen Tradition und aus hundert und mehr weiteren Religionen, Lebensstilen und Traditionen. Eltern oder Alleinerziehende, KindergärtnerInnen oder HeimerzieherInnen aus dem Deutschland der 2000er Jahre würden lügen, wenn sie behaupten wollten, dass sie es nicht irgendwann mit Weihnachten und dem Weihnachtsmann zu tun bekommen – und sei es nur in der Form banger oder frecher Fragen der Kinder, die nicht aus christlichen Traditionen stammen und wissen wollen, was das soll und ob sie auch etwas abbekommen werden beim großen Geschenkefest der deutschen Ureinwohner. Allerdings habe ich in Berlin noch nie einen erwachsenen Menschen getroffen, der ernsthaft von der Existenz des Weihnachtsmannes überzeugt war. Manchmal ist es gut, sich in einem fernen Spiegel zu sehen, so fern, dass man sich im ersten Moment kaum wiedererkennt. Der Kult von Weihnachtsmann hat vieles von einer Religion: Gläubige (Kinder); zahlreiche weitere Anhänger, die vielleicht früher geglaubt haben, aber nicht unbedingt von allen Glaubenssätzen dieser Religion überzeugt sein müssen; es gibt heilige Legenden und Glaubenssätze, die man nachsprechen muss, Abzeichen, rituelle Vorschriften, Statuen und Verkleidungen, Zeremonien und ethische Vorschriften. Offiziell sind die im 20. Jahrhundert geformten Kulte um Weihnachtsmann (oder Babbo Natale, Père Noël usw.), um den US-amerikanischen Santa Claus und das in allen Regionen der ehemaligen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken bekannte „Väterchen Frost“ jedoch nicht als Religion erkannt oder anerkannt. Die Anhänger dieser Bräuche würden auch niemals verlangen, dass ihre Kulthandlungen in den Rang einer Religion erhoben werden, dass ihre Gesandten an den Verhandlungen des Ökumenischen Rates der Weltreligionen teilnehmen müssten und Ähnliches. Es handelt sich um eine Religion, die dadurch gekennzeichnet ist, dass man zunächst selbst daran glaubt, dann eines Tages den Glauben verliert, doch das nur, um ein paar Jahre später wieder andere in ihrem Glauben zu bestärken. Viele nichtgläubige Förderer des Glaubens an Weihnachtsmann haben als Kinder nicht einmal selbst geglaubt, wenn sie z.B. aus der Türkei stammen oder aus Ostdeutschland. Wie bei jeder Religion gibt es scheinbar absurde Grundsätze, die von den religiösen Praktikern nicht diskutiert werden. Ein alter Mann, irgendwo am Nordpol beheimatet, soll in einer einzigen Nacht des Jahres allen Kindern der Welt Geschenke bringen? Er soll Millionen von Briefen lesen, die aus Weihnachtspostämtern sämtlicher herkömmlicher Industriestaaten von Bayern bis Alaska an ihn weitergeleitet werden? Selbst wenn flugbegabte Rentiere wirklich seinen Schlitten durch die Lüfte ziehen würden, wie wäre all das machbar? Weihnachtsmann erscheint als übernatürliche Macht, die irgendwo zwischen Glauben und Nichtmehrglauben aktiv wird und fliegt und schenkt. Manche sagen, hier würde einfach die materielle Macht der Konsumgesellschaft verzaubert und verschleiert. Aber hinter diesem Brimborium scheint wiederum die Macht der Selbstlosigkeit und der Fürsorge zu stehen, welche Eltern ihren Kindern oder alle Erwachsene allen Kindern der Welt entgegenbringen wollen oder sollten, und gerade nicht kalte Berechnung. Warum verstecken sich Eltern und Erzieher hinter einer idealen Gestalt, hinter dem alten Mann? Jenseits der rein materiellen Interessen einzelner Menschen werden Zukunftshoffnungen sichtbar, Wünsche nach ewiger Fortsetzung des Lebens. Ähnlichen Wünschen und Hoffnungen unserer prähistorischen, antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Vorfahren verdanken wir, dass wir heute da sein können. Religionen sind Aussagen und Handlungen, die sich auf etwas beziehen, was angeblich nicht zur Natur und Kultur gehört – Nichtalltägliches, Unreales, Übermächtiges. Doch ihre Überzeugungskraft ziehen sie in paradoxer Weise aus der Wirkung...