VERLUST UND ERHALT DER BÄUERLICHEN KULTURLANDSCHAFT IN DEN ALPEN
Christoph Hölz
Das Foto auf einer Karteikarte aus dem Bundesdenkmalamt, aufgenommen 1979 vom damaligen Tiroler Landeskonservator Franz Caramelle, irritiert: ein kleines, altes Bauernhaus in Kleinsöll wird zwischen dem schon fertiggestellten neuen Stall und dem noch im Bau befindlichen Bauernhaus rücksichtslos zerquetscht. Beim Betrachter regen sich Protest, Ärger und Unverständnis. Wer tut so etwas? Ist das ein repräsentatives Bild für den Zustand der Baukultur auf dem Land? Auf jeden Fall führt es sofort zum Thema dieser Untersuchung: Verlust und Erhalt der bäuerlichen Kulturlandschaft in den Alpen.
Ausgehend von den zahlreichen Verlusten von Bauernhöfen in den vergangenen Jahrzehnten soll mit „Weiterbauen am Land“, in der Ausstellung und dem gleichnamigen Katalog, Bilanz gezogen werden über die Möglichkeiten des Erhalts der noch existierenden Hoflandschaften in den Alpen. Betrachtet wird der zentrale Alpenraum mit Nord-, Ost- und Südtirol, Vorarlberg, Graubünden und Oberbayern. Insgesamt sieben Institutionen arbeiteten zusammen mit dem Archiv für Baukunst der Universität Innsbruck und den Denkmalämtern in Innsbruck und Bozen in einer grenzüberschreitenden Kooperation. Die beteiligten Mitarbeiter und Autoren berichten aus ihrem täglichen Arbeitsfeld und schöpfen aus dem Fundus ihrer Archive, Sammlungen und Dokumentationen. In ihren Einschätzungen berücksichtigen sie vielfältige Fragestellungen und Problemkreise, von der Raumordnung und Agrartechnik bis zu Denkmal- und Landschaftsschutz.
Die Zielgruppe als Leser und Ausstellungsbesucher ist eine breite Öffentlichkeit, denn die Problematik betrifft uns alle: sowohl die Bevölkerung auf dem Land als auch jene in den Städten, Einheimische und Gäste zugleich; besonders aber jene, die in einem landwirtschaftlichen Umfeld wohnen und arbeiten. An sie möchte sich diese Publikation mit besonderem Nachdruck wenden. Denn letztlich ist diese historische Baukultur auf dem Land nur durch kulturgeschichtliche Bewusstseinsbildung und das Erkennen des Wertes durch die Bauern und Bäuerinnen selbst zu retten.
Wichtige Voraussetzung für diese Bewusstseinsbildung sind historische, denkmalpflegerische und architektonische Untersuchungen, ebenso wie nüchterne statistische Erhebungen. Die ersten Berichte über einzelne Bauernhäuser sowie ganze Hof- und Dorfensembles in Tirol erschienen bereits seit etwa 1800. Wissenschaftliche Bauaufnahmen entstanden jedoch erst im letzten Viertel des 19., verstärkt in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als zahlreiche Bauernhöfe im Auftrag nationalsozialistischer Ämter genau vermessen wurden. Ziel war es damals, für die umgesiedelten Südtiroler Bauern eine Erinnerungsplattform zu schaffen. Noch während des Kriegs, 1940, wurde der erste Bauernhof in Tirol unter Schutz gestellt. Gleichzeitig machten freilich unter ganz anderen Voraussetzungen in der demokratischen Schweiz die Bauforschung und Denkmalpflege bedeutende Fortschritte. Sie bildeten dort viel früher als in Österreich, Italien und Deutschland die Voraussetzung für einen verständnisvollen Umgang mit historisch bedeutsamen Bauten im ländlichen Raum. Auch heute werden mit modernsten Methoden Bauaufnahmen gemacht. Alle diese Bemühungen dienen in erster Linie der Dokumentation der immer weniger werdenden Bauernhöfe. Walter Hauser nennt in seinem Beitrag erschreckende Zahlen und Fakten (siehe Seite 24-29). Was diese Zahlen im Einzelnen bedeuten, zeigt das Fallbeispiel „Gröden“ (Seite 62-65).
Dieses „alte Tirol“ wird in einem Portfolio mit Aufnahmen des Fotografen Stefan Kruckenhauser (1905-1988) noch einmal porträtiert (Seite 30-43 sowie die Abbildungen jeweils zu Beginn der einzelnen Kapitel). Die historischen Bilder zeigen, mit welchem Bestand wir es im mittleren Alpenraum noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg zu tun hatten. Denn die massiven Verluste an regional ausgeprägter Baukultur setzten erst in den späten sechziger Jahren ein, als die staatlich geförderten Eigenheime zusammen mit der wachsenden Mobilität der Bevölkerung und einem zunehmenden Angebot unterschiedlichster Baustoffe die Grundlage für den Einheitsbrei der sogenannten Jodlerhütten mit ihren miserablen Grundrissen und einer schlechten Energiebilanz schuf. Der steigende Wohlstand sorgte für die beliebige, gedankenlose Ausschmückung der Häuser. Eine Entwicklung, wie sie landaus, landein, auch außerhalb Tirols, stattfand. Auf diese Weise gingen nicht nur die charakteristischen Hauslandschaften in den verschiedenen Tälern und Alpenregionen verloren, sondern es wurden auch ganze Ortsbilder zerstört. Zahlreiche Dörfer und Weiler verloren ihre Identität als geschlossene bäuerliche Ensembles und wurden zu Trabanten der Ballungsräume und Tourismuszentren.
