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Welt ohne Christentum - was wäre anders?

AutorHans Maier
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783451807596
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Was wäre unsere Welt ohne das Christentum? Eine Frage, die man sich angesichtes der vielen Krisen in der Welt und der fortwährenden Abkehr von unseren Wurzeln immer wieder vor Augen führen sollte. Der Politikwissenschaftler, Publizist und Politiker Hans Maier liefert mit diesem Buch eine ebenso spannende wie fundierte Analyse zur Unterscheidung der Kulturen. Ein Klassiker!

Hans Maier, geboren 1931, von 1962 bis 1987 Professor für Politische Wissenschaft in München; von 1970 bis 1986 bayerischer Kultusminister; 1988 bis 1999 Inhaber des Münchner 'Guardini-Lehrstuhls' für christliche Welt­anschauung, Religions- und Kulturtheorie.

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Leseprobe

1. Menschenbild


Das Elend zeugt die Verzweiflung,

der Dünkel zeugt die Hoffart.

Die Größe des Heilmittels, das nötig war,

die Menschwerdung,

zeigt dem Menschen das Maß seines Elends.

Blaise Pascal

Das Christentum führt den Gekreuzigten im Schilde. Gegen alle Erwartungen einer „natürlichen Religion“ stellt es den Gläubigen eine Extremsituation vor Augen: den Menschen, zerrissen zwischen Himmel und Erde, den leidenden und sterbenden Gottesknecht. Das anstößige Symbol des Kreuzes hält diesen Ursprung für alle Zeiten fest, so blass und verwischt seine Präsenz in unserer Epoche auch sein mag. So herrschen im christlichen Menschenbild nicht die Elemente der Natur, des organisch Gewachsenen, Wohlgeratenen, Vollendeten vor (wie bei den Griechen), vielmehr sieht das Neue Testament die Menschen unter mancherlei Winkeln der Fragwürdigkeit: Es sind Arme, Kranke, Leidgeplagte, Irregeleitete, Besessene, die uns hier begegnen – Abbilder jenes „Menschensohnes“, der sich für die Sünder hingegeben hat, der die Leiden der Menschen annahm und in dem, nach der prophetischen Weissagung, „nicht Gestalt noch Schönheit“ war.

Armut, Krankheit, Besessenheit


Wie wird der Mensch in den Texten der Evangelien gesehen? Erzählt wird von einfachen Menschen in einfachem Ton. Es begegnen uns Handwerker, Fischer, Soldaten, Zöllner, Dirnen – Menschen also, die nach den Stilregeln der antiken Welt überhaupt keinen Anspruch auf literarische Gestaltung und Überlieferung hatten, es sei denn in der Komödie.1 Einfache Leute aus den unteren Schichten – sie kommen in den Evangelien nicht nur vor, sie spielen sogar eine beherrschende Rolle; selten genug, dass sich einmal ein paar Höhergestellte in die neutestamentlichen Schriften verirren (und im allgemeinen machen sie dort keine gute Figur). Und zu den einfachen Menschen kommen die an den Rand Gerückten hinzu, diejenigen, die ihr Leben nicht voll verwirklichen können, Kranke, von Dämonen Besessene, schuldig Gewordene, Verachtete, Ausgeschlossene.2 Auch Jesus selbst, der Wanderprediger, der oft nicht weiß, wo er sein Haupt hinlegen soll, der keine Einkünfte hat und von Almosen lebt, gehört, obwohl aus Davids Stamm geboren, zu den Niedrigen; er ist der Sohn eines Zimmermanns, und seine Heimat ist so unbedeutend, dass viele fragen, ob denn aus Nazareth etwas Gutes kommen könne.

