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Welche Medizin wollen wir?

Warum wir den Menschen wieder in den Mittelpunkt ärztlichen Handelns stellen müssen

AutorMichael Ridder
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783641123574
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Patientenwohl und Empathie statt Cash flow, Fallpauschale und Bettenpolitik
Die Medizin ist einem Wandel unterworfen. Das Wohl des Patienten ist aus dem Blickfeld geraten, stattdessen wird ärztliches Handeln mehr und mehr von ökonomischen Vorgaben geleitet. Auf der Strecke bleibt dabei vor allem die Zeit: Zeit für ein Gespräch, Zeit für Zuspruch in der Einsamkeit schwerer Krankheit, Zeit für die Erläuterung von Eingriffen, Zeit für die Bewältigung von Angst.

Michael de Ridders eindringliche Schilderungen - auch der Erlebnisse in Zusammenhang mit seiner eigenen Erkrankung - führen uns den eklatanten Mangel an Menschlichkeit im Patientenalltag vor Augen. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung als Arzt kann er den bedenklichen Zustand der Medizin und des Gesundheitssystems genau aufzeigen. Aber er weist auch den Weg in eine patientenfreundlichere Zukunft und macht deutlich, wie das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient wiederhergestellt werden kann.

Michael de Ridder ist seit mehr als dreißig Jahren im ärztlichen Beruf tätig, zuletzt als Chefarzt der Rettungsstelle eines Berliner Krankenhauses und als Geschäftsführer des von ihm mitbegründeten Vivantes Hospiz. Als Vorsitzender einer Stiftung für Palliativmedizin befasst er sich seit vielen Jahren kritisch mit dem Fortschritt in der Medizin und Fragen der Gesundheitspolitik und erörtert dies immer wieder in den Medien, unter anderem in Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Cicero. Bei DVA sind zahlreiche Bücher von ihm erschienen, darunter der viel diskutierte Bestseller »Wie wollen wir sterben?« und zuletzt »Wer sterben will, muss sterben dürfen«. Für sein Wirken wurde er vielfach ausgezeichnet, zuletzt von der Stiftung Gesundheit für sein publizistisches Lebenswerk.

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Leseprobe

Kapitel 1

»Das überleben Sie schon!« – Erste Schritte im weißen Kittel

»Sterben ist noch nicht!« – als Praktikant auf der Geschlossenen und als frischgebackener Arzt auf der Inneren erlebt der Autor unmenschliche und sinnlose Behandlungsmethoden, eine Medizin, unnachgiebig und selbstbezogen. Er selbst muss sich seine Machtlosigkeit eingestehen, kollabiert, zweifelt an der eigenen Berufswahl, schämt sich. Eine erfahrene Schwester ist es, die seinen ersten Nachtdienst nicht zur Katastrophe werden lässt.

Der wehrlose Alte

Mit einem entschlossenen Handgriff, der Ungeduld und zugleich Gnadenlosigkeit verriet, hatte Pfleger Troska den von alten Blutergüssen und Kratzspuren übersäten und von Muskelschwund gezeichneten Arm des verwirrten Greises auf die Bettdecke niedergedrückt und mir wortlos zu verstehen gegeben, nun meinerseits den Arm des sich heftig sträubenden Alten auf der Unterlage zu fixieren, um ihm ungestört eine neue Infusion anlegen zu können. »Der braucht Flüssigkeit. Der rutscht uns sonst ins Delir6 und krepiert … hat sie sich schon zum dritten Mal rausgerissen, die verdammte Braunüle7! Später legen wir seine Handgelenke in Riemen, damit der Unfug hier mal ein Ende hat! Woll’n doch mal sehen, ob wir den nicht zur Räson kriegen! Nicht so widerspenstig sein, Alterchen! Anordnung von ganz oben: Sterben ist noch nicht! Ist doch alles nur zu deinem Besten, nicht wahr? Und jetzt schön stillhalten, mein Gutster!«

Troska umschloss nun mit seiner linken Hand die rechte des Greises, um mit seinem quer über dessen fragilen Handrücken liegenden Daumen die papierne, ein bläulich zartes Venennetz überziehende Haut zu straffen und mit Nitrospray, das üblicherweise zur Behandlung von Angina-Pectoris-Anfällen eingesetzt wird, zu besprühen: »Hat mir mal ein Kardiologe verraten«, murmelte er mir gönnerhaft zu, »das Zeug weitet die Gefäße und so lassen sich bei liegender Stauungsmanschette am Oberarm die Venen besser tasten.« Für deren Punktion war nun alles vorbereitet.

