Erkenntnis und Freiheit
(1953)
Die Formulierung »Wissenschaft und Freiheit« zielt, hier und heute ausgesprochen, auf eine gegnerische Position. Sie ist gemünzt auf einen Gegner, der die Freiheit der Wissenschaft sowohl theoretisch verneint wie auch praktisch gefährdet, einschränkt, zerstört.
Wenn es aber mit dieser Gegnerschaft auf eine geistige Auseinandersetzung abgesehen ist, also nicht auf eine bloße »Demonstration« [der eklatante Bedeutungswandel dieses Wortes »Demonstration« hat eine untergründige Beziehung zum Thema!], dann ist es vonnöten, dass die gegnerische Position erkannt sei, nicht nur in ihrer konkreten Erscheinungsform, sondern in ihrer Wurzel. Erst dann nämlich ist Klarheit darüber zu erwarten, von welcher Art und von welcher Kraft das Gegenargument sein müsste, welches allein eine hinreichende Antwort sein kann, eine die innerste Meinung des Gegners treffende Widerlegung.
Dies ist nicht so generell und nicht so »rein akademisch« gemeint, wie es sich vielleicht zunächst anhört. – Seit den Anfängen des kritischen Schrifttums über den Bolschewismus ist es immer wieder gesagt worden: dass er, der Bolschewismus, keineswegs eine unvermittelt auftretende Absonderlichkeit sei, dass er vielmehr im Grunde »die geheime, verborgene Weltanschauung der bürgerlichen Gesellschaft« selbst offen ausspreche, zum Beispiel die Absolutsetzung der ökonomischen Tätigkeit; dass der Osten formell das Fazit ziehe aus dem, was der Westen tatsächlich denke; dass wir »in unserem wohlberechtigten Kampfe gegen den sowjetischen Sklavenstaat durch eines behindert« seien, dadurch nämlich, dass in unserer eigenen Gesellschaft die gleiche Tendenz lebendig sei. Das sind drei wahllos gegriffene Zitate – aus einem historisch-kritischen Werk über den Bolschewismus, aus einem Gefangenschaftsbericht, aus einer Streitschrift über die Freiheit. Zweifellos handelt es sich dabei um recht zugespitzte Formulierungen. Immerhin, sie geben zu bedenken, dass man sich in der geistigen Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus auf eine einigermaßen verwickelte Situation gefasst machen muss.
Es könnte zum Beispiel geschehen, dass man sich, um der Widerlegung des Gegners willen, plötzlich genötigt sähe, die eigenen Voraussetzungen zu revidieren. Eine Erfahrung von dieser Art wird, wie ich glaube, tatsächlich demjenigen zuteil, der es unternimmt, der Indienstnahme der Wissenschaft durch den totalitären Arbeitsstaat auf den Grund zu gehen. Genauer gesprochen: wer sich gegen diese Indienstnahme wendet, durch welche die Freiheit der Wissenschaft angetastet wird – wer sich hiergegen wendet, nicht in der Weise des politischen Kampfes und des aktiven oder passiven Widerstandes, sondern in der Weise der geistigen Auseinandersetzung [einzig hiervon ist die Rede] –, der sieht sich Argumenten gegenüber, die er nicht anders entkräften kann, als indem er zugleich einige Vorstellungen korrigiert, die schon seit Langem, schon seit Jahrhunderten im Bereich der westlichen Zivilisation mit einer Art Selbstverständlichkeit akzeptiert worden sind. Es sind das Vorstellungen, die dem widersprechen, was bis dahin im Abendlande unangezweifelte Gültigkeit besaß; sie widerstreiten [heißt das] dem, was nicht allein die großen Lehrer der Christenheit – Augustinus nicht anders als Thomas von Aquin –, sondern auch Platon und Aristoteles gedacht haben. Diese alten und jene neuen Vorstellungen betreffen beide sehr präzis unser Thema, nämlich den Sinn von Erkenntnis überhaupt und den Zusammenhang von Erkenntnis und Freiheit.
Was ich also behaupten möchte, ist, in einem bejahenden Satze ausgedrückt, das Folgende: Gegen den Verfall der Freiheit der Wissenschaft, wie er sich im totalitären Arbeitsstaat vollzieht, kann, auf dem Felde der geistigen Auseinandersetzung, nur dann etwas ins Gewicht Fallendes ausgerichtet werden, wenn zugleich einige fundamentale Einsichten wieder realisiert werden, welche in der vor-neuzeitlichen Tradition des Abendlandes formuliert worden sind.