Es sind also die Armen, Kranken, Niedrigen, die in den neutestamentlichen Schriften eine besondere Rolle spielen; die Kleinen hat Gott auserwählt; die Reichen ließ er leer ausgehen. Doch damit nicht genug: Der Mensch, wie die Evangelien ihn sehen, ist nicht nur krank, er wird auch von Dämonen geplagt, er ist nicht Herr seiner selbst, fremde Geister rauben ihm seine Selbstbestimmung. Und er ist verloren, entwurzelt: verloren „wie ein Schaf, das sich verirrt hat, wie ein Groschen, der davongerollt ist, wie ein Sohn, der davongelaufen ist“.3 Lauter Fehler, Lücken, Mängel scheinen das Eigentümliche dieses Menschenbildes auszumachen – nicht zufällig hat der aus der Welt gefallene Arme (Lazarus), die von den Pharisäern abgelehnte Sünderin (Magdalena), der von den Landsleuten verachtete Zöllner einen Platz im Herzen der neutestamentlichen Erzählungen. Das sind nicht Subproletarier, unanständige, unmoralische Leute, und Jesus hält nicht aus einem Hang zum Niedrigen und Immoralischen zu ihnen. Jesus inmitten der Sünder: Das heißt nicht, dass Jesus eine Vorliebe zu den Deklassierten, Zerstörten, zur Unterwelt oder Halbwelt hätte. Es heißt auch nicht, dass die Menschen Sünder werden müssten, um ihm näherzukommen. Wir müssen nicht Sünder werden, um Jesus zu verstehen; aber wir sind Sünder – so lautet die Botschaft; und die Überlegenheit der Armen und Deklassierten liegt darin, dass sie es schon wissen, während sich die Wohlmeinenden noch mit den Unterscheidungen des Anständigen und Unanständigen, mit der Sphäre des Moralischen zufriedengeben. Wer am Rand der Gesellschaft lebt, ist offener für das Heil – zumindest kann das so sein: so ist das Evangelium zu verstehen. Niemand soll ausgeschlossen werden, auch der Verlorenste hat Gelegenheit zur Umkehr, alle werden angenommen – über die Grenzen einer starren Gesetzlichkeit hinweg. So ist Christentum mehr als Ethik und Moralsystem – ja mehr als Religion; es wendet sich an alle, und es setzt zugleich, indem es an die Bereitschaft zur Umkehr appelliert, auf den Einzelnen.

Dass Arme, Kranke, Besessene, Hässliche und Niedrige zu den Adressaten der frohen Botschaft gehören, dass auch den letzten von ihnen, die am Rand der Welt leben, der Ruf des Menschensohnes gilt – das hebt das biblische Menschenbild ab vom griechischen Ideal der Schönheit und Wohlgeratenheit, vom „Menschen des Agon, der seinen nackten Leib der Sonne preisgibt …“ Dort gehören Krankheit, Hässlichkeit, Verfall kaum zum Menschen; hier dagegen treten sie auffallend stark hervor. „Der Mensch wird (in der Bibel) nicht gesehen, soweit er normal und gesund ist, sondern soweit er physisch defekt ist. Krankheit gehört mit zur Bestimmung des Menschen, der vor dem Menschensohn da ist.“4 Man vergleiche damit die Angst vor dem Abnormen bei Griechen wie Römern. „Eine Missgeburt ist nicht nur, wie heute, ein Unglück für die Familie, sondern ein Schrecken, der Versöhnung der Götter heischt, für die ganze Stadt, ja für das Volk. Man sollte also nichts Verstümmeltes aufziehen; schon der Verwachsene tat ja gut, wenn er sich stille hielt, weil er sonst einem Aristophanes in die Hände fallen konnte. Aber nach Plato sollten auch kränkliche Leute nicht leben und jedenfalls keine Nachkommenschaft hinterlassen.“ Nicht zu reden von „der sonstigen Beschränkung der Volksmenge durch Abtreibung, von der Nullität der Sklavenehen, die jedenfalls massenhafte Kindertötung mit sich brachte, von der Kindertötung der Armen …“5