Ein letztes Mal versuchte der gequälte Alte, dessen von Warzen und Pigmentflecken übersäter Oberkörper sich jetzt zitternd und unter heftiger Anspannung halb aufrichtete – »Lazarus-Syndrom!«8 schoss es mir durch den Kopf –, mit einer rotierenden Armbewegung dem drohenden Stich doch noch zu entkommen. Aber schon hatte Troska ebenso routiniert wie unnachgiebig und mit dem Kommando »Stillhalten, Opa, sonst tut’s weh!« die Braunüle in einer Vene seines Unterarms platziert.

Meine erste Stelle als Medizinalassistent in einem Kreiskrankenhaus nahe Hamburg, die ich am 4. April 1979 antrete; mein dritter Tag auf der Inneren Abteilung. Bewusst hatte ich mich für diese »Klitsche in der Pampa« – so hatte einer meiner Kommilitonen verächtlich mein Vorhaben kommentiert, ein kleines Krankenhaus für meinen beruflichen Einstieg zu wählen – entschieden. Denn, so hatte mir einer meiner Tutoren während des Studiums verraten: »Wenn du deine erste Stelle antrittst, such dir eine kleine Klinik. Da wirst du gebraucht, da lernst du mehr und schneller als in der Anonymität einer Großklinik. Und halt dich an die Schwestern und Pfleger! Von denen profitierst du gerade in den ersten Monaten mehr als von den Ärzten, die eifersüchtig auf ihrem Wissen und ihren Fertigkeiten hocken, weil sie in dir schon den künftigen Konkurrenten wittern.« Dies beherzigend hatte ich heute Morgen den Pflegekräften ein Frühstück spendiert. Und Pfleger Troska hatte mich in seiner jovialen Art gleich unter seine Fittiche genommen.

Jetzt stand ich ihm gegenüber auf der anderen Seite des Bettes und drückte halbherzig den Arm des winselnden Greises gegen die Matratze. Flackernden Blicks schaute er Hilfe heischend zu mir empor. Seinen Blick zu erwidern, brachte ich nicht fertig. Ich spürte, dass mit ihm etwas Grausames und Sinnloses geschah. Und ich schämte mich. Auch wenn ich als Novize in der Stationshierarchie ganz unten stand; auch wenn ich nicht einmal wusste, wie man eine Infusion entlüftet, geschweige denn professionell eine Braunüle legt – irgendetwas hätte ich für dieses vor Schmerzen grimassierende, flehende Bündel Mensch, dessen Hände sich jetzt in das Bettlaken krallten, tun müssen. Ich hätte schreien mögen, doch etwas schnürte mir die Kehle zu. Wie schon Jahre zuvor als Praktikant auf der Geschlossenen in der Heil- und Pflegeanstalt Düsseldorf-Grafenberg.

Dieter S., Therapierefraktäre Schizophrenie

Er ist mir noch in guter Erinnerung: Dieter S., 22 Jahre alt. Es war seine fünfte Einweisung in die Psychiatrie – in zwei Jahren. Ich durfte seine Anamnese aufnehmen: »Therapierefraktäre Schizophrenie« lautete die bereits vor vielen Jahren gestellte Diagnose. Alle Versuche, den Ängsten und Wahnvorstellungen dieses jungen Mannes beizukommen, waren gescheitert, doch der Ehrgeiz der Ärzte, ihn zu behandeln, war ungebrochen. »Insulinschock – der letzte Pfeil in unserem Köcher!«, hatte der Oberarzt bei der Morgenbesprechung lauthals verkündet. Durch eine kurzfristige Unterzuckerung, die mit Bewusstlosigkeit und Krämpfen einherging, hoffte man damals, die psychotischen Symptome mildern zu können. Dieter S. hatte diese barbarische Behandlung bei zwei Patienten miterlebt. Seit Tagen schon wusste er, dass auch er ihr unterzogen werden sollte. Verzweiflung, abgrundtiefe Angst hatten ihn ergriffen. »Können Sie mir nicht helfen?«, flehte er mich an. »Ich muss raus hier, bevor sie mit ihren Spritzen kommen und mich fertigmachen, bitte. Sie kommen doch sicher an den Stationsschlüssel?« Nein – das wagte ich nicht. Ich durfte mich nicht zu seinem Komplizen machen; ich musste sein Ansinnen zurückweisen, auch wenn ich mit ihm fühlte. Ich versprach, während der Behandlung nicht von seiner Seite zu weichen und »aufzupassen«.

