Vorwort
Mitte September 2015 fand die große Fachtagung der Gesellschaft für Analytische Philosophie, GAP.9, in Osnabrück statt. Kurz zuvor hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel die mutige Entscheidung getroffen, die bundesdeutschen Grenzen trotz der großen Flüchtlingswanderungen über den Balkan nicht zu schließen. Aus humanitären Gründen ließ sie viele Flüchtlinge aus Ungarn einreisen, die dort unter menschenunwürdigen Bedingungen festsaßen.
Wir, d. h. der noch amtierende Präsident der Gesellschaft, Achim Stephan, und sein designierter Nachfolger, Thomas Grundmann, hielten es damals für sehr wahrscheinlich, dass sich das abzeichnende Problem der Flüchtlingsaufnahme nicht so schnell erledigen, sondern über Jahre zu einer großen und fortdauernden Herausforderung für unser Land und für Europa werden würde. Wir wurden uns schnell einig, dass die Philosophie und insbesondere auch die Analytische Philosophie zu diesem Thema nicht schweigen darf, sondern dazu beitragen sollte, den anstehenden politischen Entscheidungen eine normative Orientierung zu geben. So wurde die Idee geboren, eine philosophische Preisfrage »Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?« auszuschreiben (im Originalwortlaut am Ende dieses Vorworts abgedruckt).
Die Formulierung der Frage lässt bewusst einen gewissen Interpretationsspielraum: Die Beiträger sollten selbst entscheiden, ob sie ihren Akzent beispielsweise eher auf den umstrittenen Unterschied zwischen einerseits politisch Verfolgten und Kriegsflüchtlingen und andererseits Klima- und Armutsflüchtlingen legen oder ob sie die regionale Herkunft und kulturelle und religiöse Identität der Flüchtlinge thematisieren wollten. Auch das »wir« in der Frage lässt offen, ob man eher eine persönliche, eine deutsche oder eine europäische Perspektive auf das Problem einnimmt oder von lokalen Begrenzungen ganz absehend einen allgemein-menschlichen Zugang wählt. Die durch eine Jury ausgewählten Essays sollten später in einer großen deutschsprachigen Zeitung veröffentlicht werden.
Zwar wurden auf der folgenden Mitgliederversammlung der Gesellschaft für Analytische Philosophie auch Bedenken gegen eine mögliche Politisierung unserer Fachgesellschaft geäußert. Nach einer kontroversen Aussprache gab es schließlich jedoch eine fast ungeteilte Zustimmung für die Idee, alle Philosophinnen und Philosophen deutscher Sprache – vom Studierenden bis zur Professorin – in Form einer Preisfrage dazu einzuladen, sich argumentierend mit dem Flüchtlingsthema zu befassen und damit auch an die Öffentlichkeit zu treten. Dr. Hannes Fricke-Sonnenschein vom Philipp Reclam jun. Verlag machte dazu spontan den weitergehenden Vorschlag, eine Auswahl der besten Essays in einem Sammelband bei Reclam zu veröffentlichen. So entstand die Idee zu diesem Band.
Seit den Septembertagen des letzten Jahres ist viel passiert. Das Problem der Flüchtlingsaufnahme hat sich weiter zugespitzt. Vermutlich über eine Million Flüchtlinge sind nach Deutschland eingereist, und eine dauerhafte Behebung der Fluchtursachen (vor allem ein Ende des Krieges in Syrien) ist nicht in Sicht. Nach der anfänglich weit verbreiteten Euphorie und Willkommenskultur in Deutschland gibt es inzwischen eine starke Polarisierung der öffentlichen Debatte. Ein Streit zwischen, aber auch innerhalb der politischen Parteien ist entbrannt, und er verschärft sich angesichts anstehender Wahlen Tag für Tag. In vielen Familien und Freundeskreisen wird darüber gestritten, wie unser Land mit der Herausforderung massiver Flüchtlingszuwanderung umgehen soll. Viele Menschen werden bewegt durch das Leid und die humanitäre Katastrophe der Flüchtlinge. Aber viele sind auch in Sorge um unsere sozialen und gesellschaftlichen Errungenschaften, sie fürchten einen Verlust an kultureller Identität angesichts vieler Flüchtlinge aus unterschiedlichen Kulturkreisen mit ganz anderen Wertvorstellungen und starken religiösen Prägungen, und sie sind (vor allem aufgrund der Ereignisse in der Kölner Silvesternacht und den Reaktionen auf diese) besorgt um die innere Sicherheit in Deutschland.
Inzwischen eskaliert auch die verbale und physische Gewalt gegen Flüchtlinge. Es passieren Dinge in Deutschland, von denen wir gehofft hatten, dass wir sie nach Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen zu Beginn der 1990er Jahre nie wieder sehen müssten. Flüchtlingsheime brennen. Flüchtlinge werden attackiert. Hassbotschaften kursieren. Doch zugleich sehen wir, dass auch die Hilfsbereitschaft von zahlreichen ehrenamtlichen Helfern, die sich unermüdlich, zum Teil bis zur Erschöpfung für Flüchtlinge einsetzen, nicht abnimmt. Der Riss geht aber nicht nur durch Deutschland, sondern auch durch Europa. Viele Staaten der EU setzen inzwischen auf nationale Alleingänge und die einseitige Schließung ihrer Grenzen, Dublin-II gilt vielen als gescheitert. Das Europa der offenen Binnengrenzen ist in Gefahr; und mit ihm steht vielleicht sogar die Integrität der Europäischen Union auf dem Spiel.
