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Welche Rolle spielen Schamgefühle im Exhibitionismus? Ein psychoanalytisch orientierter Erklärungsversuch

AutorMartina Juergens
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2006
Seitenanzahl85 Seiten
ISBN9783638532877
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis31,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2001 im Fachbereich Soziale Arbeit / Sozialarbeit, Note: 1,0, Universität Bremen, 43 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: 'Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?' - Jeder kennt diesen Kindervers, der viele dazu verlei-tet, an den schwarz bemantelten Mann zu denken, dem Exhibitionisten, der sich im Park vor Kindern oder Frauen entblößt. Doch hat sich schon einmal jemand gefragt, wovor der schwarze Mann sich ängstigt, oder was ihn zu einer solchen Handlung bewegt? Schämt er sich gar nicht? Im Zeitalter des Zur-Schau-Stellens, in dem die Sexualmoral zu schwinden scheint, sind Exhibi-tionisten fast schon ins Komische abgedrängt und so gut wie überholt. Die heutigen sexuellen Verhältnisse haben sie um das Schockierende ihrer Existenz gebracht. Ist die reale Begegnung zwischen dem Exhibitionisten und seinem Opfer wirklich ohne Scham? Kommen der Exhibitio-nist und sein Opfer ohne sie aus? Und lässt es eine Frau tatsächlich kalt, wenn ein fremder Mann ihr unaufgefordert, hemmungslos und scheinbar stolz seinen erigierten Penis präsentiert, wo dieser doch in unserer Gesellschaft mit Aggression assoziiert wird?

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Leseprobe

 

Einleitung


 


1.Zugang zum Thema


 

„Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“ - Jeder kennt diesen Kindervers, der viele dazu verleitet, an den schwarz bemantelten Mann zu denken, dem Exhibitionisten, der sich im Park vor Kindern oder Frauen entblößt. Doch hat sich schon einmal jemand gefragt, wovor der schwarze Mann sich ängstigt, oder was ihn zu einer solchen Handlung bewegt? Schämt er sich gar nicht?

 

Im Zeitalter des Zur-Schau-Stellens, in dem die Sexualmoral zu schwinden scheint, sind Exhibitionisten fast schon ins Komische abgedrängt und „so gut wie überholt“. Die heutigen sexuellen Verhältnisse haben sie um das Schockierende ihrer Existenz gebracht. „Mittlerweile haben die ‘Normalen’ eigentlich nur noch ein müdes Lächeln für die Gliedvorzeiger übrig, nachdem in Kino, Fernsehen und Schaufenstern Geschlechtswerkzeuge in ausreichender Menge und Variation ihren Auftritt hatten, die Stupidität ihrer bloßen Erscheinung verratend. Von nun an waren die Exhibitionisten auf ein weiteres genötigt, um Aufmerksamkeit und Bestrafung der anderen zu kämpfen. Richter, ja selbst Polizisten und psychiatrische Ermittler sind zu milde geworden. Liebevoll vernichtend nennen sie sie ihre ‘Exis’ “ , so Volkmar Sigusch (1984, S.24).

 

Ist die reale Begegnung zwischen dem Exhibitionisten und seinem Opfer wirklich ohne Scham? Kommen der Exhibitionist und sein Opfer ohne sie aus? Und lässt es eine Frau tatsächlich kalt, wenn ein fremder Mann ihr unaufgefordert, hemmungslos und scheinbar stolz seinen erigierten Penis präsentiert, wo dieser doch in unserer Gesellschaft mit Aggression assoziiert wird?

 

Die Frage, die mich zu dieser Arbeit bewegt hat, war, ob Exhibitionisten tatsächlich schamlose Menschen sind. Auf der Suche nach einer konkreten Fragestellung zu meinem ursprünglichen Thema, der Scham, interessierte mich zunehmend die andere Seite der Scham, die Schamlosigkeit. Da ich bei der Themensuche zur Diplomarbeit ebenso die sexuellen Perversionen in die engere Auswahl einbezogen hatte, kam mir der Gedanke, diese beiden Themen miteinander zu verbinden. Der Exhibitionismus war dabei naheliegend, da dieser sozusagen den Gipfel der Schamlosigkeit verkörperte.

