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E-Book

Unter Weißen

Was es heißt, privilegiert zu sein

AutorMohamed Amjahid
VerlagHanser Berlin
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783446256323
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Wie erlebt jemand Deutschland, der dazugehört, aber für viele anders aussieht? Mohamed Amjahid, Sohn marokkanischer Gastarbeiter und als Journalist bei einer deutschen Zeitung unfreiwillig 'Integrationsvorbild', wird täglich mit der Tatsache konfrontiert, dass er nicht-weiß ist. Er hält der weißen Mehrheitsgesellschaft den Spiegel vor und zeigt, dass sich diskriminierendes Verhalten und rassistische Vorurteile keineswegs bloß bei unverbesserlichen Rechten finden, sondern auch bei denen, die sich für aufgeklärt und tolerant halten. Pointiert und selbstironisch macht er deutlich, dass Rassismus viel mit Privilegien zu tun hat - gerade wenn man sich ihrer nicht bewusst ist.

Mohamed Amjahid, 1988 in Frankfurt a. M. geboren, ist politischer Reporter und Redakteur beim ZEITmagazin. Er wurde ausgezeichnet mit dem Alexander-Rhomberg-Preis für Nachwuchsjournalismus und war nominiert für den CNN Journalist Award. Er lebt in Berlin.

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Leseprobe

1 Worum es (mir) geht


Es fällt mir schwer, dieses Buch zu schreiben, und gleichzeitig bin ich davon überzeugt, dass ich es schreiben muss. Fast jeder Tag in Deutschland, fast jede Reise in Europa liefert mir Gründe dafür. Wenn ich mich zum Beispiel in der U-Bahn neben eine Frau setze und sie plötzlich ihre Tasche fest umklammert. Wenn mich schon wieder ein Polizist am Bahnhof zur Routinekontrolle herauspickt. Oder wenn ich bei einer Wohnungsbesichtigung gegen eine Bafög-Empfängerin aus Schwaben den Kürzeren ziehe und mir die Maklerin danach am Telefon erklärt: »Ich habe Ihren Namen gesehen und dachte, Sie seien arbeitslos.«

Solche Erfahrungen mache ich derart häufig, dass ich nicht mehr an Zufall glaube. Immer wieder habe ich mich gefragt, woran es wohl liegen mag: Hat es etwas mit meinem Aussehen zu tun? Mit meinem Namen? Mit meiner Herkunft? Mache ich etwas falsch? Oder bin womöglich gar nicht ich das »Problem«, sondern es sind andere, weil sie ein Problem mit mir haben?

Meine Eltern kamen in den sechziger Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland. Mein Vater schuftete im Schichtbetrieb am Fließband, meine Mutter in Teilzeit als Reinigungskraft. Wir lebten dennoch in ärmlichen Verhältnissen in einer engen Dachgeschosswohnung im Frankfurter Arbeiterviertel Hoechst. Meine Eltern entschieden sich 1995, als ich sieben Jahre alt war, mit meinen zwei älteren Schwestern und mir in ihre Heimat Marokko zurückzukehren.

»Sie haben in Deutschland andauernd auf uns herabgeschaut«, erklärte uns unsere Mutter damals immer wieder. »Wir waren Ausländer, egal, was wir gemacht haben«, sagt sie heute noch. Ich selbst habe dann zwölf Jahre in der mittelmarokkanischen Stadt Meknès die Schule besucht und bin nach dem Abitur wieder nach Deutschland zurückgekommen, um hier zu studieren. Wenn ich mich mit migrationspolitischen Termini beschreiben müsste, so bin ich zweite und erste Einwanderergeneration in einer Person.