Angesichts der gegenwärtigen Lage ist einigen Bürgern erkennbar der normative Kompass abhanden gekommen. Ihre Entscheidungen und Haltungen werden immer häufiger durch Ängste, Ungeduld, Egoismen oder Opportunismus bestimmt. Das gilt auch und gerade für einige Politiker, die um Wählerstimmen bei den nächsten Wahlen buhlen oder um Verluste fürchten. Was kann man in dieser verfahrenen Situation ausgerechnet von Philosophinnen und Philosophen erwarten? Kann man überhaupt etwas von ihnen erwarten – oder sind die anstehenden Fragen nicht viel zu konkret für philosophische Antworten?
Es ist unbestreitbar, dass das Problem der Flüchtlingsaufnahme Fragen aufwirft, die nicht allein aus dem Lehnstuhl heraus beantwortet werden können. Welche Langzeitfolgen hätte eine mehrjährige Zuwanderung von etwa einer Million Flüchtlingen pro Jahr für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt? Insbesondere wenn man bedenkt, dass viele Flüchtlinge durch Kulturen und Religionen geprägt sind, die nicht reibungslos mit unserem europäischen Selbstverständnis harmonieren. Wie groß werden die finanziellen Belastungen für unseren Sozialstaat auf lange Sicht sein? Wie viele der Flüchtlinge wird man wenigstens mittelfristig in Arbeit bringen können? Welche Auswirkungen wird diese Entwicklung auf die innere Sicherheit haben? Welche Konsequenzen ergeben sich für Europa und die Weltgemeinschaft?
Wir wissen es nicht – oder wir wissen es nur in einem sehr eingeschränkten Umfang; und ohne empirische Studien, von denen es immer noch viel zu wenige zu diesen Themen gibt, teilweise auch noch gar nicht geben kann, sind auch keine umfassend begründeten Antworten auf diese Fragen zu erwarten. Auch Fragen nach der richtigen Strategie zur Problembewältigung müssen letztlich empirisch beantwortet werden. Und kein verantwortungsbewusst Nachdenkender sollte die möglichen Konsequenzen politischen Handelns ganz aus dem Blick verlieren.
Können Philosophinnen und Philosophen angesichts dieser unübersichtlichen Lage also letztlich nichts Substanzielles über den ständig sich rasant verändernden, tagespolitischen Zusammenhang hinaus zur Flüchtlingsfrage sagen? Thomas Schramme hat in einem Aufsatz in der Zeitschrift für Praktische Philosophie (Heft 2, 2015) kürzlich die Prognose gewagt, dass die Antworten auf die GAP-Preisfrage ohne Kenntnis politischer, ökonomischer und kultureller Zusammenhänge notwendigerweise trivial und unterkomplex ausfallen müssen. Wir glauben, dass dem nicht so ist. Und diese Überzeugung war von Anfang an die entscheidende Triebfeder hinter der Preisfrage. Auch wenn man von Philosophinnen und Philosophen keine konkreten politischen Handlungsanweisungen in der gegenwärtigen Krise erwarten sollte, kann die Philosophie trotz der vielen noch offenen Fragen über die langfristigen Konsequenzen der Aufnahme vieler Flüchtlinge sehr wohl jetzt bereits dazu beitragen, die richtigen Prioritäten bei den grundlegenden Wertfragen zu ermitteln. Sie kann helfen, Fragen wie die folgenden zu beant- worten:
Welche Pflichten haben wir überhaupt gegenüber Flüchtlingen?
Woraus leiten sich diese Pflichten ab?
Wie sollten wir die Prioritäten zwischen diesen Pflichten und möglichen rivalisierenden Pflichten (dem Wohlstand der eigenen Bürger, der kulturellen Identität des Landes, seiner inneren Sicherheit) setzen?
Was muss ein Staat tun, wenn andere Staaten ihre Verantwortung nicht wahrnehmen?
Nur wenn politische Akteure eine grundlegende normative Orientierung hinsichtlich dieser Fragen gewonnen haben, können sie sinnvoll nach Strategien suchen, diese Zielsetzungen und Werte praktisch zu berücksichtigen und zu realisieren.
Das Nachdenken über die normativen Prioritäten in der Flüchtlingsdebatte erweist sich als komplex und schwierig. Deswegen sollte es mit kühlem Kopf und gestützt auf sachliche Argumente erfolgen. Darauf hat die Analytische Philosophie immer besonderes Gewicht gelegt. Gerade einige Wortführer des von einer breiteren Öffentlichkeit als philosophisch wahrgenommenen Diskurses haben in dieser Hinsicht jedoch weitgehend versagt:
Peter Sloterdijks Unsatz, dass wir keine Pflicht zur Selbstzerstörung haben, und Rüdiger Safranskis Menetekel von der »Flutung Deutschlands« durch die Flüchtlinge arbeiten mit Unterstellungen und beschwören Ängste herauf, anstatt sachliche Argumente ins Feld zu führen. Ihre Stellungnahmen mögen als Beiträge zu einer zynischen Vernunft taugen, doch darf von Philosophen sicher mehr erwartet werden als...