 

Die Selbstverständlichkeit, mit der ich den Exhibitionisten als schamlos bedachte, bezog sich auf meine internalisierte natürliche Schamgrenze. Diese, so dachte ich, würde jeden „normalen“ Menschen davon abhalten, sich in einer kulturell nicht geduldeten Form auszuziehen. Kaum eine andere Verhaltensweise schien mir schamloser, als dem anderen Geschlecht gegenüber unaufgefordert die eigenen Genitalien zu entblößen. An diesem Punkt wurde mir die Grenze meines Nachfühlens deutlich. Sich als Frau mit einem Mann identifizieren zu wollen, führt schnell an die Verständnisschranken, erst recht, wenn es sich auf die Identifizierung der Körperebene bezieht. Erst später wurde mir klar, dass die Bereitschaft zur Identifizierung das Entscheidende war. Sie war die Vorraussetzung, sich mit einem eher unliebsamen Thema beschäftigen zu wollen. Das der Exhibitionismus zu den „unattraktiven“ Perversionen zählt, merkte ich an der spärlich vorhandenen Literatur, im Gegensatz zu  anderen „attraktiveren“ Perversionen, wie z.B. Pädophilie oder Sadomasochismus, zu denen es eine Fülle von Literatur gibt. Nicht zu vergessen die Homosexualität, die lange Zeit als Perversion gesehen wurde. Ich möchte anmerken, dass der Exhibitionismus wie ich ihn in meiner Arbeit darstelle eine rein männliche Perversion ist. Eine Diskussion über den weiblichen Exhibitionismus muss an anderer Stelle geführt werden.

 

Die Bereitschaft zur Identifizierung ist somit keine Selbstverständlichkeit, wenn ich bedenke wie mich schamhafte Gefühle beschlichen, sobald sich Außenstehende nach dem Thema meiner Diplomarbeit erkundigten. Die Reaktionen waren überwiegend abwehrend. Über Exhibitionismus und Scham wollte sich niemand Gedanken machen. Rückblickend interpretiere ich diesen Widerstand als Abwehr gegen eigene exhibitionistische und voyeuristische Anteile. Diese werden unbewusst aktiviert, wenn man sich in diese Thematik einfühlt. Frenken (1984, in: Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität 1993, vgl. S.30) weist daraufhin, dass wir alle heimliche sexuelle Fantasien und Wünsche haben, die von der Norm abweichen und die wir uns erst in unseren Träumen zugestehen. Doch widersetzen wir uns gegen diese Gedanken und Fantasien, weil sie uns in Konflikt bringen mit den uns angelernten Normen guten und schlechten sexuellen Verhaltens. Wenn wir nun mit Personen konfrontiert werden, die öffentlich abweichendes sexuelles Verhalten zeigen, kann dies dazu führen, dass wir sozusagen in einen Spiegel unserer eigenen bedeckten unerlaubten Wünsche sehen. Diese öffentliche Konfrontation facht unsere eigenen inneren Konflikt über Vorstellungen an, die wir über angelernte Normen zwischenmenschlicher Beziehungen und unsere eigenen Werte haben. Darum fühlen wir uns oft durch diese Personen bedroht. Eberhard Schorsch, ein bereits verstorbener Psychoanalytiker und Sexualforscher, äußerte sich mit seiner provokanten These ähnlich, in dem er sagte (1975/1980, S.33):“...daß die Taten des Sexualstraftäters verbotene sexuelle Wünsche in uns wecken, deren Existenz wir uns bewußt nicht eingestehen mögen.“ Seiner Auffassung nach scheinen Perversionen eine „Möglichkeit in uns zu sein, zu denen wir fähig und die deshalb gefährlich nahe sind“. Für ihn werden Perversionen in einer Gesellschaft durch die Art und Begrenzung der geltenden Moral als Phänomen und als Problem geschaffen.

 

Wie aber kann es zu solch einem schwer nachvollziehbaren Verhalten kommen?