Von diesen Einsichten ist nun, notgedrungen einigermaßen summarisch, zu sprechen. – Eine von ihnen, die wichtigste, findet sich ausgesprochen in der aristotelischen Metaphysik. Auf den ersten Seiten dieses Buches, das ja wohl als eine der »kanonischen« Schriften des abendländischen Geistes bezeichnet werden darf – auf den ersten Seiten schon ist von der Freiheit der Erkenntnis die Rede. Doch muss ich präziser sprechen. Es ist da von einer bestimmten Erkenntnis, von einer bestimmten Erkenntnisbemühung oder Erkenntnisunternehmung gesagt: sie sei, unter allen anderen, auf die höchste Weise frei; ja sogar, sie allein sei frei zu nennen; und zwar sei dies »offenbar« so. Gemeint ist die Erkenntnis, die sich auf das Ganze der Wirklichkeit richtet, auf die Bauform der Welt insgesamt. Gemeint ist die Erwägung der Frage, was das sei: das Wesen und das Sein der Dinge, überhaupt und letzten Grundes. Es ist gemeint die aus der innersten Mitte des Geistes her in Gang gebrachte Zuwendung der Erkenntniskraft zur Gesamtheit dessen, was ist, zum Sinn und Urgrund des Totum alles Wirklichen; das heißt: die Zuwendung der Erkenntniskraft zu ihrem vollen und ungeschmälerten und durch nichts eingeschränkten Gegenstand. Es ist gemeint »Erkenntnis schlechthin«, die nicht auf etwas Einzelnes beschränkt bleibt, in deren Dynamik aber dennoch alle einzelnen Erkenntnisakte, die das Konkrete oder einen besonderen Aspekt der Wirklichkeit meinen, also auch die »wissenschaftliche« Erkenntnis, mithineingerissen sind. Gemeint ist, kurz gesagt, die Erkenntnisweise, die Aristoteles hier die »eigentlichst philosophische« nennt. Es zeigt sich, dass es sich also keineswegs dabei um etwas abgetrennt »Metaphysisches« handelt [Aristoteles kennt und gebraucht bekanntlich diesen Ausdruck überhaupt nicht]. Es handelt sich gerade um den in allen konkreten Erfahrungen und Schlussfolgerungen wirkenden, sie alle einbegreifenden und sammelnden Impetus der »Erkenntniskraft im Ganzen«, sich richtend auf den ihr gemäßen »Gegenstand im Ganzen«.
Diese Gestalt von Erkennen also ist es, von der Aristoteles sagt, sie allein sei frei. Die Frage ist: was heißt hier »frei«? Wir befinden uns durchaus an dem kritischen, an dem neuralgischen Punkt des Problems. »Frei«, so sagt Aristoteles [und damit formuliert er einen vermutlich uralten Gedanken, den zum Beispiel auch sein Lehrer Platon ausgesprochen hatte und der späterhin das ganze abendländische Denken beherrscht] – »frei« bedeutet hier so viel wie »nicht-praktisch«. Praxis besagt Realisierung von Zwecken; das Zweckdienliche ist das Praktische. Jene Erkenntnis aber, die sich auf den Urgrund der Welt richte, sie allein, »diene« nicht zu irgendetwas [das ist die Meinung]; es sei gar nicht einmal möglich und denkbar, sie auf irgendeinen »Gebrauch« zu beziehen: »sie allein nämlich ist um ihrer selbst willen da«. Ebendies nun: nicht für etwas Fremdes dazusein, sondern für sich selbst und um seiner selbst willen – eben dies nennt die Menschensprache »Freiheit«.
Es sind aber, in diesem unerhört konzisen [wenig mehr als zwanzig Zeilen langen] Abschnitt der aristotelischen Metaphysik, sogleich noch einige weitere Kennzeichnungen jener freien und nicht-praktischen Erkenntnis hinzugefügt, die man nicht auslassen darf. Aristoteles fügt Folgendes noch hinzu: die das Ganze der Welt ins Auge fassende Erkenntnis, einzig um ihrer selbst willen geschehend und insofern frei – diese Erkenntnis könne unmöglich dem Menschen ganz und gar gelingen; er bekomme sie nicht völlig in die Hand; sie sei also nicht etwas uneingeschränkt Menschliches, da doch der Mensch selber ein auf so vielfache Weise den Notdürften unterworfenes, ihnen dienstbares Wesen sei. Man müsse geradezu sagen: einzig Gott vermöge diese Erkenntnis völlig zu verwirklichen, wie es ja auch die göttliche Wurzel aller Dinge sei, worauf sie sich richte. Ebendarum aber habe keine andere Wissenschaft solchen Rang und solche Würde wie die philosophische Erkenntnis, obwohl sie alle notwendiger seien: necessariores omnes, dignior nulla [so heißt es im Latein der versio antiqua]. – Soweit Aristoteles.
Es ist hiermit der Grundriss einer Weltansicht gezeichnet, in welcher der Begriff »Freiheit der Wissenschaft« seinen Ursprung hat. Doch ist mit »Ursprung« nicht allein das historische Herkunftsverhältnis gemeint – wenngleich auch dies gesehen werden muss. Es ist in der Tat so, dass dieses zweite Kapitel der aristotelischen Metaphysik die beiden Begriffe »Freiheit« und »Wissen« zum ersten Mal in der abendländischen Geistesgeschichte miteinander in Zusammenhang gebracht hat. Thomas von Aquin hat, anderthalb Jahrtausende später, in seinem Kommentar zu diesem gleichen Kapitel die Definition der artes liberales formuliert [von diesem Terminus leitet sich bekanntlich der mittelalterliche Name der philosophischen Fakultät her: »Artistenfakultät«]. Und wenn, vor genau hundert Jahren, John Henry Newman in seinem schon klassisch gewordenen Buch »The Idea of a University« von »liberal knowledge or a gentleman’s knowledge« spricht, so stellt er sich damit ausdrücklich in die gleiche Tradition. – Wichtiger aber als die historische Herleitung scheint mir zu sein, dass der Begriff oder vielmehr der Anspruch »Freiheit der Wissenschaft« seine Legitimierung und seine innere Glaubwürdigkeit verlieren muss, wenn er abgetrennt wird von seinem Ursprung, nämlich von dem Fundament jener Weltansicht. Ebendies ist es, was, wie ich glaube, zu Beginn der Neuzeit geschehen ist.
Will man jene zugrunde...