AMERIKA
Weltmacht auf
Abruf
Das Bild vom »American Dream« führt ein zweites Leben im Halluzinarium.
Amerika ist noch immer eine Weltmacht, aber eine Weltmacht auf Abruf. Das Land leidet gleichzeitig an Überforderung und Selbstüberschätzung, wobei die historische List im gleichzeitigen Auftreten der beiden Phänomene besteht. Der Abstieg wird durch die Selbstüberschätzung nicht weniger real, aber Amerika spürt die Schmerzen nicht so. Das Bild vom »American Dream« führt unter diesen Bedingungen ein zweites Leben im Halluzinarium. Früher stand der amerikanische Traum für die Idee vom Aufstieg, heute für eine Kultur der Nostalgie bei vorsätzlichem Nichtverstehen der Gegenwart.
Das Bemerkenswerte ist, dass für den oberflächlichen Betrachter zunächst nichts auf einen Abstieg hindeutet, weshalb das Dasein in der Traumwelt bisher gut funktioniert. Die US-Streitkräfte bilden weiterhin den Showroom, in dem die Weltmachtambitionen ausgestellt werden. Das Sortiment an Aufklärungs-, Transport- und Tötungsgerät ist imposant; zu den Schmuckstücken der Sammlung gehören 7.000 Atomsprengköpfe, die in den kommenden Jahren durch eine für 100 Milliarden Dollar – das entspricht den addierten Staatshaushalten von Afghanistan, Somalia, Liberia, Niger, Sierra Leone, Zimbabwe, Eritrea und Kongo – erworbene Flotte von B-3-Bombern ergänzt werden. Ausgestattet mit Laserwaffen können diese Geschwader das feindliche Radar unerkannt durchfliegen. Ergänzt werden diese Hightech-Bomber durch eine wachsende Zahl unbemannter Drohnen, mit deren Hilfe sich selbst in unwegsamem Gelände Terroristen – bei Bedarf auch Hochzeitsgesellschaften – jagen lassen, ohne dass ein US-Soldat zu Schaden kommt.
Dabei herrscht an einsatzwilligem Kriegspersonal kein Mangel. 1,4 Millionen aktive Soldaten befehligen 1,1 Millionen Reservisten; die rund 750.000 zivilen Mitarbeiter der US-Streitkräfte sind dabei nicht mitgezählt. Marine, Luftwaffe und Heer gelten als nationale Heiligtümer, für die zu leben und sterben hohes Sozialprestige verspricht. Vor die Alternative gestellt, auf fremdem Boden zu fallen oder daheim den Weltverdickungsplänen von McDonald’s & Co. zu erliegen, weiß der Patriot klug zu entscheiden.
Ökonomisch ist Amerika noch immer der Gorilla der Weltwirtschaft.
Ökonomisch ist Amerika noch immer der Gorilla der Weltwirtschaft. Kein anderes Land besitzt kräftigere Muskeln. Sogar die Wall-Street-Größen sind nach kurzer Rekonvaleszenz im Zuge der Weltfinanzkrise 2008 wieder auferstanden von den Toten – profitträchtiger, intransparenter und gieriger denn je. Derweil die Europäer, angeleitet von deutscher Gründlichkeit, ihre Finanzinstitute nach allen Regeln bürokratischer Kunst regulieren und zum Teil auch schon strangulieren, ist der Marktanteil der US-Banken in der Nach-Lehman-Zeit kräftig gestiegen. Wells Fargo, JP Morgan und Goldman Sachs leben im monetären Olymp, während die Deutsche Bank auf die globale Position Nummer 84 und damit ins Untergeschoss der Finanzindustrie abgestiegen ist.
Der Dollar blieb trotz der Konkurrenz aus China und Euroland die alles beherrschende Leit-, Transaktions- und Reservewährung der Welt. Mehr als 63 Prozent aller Währungsreserven werden in Dollar gehalten, jede zweite Transaktion wird mit seiner Hilfe abgewickelt. Noch auf dem entlegensten Fleckchen Erde, wo das Vorzeigen von Mastercard und Euroschein nur ein Achselzucken hervorruft, bringt das Entfalten einer zerknitterten Dollarnote die Augen zum Leuchten. Es ist dieser Mythos der Unwiderstehlichkeit, der machtbewusste Männer wie Winston Churchill einst auf die Palme trieb. »Dollarsklaverei«, schimpfte er. Die Diktatur des Britischen Pfundes, das zuvor die Welt regiert hatte, war ihm deutlich lieber.
Auch die kulturellen Errungenschaften Amerikas, von der laufenden Hollywood-Produktion bis zur WhatsApp-Gruppe, erfreuen sich anhaltender Beliebtheit. Von den weltweit 50 erfolgreichsten Filmen des Jahres 2015 waren 44 US-Produktionen. Die Nachfolger von John Wayne, Elvis Presley und Aretha Franklin heißen Han Solo, Rihanna und Pink, nicht Aisha und Mustafa.
Die kulturelle und ökonomische Reichweite der USA übersetzt sich nicht mehr in politische Gefolgschaft.