Steixnerhof in Amras bei Innsbruck, Aufnahme nach dem ersten Umbau durch Ingo Feßler 1965 zum Kindergarten der Pfarrei Amras (oben). Wer glaubt, dass es nicht noch schlimmer kommen konnte, wird eines Besseren belehrt. Aufnahme nach erneutem Umbau durch Hans Rauth 1972 und Erweiterung zum Pfarr-Jugend-Heim und Kindergarten Amras durch das Hochbau-Planungsamt der Stadt Innsbruck, 1999-2001.
Historische Stube aus dem Johannser Hof in Villanders, unteres Eisacktal, Südtirol. Um 1470 entstandene Stube (ca. 5,5 × 4,8 m) mit flach gewölbter Balkendecke. Seit 1928 museale Präsentation im Tiroler Volkskunstmuseum, Innsbruck. Charakteristisch für zahlreiche historische Stuben ist die fast vollständige Vertäfelung aus Zirben- und Fichtenholz und der gemauerte Tonnenofen mit Ofenbank.
Das Bauen im Bestand, Bauen Neu-Alt ist ein lange vernachlässigtes Gebiet, das auch heute noch nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt wird. Nicht nur in der Praxis, auch an den Universitäten wird dieses Aufgabengebiet nur unzureichend gelehrt. Die Rechnung für diese Nachlässigkeit haben wir schon präsentiert bekommen: die demolierten Höfe in Kleinsöll und Amras führen uns das Ausmaß der Zerstörung eindringlich vor Augen.
Als einer der Ersten plädierte Peter Zumthor, Pritzker-Preisträger für Architektur und engagierter Denkmalschützer, für ein sensibles Bauen im Spannungsfeld Alt-Neu. Dabei argumentiert er mit dem „Gefühl der Zugehörigkeit“. In einem Interview mit dem „Spiegel“ im Dezember 2010 bekannte er erneut: „Ich bin ein Fan von alten Bauten, die einen Ort prägen, ohne die man sich diesen Ort gar nicht vorstellen kann. […] Die Baukulturen, die Städte, Dörfer, Häuser, mit denen ein Mensch aufwächst, sind Teil seiner Lebensgeschichte und auch ein Teil des Raumes, in dem sein Leben eingebettet ist. […] Stattdessen baut man neu und verpflichtet die Entwürfe […] vor allem dem Gedanken des Geldes. So werden Heimaten zerstört. […] Ich verstehe unter Heimaten Gebäude, die einen emotionalen Wert haben, weil sie an ihrem Ort verankert sind und diesen Ort begründen. […] Nimmt man uns zu viele dieser Häuser weg, wird es ungemütlich.“ Als „bauender Architekt“ versteht er „Bewahren“ selbstverständllich nur als eine Seite der Medaille, „Schaffen“ und „Entwerfen“ als die andere. Aber auch hier findet Zumthor mahnende Worte: „Ich rede auch nicht dem Stillstand, sondern der Achtsamkeit und Behutsamkeit das Wort. Mir, vielleicht uns allen, bedeuten doch nur jene Neubauten etwas, die von ihrer Umgebung aufgenommen werden. Diese Verbindung aus Altem und Neuem zu schaffen ist meine Hauptaufgabe als Architekt. Ich muss spüren, welcher Wesenszug am besten zu einem Ort passt oder was ihm noch fehlt: Erhabenes, Freudiges, Provisorisches, Hartes, Sanftes? Jeder Neubau braucht eine solche Beziehung zu seinem Ort, sonst wirkt er verloren, wurzellos, und diese Stimmung überträgt sich auf die Menschen. Ich versuche daher jedes Mal, etwas nie Dagewesenes zu schaffen, das so aussieht, als wäre es schon immer dagewesen.“
Franz von Defregger, Sarner Spinnstube, 1873, Öl/Leinwand, 59 × 70 cm. Privatbesitz. Der aus Tirol stammende und in München berühmt gewordene Maler Franz von Defregger (1835-1921) trug mit seinen Gemälden maßgeblich dazu bei, die bäuerliche Lebenswelt und besonders die Tiroler Stuben im ganzen deutschsprachigen Raum hoffähig zu machen. Geburtshaus Franz von Defreggers in Stronach, Gemeinde Dölsach in Osttirol. Fotografie um 1880, Albuminpapier. Privatbesitz
Gabriel von Seidl, „Altdeutsche Wohnstube“ in der Kunst- und Kunstgewerbeausstellung aus Anlass des 25-jährigen Bestehens des Bayerischen Kunstgewerbe-Vereins mit der Sonderausstellung „Unserer Väter Werke“, München 1876. Seidl gelang mit diesem Raum ein durchbrechender Erfolg. Neu war die Kombination historischer Formen mit einem neuen Raumgefühl, das vor allem durch die ungewohnte Höhe des Raums, die braune Wandtäfelungen und die großen weißen Wandflächen erzeugt wurde.
Ganz in diesem Sinne macht sich ein neues Verständnis für das Bauen auf dem Land bemerkbar. Immer häufiger setzen sich auch...