 


2. Herangehensweise und Zielsetzung


 

Im Verlauf der Literaturrecherche entwickelte ich die Hypothese, ob es nicht sein könnte, dass der Exhibitionismus durch einen unbewussten Schamkonflikt motiviert wird. Mir fiel auf, dass kein mir bekannter, in deutscher Sprache vorliegender Autor, außer Boss (1966) und Hilgers (1997), diese Form der sexuellen Perversion überhaupt kausal mit Scham in einen Zusammenhang brachte. Ich fragte mich, ob der Exhibitionismus und die demonstrierte Schamlosigkeit, nicht einen Abwehrversuch gegen eigene Schamgefühle darstellen könnte. Wenn das so wäre, würde sich hinter dem „schamlosen Wüstling“, wie man den Exhibitionisten häufig moralisch verurteilt, ein Mensch verbergen, der durch unerträgliche Schamgefühle eine Sexualpathologie entwickelt hat.

 

Damit komme ich zu der Frage, ob die Perversion als Krankheit definiert werden kann. Darüber gibt es geteilte Meinungen. Der Begriff Krankheit, so Schorsch (vgl. 1980, S.120f.), ist als solcher schwer fassbar und verleitet schnell zu falschen Vorstellungen: Einmal weckt er - ausgesprochen oder nicht - Assoziationen bezüglich biologisch-somatischer Ursachen, die sich nicht haben finden lassen. Zum anderen bezeichnet Krankheit ein individuelles Störungssyndrom nach Art eines Schicksals und verleitet dazu, die soziale Dynamik außer acht zu lassen. Schorsch erinnert daran, dass der Grundansatz der psychiatrischen Sexualpathologie ein moralischer war, der sich darin ausdrückte, dass die so genannte Normalität, das heißt der Gehorsam gegenüber den Forderungen der Moral, mit Gesundheit gleichgesetzt  wurde. Alles was von dieser Norm abwich, wurde als Gegenstand der Psychopathologie, als biologisch fundierte Krankheitsgeschichte, gesehen. Schorschs Standpunkt zu der Definitionsfrage ist somit äußerst kritisch.

 

Ich komme zu dem Ergebnis, die Perversion dennoch als eine Krankheit zu betrachten, im Sinne einer psychischen Störung. Ein Ziel meiner Arbeit ist, die Ursache und Art dieser psychischen Störung aufzuzeigen; einen Weg zu ebnen für das Verstehen, um diesen Menschen den gebührenden Respekt entgegenzubringen, den sie verdienen. Meiner Meinung nach ergibt sich aus ihrer Störung ein Leiden nicht nur sozialer, sondern vor allem persönlicher Art, das aus Beziehungskonflikten und pathologischem Narzissmus resultiert.

 

Warum aber sollte der Exhibitionist (verdrängte) Schamgefühle haben? Wie und warum sollte er sie durch das Zeigen seiner Genitalien ungeschehen machen? Das klingt auf den ersten Blick paradox und verlangt eine Erklärung. Ohne ein tieferes Wissen über den Exhibitionismus als sexuelle Perversion, den ich im ersten Teil erörtere und der den Schwerpunkt meiner Arbeit ausmacht, und der Psychogenese der Scham, die den zweiten Teil meiner Arbeit darstellt, ist diese Frage nicht zu beantworten. Darauf aufbauend werde ich im dritten Teil der Diplomarbeit meine Hypothese diskutieren.

 

Für meinen Erklärungsversuch wählte ich den psychoanalytischen Ansatz, da unbewusste innere Konflikte das „der Psychoanalyse eigentümliche Kausalverständnis ausmachen“ (Wurmser 1990, Vorwort). Das Gedankengebäude der Psychoanalyse ist hochkomplex und das Wort „-versuch“ in dem Titel entbindet von dem Anspruch, mich vor allem in der Diskussion darin fehlerfrei zu bewegen, auch wenn die Anwendung der psychoanalytischen Terminologie in äußerster Sorgfalt erfolgte.

 


Hauptteil


 


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