Der Mensch wird im Christentum auf eine neue Weise gesehen. Er wird in seiner Schwäche, Unzulänglichkeit, Erbärmlichkeit erkannt und ohne Vorurteile angenommen. „Eine neue Welt im Menschen hat sich in dem Augenblick kundgetan, als eine Hure die Füße Jesu berührte. Aus der moralischen Sphäre wurde die des Sünders, und aus der Schamlosigkeit erwuchs die reuige Liebe; doch diese neue Antwort auf die Frage: ‚Was ist der Mensch?‘ – wie konnte sie anders als vor dem Menschensohn gewonnen werden? Diese neue Tiefe im Mensch-Sein, wie konnte sie anders sich enthüllen als vor dem, der Mensch geworden ist?“ Jesus ist nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Sünder zur Buße. So ist auch die moralische Sphäre, die Sphäre der Gerechtigkeit nicht mehr die höchste; höher steht die Liebe, um derentwillen „viel vergeben wird“ – eine Liebe, die sich dem Menschen erst erschließt, seitdem „der Menschensohn mit Zöllnern und Sündern zu Tische gesessen hat“. „Der Menschensohn, der in die Hände des Menschen überliefert wird, ‚muss vieles leiden‘ (Lk 9,22). Aber in dem Opfer des Menschensohnes vollzieht sich nun ein Austausch der Begriffe vom Menschen. Es stirbt der alte Mensch mit seinen Fanghänden, und es ersteht der neue Mensch, der sich opfert. Wer also eine klare Antwort auf die Fragen haben will: ‚Was ist der Mensch?‘, dem ist sie in dem ‚Ecce homo‘ des mit Dornen gekrönten Menschensohnes gegeben.“6

Christliches Zusammenleben


Das frühe Christentum nimmt diese Linien auf; es entwickelt Formen des Zusammenlebens, die sich von den Gewohnheiten seiner Umgebung deutlich abheben.7 Neue charakteristische Elemente treten hervor: die Aufhebung sozialer Schranken; die Praxis des Miteinander (allelon); die Bruderliebe, die Feindesliebe – endlich das Verständnis der Gemeinde als Gemeinschaft der Heiligen in der Welt und als Zeichen für die Völker. Dabei kann sich christliches Bewusstsein in der frühen Kirche in sehr verschiedenen Formen äußern: im solidarischen In-der-Welt-Sein wie in der geheimen Zugehörigkeit zum „Reich in den Himmeln“8 – oder auch schon, in Abgrenzung zum Leben der Ungläubigen, ihren Theatern, Spielen, Ausschweifungen, Götzenopfern, im Sinne einer Alternativ- und Zukunftsgesellschaft, die sich bereithält für künftige Aufgaben, die sich anschickt, alte, verbrauchte Formen der Gesellschaft abzulösen.9 Im Modell ur- und frühchristlichen Zusammenlebens – die erste Gemeinde redet aus dem Geist und tut Wunder, sie teilt alles miteinander10 – steckt sowohl die Kraft langsamer Evolution wie die Gewalt revolutionärer Zuspitzung. Und so tritt auch das christliche Gemeindebewusstsein in der Geschichte in kontrastierenden Formen auf: als Element des Alltäglich-Selbstverständlichen wie als jäher pneumatischer Einschlag, als konkrete Gegenwart christlichen Lebens wie als Erinnerung an einen verpflichtenden, immer wieder vom Vergessen bedrohten Ursprung.

War das frühe Christentum eine Zeit der Distanz, der Kritik an der umgebenden Kultur, der Erwartung des Weltendes und der Wiederkunft Christi, so kehrten sich in der Folgezeit die Akzente um. Mit der Entstehung einer christlichen Gesellschaft in Ost- und Westrom, später im Norden, Nordwesten und Osten Europas erwachte eine stärkere Weltaktivität der Christen. Mit dem Christlich-Werden ganzer Völker wuchs die Kirche im Abendland aus ihrer alten Minderheits- und Diasporasituation heraus. Kirche und Staat begannen die Menschen eines bestimmten Raumes gemeinsam zu umfassen. Eine Identifikation der Kirche mit der politischen Gemeinschaft des Volkes wurde möglich. Christliche Impulse wirkten vielfältig in die Öffentlichkeit hinein. Der...

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