Gleichzeitig kann ich mich nicht mit den Gastarbeitern vergleichen, die einst unter ganz anderen Bedingungen nach Deutschland migrierten. Von vornherein war damals klar, welche Position sie in der deutschen Gesellschaft einnehmen sollten – nämlich die ganz unten. Als Jugendlicher war ich wütend auf meine Eltern und den radikalen Bruch mit unserem Umzug nach Marokko. Inzwischen habe ich mehr Verständnis für ihre Entscheidung, die meine Welt von einem Tag auf den anderen aus den Angeln hob, auch wenn ich heute sicher weitaus weniger bürokratische Kämpfe austragen müsste, wenn wir Deutschland damals nicht verlassen hätten. Die Wut meiner Pubertät wich mit meiner Volljährigkeit einer Neugierde, diese segregierte Welt zu verstehen. Ich wollte wissen, wie es zu der Art von gesellschaftlicher Ausgrenzung kommt, wie sie etwa meine Eltern erfahren haben, und herausfinden, was oder wer darüber (mit-)entscheidet, ob eine Person oben oder unten landet. Die Ergebnisse meiner Recherche und der Überlegungen, die in dieses Buch einfließen, bedürfen an vielen Stellen sicher einer weiterführenden Auseinandersetzung; trotzdem helfen sie mir zu verstehen, warum meine Eltern damals gegangen sind. Ich bewege mich heute überwiegend in anderen gesellschaftlichen Kreisen als sie damals, aber viele Diskriminierungen, denen sie seinerzeit ausgesetzt waren, erlebe ich auch heute noch in Deutschland auf ähnliche Weise. Und ich bin nicht allein mit meinen Erfahrungen. Vielen ergeht es so wie mir, und genau deswegen schreibe ich dieses Buch.

Rassismus ist eine Ideologie, die besagt, dass bestimmte Menschen mit bestimmten äußerlichen Merkmalen weniger wert sind als andere Menschen. Rassismus geschieht zugleich ganz konkret, nebenbei, unbewusst, gedankenlos. Ohne nachzudenken, beurteilen wir Menschen nach Kategorien wie Name, Muttersprache, Herkunft, sichtbarer Religionszugehörigkeit oder Hautfarbe. Das ist eine anthropologische Konstante. Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen beschäftigen sich mit der Erforschung von Vorurteilen, etwa die Soziologie, die Psychologie, die Geschichts- und Kulturwissenschaften. Dabei werden jeweils unterschiedliche Ansätze verfolgt. Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass Menschen Rassismus evolutionär erlernt haben.1 Andere, dass Menschen Rassismus quasi in ihrer DNA tragen.2 Wieder andere Forscher wollen bewiesen haben, dass Vorurteile ein rein psychologisches Problem sind und dass stereotypes Denken über Minderheiten mit den eigenen Minderwertigkeitskomplexen, dem eigenen Drang nach Abgrenzung und der Suche nach gesellschaftlicher Bestätigung zu tun hat.3 Sosehr sich diese und andere Erklärungen unterscheiden, eines bleibt unumstritten: Wir alle hegen rassistische Vorurteile. Auch ich. Niemand ist frei von Rassismus.4

Schon im Kindergarten sollen wir Angst vor dem »schwarzen Mann« haben und wegrennen. Bis wir irgendwann wirklich Angst vor schwarzen Menschen empfinden. Wir lernen Rassismus über Fernsehserien, in denen Araber stets Terroristen spielen, Frauen mit Kopftüchern immer bildungsfern sind, Asiaten meistens kichern. Irgendwann sagen wir uns dann: »Die sind so.«

Mich erreichen regelmäßig Leseempfehlungen mit dem Hinweis auf die Rückständigkeit dessen, was einige meiner Leser für meine Kultur halten. Ich werde in Kommentaren in sozialen Medien darüber belehrt, dass die europäische Aufklärung mit ihren bekannten Vordenkern ausschließlich für Toleranz, Rationalität und Weltoffenheit steht. Dabei habe ich mich schon für mein marokkanisches Abitur beispielsweise mit dem Werk Voltaires beschäftigt, um dort unter anderem auf folgende Aussage zu stoßen: »Die Weißen sind den Negern überlegen. So wie die Neger den Affen, und die Affen wiederum Austern überlegen sind.«5