Am Nachmittag ist es so weit. Der Oberarzt und drei Pfleger, ausgestattet mit Infusionen, Spritzen, Ledermanschetten und einem Gummikeil zur Zungenbissprophylaxe wegen eines möglicherweise auftretenden Krampfanfalls, betreten sein Zimmer. Dieter S. sitzt mit wandweißem Gesicht und aufgerissenen Augen auf der Bettkante. »Nein«, zischt er leise, jeden Muskel seines Körpers anspannend, »nein, niemals!« »Wir sind fünf, Dieter«, sagt der Oberarzt sanft und lächelt dabei, »also sei vernünftig und leg dich aufs Bett, in einer halben Stunde ist alles vorbei.« Und als sei die Bettkante eine Bogensehne, katapultiert sich der Kranke unversehens mit einem verzweifelten Hechtsprung in Richtung der Zimmertür. Vergeblich. Er landet in den Armen der Pfleger, die ihn routiniert zu Boden ringen; einer auf seiner Brust kniend, ein weiterer auf seinen Oberschenkeln, ein dritter streckt gegen den äußersten Widerstand seine linke Ellenbeuge, um dem Oberarzt die Injektionen zu ermöglichen. Laokoon gleich windet sich der Kranke keuchend unter der Übermacht der Arme und Körper seiner Peiniger; livide verfärben sich Hals und Gesicht unter dem Stakkato seiner Atmung, die Kopf- und Halsvenen prallen Schläuchen gleich hervortreten lassen; er schreit, spuckt und beißt, was der wie ein Alb auf seiner Brust hockende Pfleger schließlich mit einem ausholenden Schlag in sein Gesicht und einem »Nicht doch, Dieter!« beantwortet. Dann ist es still. Schon hat der Oberarzt den Stauschlauch an seinem Oberarm angelegt: »Erst das Valium, dann die Insulinspritze bitte …«

Ich stand da, zwischen Tür und Waschbecken, stumm, innerlich bebend – und hatte ein Versprechen nicht gehalten. Eine erste Ahnung von der Selbstbezogenheit und Unnachsichtigkeit der Medizin stieg in mir auf. Mächtig ihre Rituale; unbeteiligt, ja kaltblütig ihr Vorgehen; selbst Gewalttätigkeit war ihrem Behandlungsrepertoire offenbar nicht fremd. »Das alles«, erläuterte mir der Oberarzt beim Verlassen des Raums, »war ausschließlich im Interesse des Patienten und zu seinem Nutzen; es sieht schrecklicher aus, als es ist. Man gewöhnt sich daran.«

Und ich? Wollte, ja musste auch ich künftig Patienten auf diese Weise zur Gesundheit verhelfen?

Vor mir der wehrlose Alte. Unmerklich fast hatte er aufgegeben; mit einem Mal schien aller Widerstand aus seinem ausgemergelten Leib gewichen. Ruhig, ja geradezu friedlich lag er da, mit geschlossenen Augenlidern, eine blasige Speichelspur triefte aus seinem rechten Mundwinkel. Friedlich? Nein – niedergestreckt vor Erschöpfung als Unterlegener in einem ungleichen Kampf! Rhythmisch tropfte die Infusion in seinen Körper. Ich war sicher, der Alte hätte sie zurückgewiesen, hätte man ihn nur gefragt. Aber diese Flasche mit Glucoselösung sollte ihn daran hindern, so ging es mir durch den Kopf, sein Leben zu verlassen, das längst seinem natürlichen Ende entgegenging. Hier jedoch war kein natürliches, und schon gar kein friedliches Ende. Hier tobte – stumm – eine Schlacht!

Herrschaft über Leben und Tod – war es wirklich dieses Klischee, worum es in der Medizin letztlich ging? Durfte nur derjenige sterben, dem sie es gestattete? Wollte sie sich anmaßen, das Lebensende eines Menschen schlechthin zu ignorieren? War ihr nicht vielmehr aufgegeben, allein ein vorzeitiges, ein qualvolles, ein vermeidbares Sterben zu verhindern?

Gemeinsam legten wir seinen zarten Handgelenken schwere gepolsterte Ledermanschetten an und befestigten sie mit breiten Riemen seitlich am Bettrahmen. Erleichtert tätschelte Troska die hohlen Wangen des Alten. »Nun ist alles gut, nichts kann mehr schiefgehen! Jetzt noch in der Neunzehn den Blasenkatheter, dann sind wir fürs Erste durch!« Benommen folgte ich ihm.

Kollaps – mein...

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