Doch es sind nicht allein solche nach wie vor hartnäckig gepflegte Phantasien »weißer Überlegenheit«, die Menschen wie mir das Leben schwermachen. Ein anderer wichtiger Aspekt, auf den ich bei meiner Suche gestoßen bin, sind Privilegien. Damit meine ich Voraussetzungen oder Rahmenbedingungen, die einen Menschen überhaupt erst in die Lage versetzen, über sich, aber eben auch über andere Entscheidungen zu treffen. Zum Beispiel, ob ein Kind auf ein Gymnasium oder auf eine Hauptschule gehen soll. Ob ein Mensch eine Wohnung bekommt. Oder ob ein Migrant mit Respekt behandelt wird. Privilegien können subtil, unsichtbar, selbstverständlich sein. In diesem Buch will ich sie sichtbar machen und in ihrer Selbstverständlichkeit hinterfragen. Denn eines ist klar: Nur wer relativ zu anderen privilegiert ist, kann überhaupt rassistisch handeln. Oder anders gesagt: Rassismus muss man sich erst mal leisten können.

Ich bin selbst relativ zu anderen Menschen deutlich besser gestellt, gegenüber Geflüchteten zum Beispiel. Dass ich mir dessen bewusst bin, hilft mir sehr bei meiner Arbeit als Reporter, der sich unter anderem mit den Themen Flucht und Migration beschäftigt. Ehrlichkeit gegenüber sich selbst ist eine Voraussetzung, um nach außen glaubhaft seine Standpunkte zu vertreten und ernsthaft Veränderungen einzufordern. Es geht also nicht um den Verzicht auf Privilegien, sondern darum, sich zu positionieren und die Missstände zu benennen. Es geht darum, die Diskriminierungen der »Anderen« überhaupt zu sehen und dann abzubauen.

Ich kenne ein Spiel6, mit dem man herausfindet, ob man mehr oder weniger privilegiert ist. Eine Gruppe von zehn bis fünfzehn Leuten stellt sich in einer Reihe in der Mitte eines Raumes oder irgendwo im Freien auf. Hauptsache, es gibt genügend Platz nach vorne und nach hinten. Der Moderator liest dann sogenannte Privilegien-Fragen vor. Wer mit JA antworten kann, darf einen Schritt nach vorne machen. Bei einem NEIN muss man einen Schritt zurück gehen. Ein paar exemplarische Fragen wären etwa:

  • Haben Sie einen festen Wohnsitz?
  • Sind Sie bislang von sexueller Belästigung verschont geblieben?
  • Gehen Sie einer geregelten Erwerbstätigkeit nach?
  • Können Sie problemlos und legal Ihren Wunschpartner heiraten und gemeinsam ein Kind adoptieren?

Es können beliebig viele Fragen gestellt werden, die alle relevanten Bereiche von Diskriminierung und Privilegierung in unserer Gesellschaft abdecken: Geschlecht, sexuelle Identität, Bildungsstand, Wohnsituation, Gesundheitsstatus und so weiter. Viele Fragen betreffen die Diskriminierung oder Privilegierung aufgrund der Hautfarbe oder einer Migrationserfahrung:

  • Werden Sie von der Polizei ignoriert, wenn Sie an Bahnhöfen und Flughäfen unterwegs sind?
  • Behandeln andere Sie wie jemanden, der selbstverständlich zu Deutschland gehört?
  • Können Sie problemlos ins Ausland reisen?
  • Haben Sie uneingeschränkten Zugang zu Sozialsystemen? Zum Beispiel zur Arbeitslosenhilfe?

Am Ende stehen die Teilnehmenden meist verteilt und weit auseinander: ganz vorne die Privilegierten, ganz hinten die Benachteiligten. Ich habe das Spiel unter anderem einmal bei einem Bildungstag im Roten Rathaus in Berlin mit Schülern durchgespielt, darunter etliche mit Migrationshintergrund. Am Anfang verteilte ich Kärtchen mit fiktiven Personenbeschreibungen: Einzelkind mit zwei Akademikereltern, Kind einer Gastarbeiterfamilie, Tochter einer Kassiererin und eines Lastkraftfahrers, Sohn einer afghanischen Flüchtlingsfamilie, Halbwaise, deren Mutter Hartz-IV-Empfängerin ist. Die Schüler sollten sich in die jeweiligen Rollen versetzen und die Fragen entsprechend beantworten. Auf diese Weise sollte kein Kind denken, es sei ein Verlierer, wenn es ganz hinten landet. Der große Abstand zwischen denen, die am Ende ganz...

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