Wir fassen zusammen: Die technische Reichweite der USA, um einen Begriff der Werbeindustrie zu verwenden, ist weiterhin intakt. Der lange Arm ihrer Währung, ihres Lebensstils, ihrer Waren, ihrer Popkultur und ihres Militärs reicht überall hin. Nur, und hier beginnt der verstörende Teil der Wirklichkeit, die kulturelle und ökonomische Reichweite übersetzt sich nicht mehr in politische Gefolgschaft. Die Menschen hören die Botschaft, aber kaufen sie nicht. Oft wird sie nicht einmal mehr verstanden. Der US-Präsident sagt »Demokratie«, und die islamische Welt versteht »Angriff«. Der US-Präsident sagt »Freihandel«, und in Europa klingt es nach der Aufforderung zur Unterwerfung. Der US-Präsident wirbt für »universelle Menschenrechte«, und ein Großteil der Menschheit denkt an das Strafgefangenenlager »Guantanamo« mit seinen modern ausgestatteten Folterkellern, wo die Befragungen der Delinquenten in einer kühl durchfluteten Ertränkungsanlage durchgeführt werden.
So wirkt denn die kulturelle, ökonomische und militärische Hegemonie nicht mehr zum Ruhme Amerikas, sondern funktioniert als schier unerschöpfliche Quelle des Ressentiments und der Feindseligkeit. In paradoxer Verkehrung der bisherigen Machtmechanik verhindert die US-Dominanz also nicht die Verletzbarkeit Amerikas, sondern befördert sie. Den Amerikanern selbst aber vermittelt sie das Trugbild einer vitalen Großmacht. Viele verstehen nicht, dass Macht in der multikulturellen Welt neu formatiert wurde, dass die alten Chiffren sich nach neuen Algorithmen sortieren.
Donald Trump ist der prominenteste Vertreter derer vom Stamm des Nichtverstehens. Seine Versprechen widersprechen sich, und die Tatsache, dass sich mit einer Hundertschaft von Widersprüchen Wahlkampf führen lässt, zeigt, wie groß die Überforderung der amerikanischen Gesellschaft und ihrer Eliten ist. Trump will die islamische Welt in Grund und Boden bomben und zugleich das Nato-Engagement der Amerikaner reduzieren; er will Amerika seine alte Großartigkeit wiedergeben und zugleich die Nicht-Nuklearmächte Japan und Südkorea mit Atomwaffen ausstatten. Er will den Freihandel beschneiden und damit in einem Land, das hochgradig auf Importe angewiesen ist, den Wohlstand steigern. Trump ist der perfekte Kandidat einer halluzinierenden Wählerschaft. Er träumt ihren Traum und die Wähler seinen. Es ist ein Traum von Gewalt und Ressentiment, in dem der jeweils andere gedemütigt, des Landes verwiesen oder vernichtet wird. In dieser Welt haben Einfühlungsvermögen, Mitleid und Interessenausgleich Zutrittsverbot, weshalb Trump auf Andersdenkende auch mit feuchter Aussprache reagiert: Raus, raus, raus, bellt er ihnen im Beisein seiner 20.000 erregten Anhänger zu. Bis sich ein Hitzkopf findet, der weiß, wie man Worte in Schläge verwandelt.
Der Militärapparat wird nicht durch einen anderen Militärapparat herausgefordert, sondern von Turnschuhterroristen unterlaufen.
So bleibt einem Großteil der amerikanischen Wählerschaft verborgen, dass die USA nicht mehr einer anderen, vergleichbar großen und kräftigen Großmacht gegenüberstehen, sondern einer Vielzahl von asymmetrischen Gegnern. Der Militärapparat wird eben nicht wie in der guten alten Zeit des Ost-West-Konfliktes durch einen anderen Militärapparat herausgefordert, sondern von Turnschuhterroristen unterlaufen. Amerikas Kultur ist weiter kommerziell erfolgreich, aber sie hat ihre Prägekraft verloren. Jeans, Rock ’n’Roll und aggressiver Anti-Amerikanismus schließen sich weniger aus denn je. Der Dollar wird weiter geschätzt, aber mit Euro, Yen und Renminbi sind Wettbewerber am Start, deren Ziel es ist, die Dollar-Hegemonie zu brechen.
Nun ist es nicht so, dass keiner in Amerika das sieht oder spürt. Aber wer es sieht oder spürt, will darüber nicht vor Publikum sprechen, weil ein zur Religion gewordener Optimismus den öffentlichen Raum dominiert. Die gesammelten Widrigkeiten der Gegenwart – Asiens Aufstieg, Russlands Renaissance und der wachsende Einfluss des radikalen Islam – werden nicht verschwiegen, aber weggemurmelt. Realpolitik ist ein schmutziges Wort geworden, weil es beim Halluzinieren stört.
Zwischen den politischen Parteien ist ein Wettlauf in Gang gekommen, wer zur beeindruckenderen Realitätsverweigerung fähig ist.
Die Weltgeschichte kennt keine unverzichtbaren Mächte.
Die Überforderung der USA ergibt sich weniger aus dem Nicht-Verstehen als aus dem Nicht-Besprechen dessen, was mit dieser außergewöhnlichen Nation gerade geschieht. Das Establishment sieht die Zeichen, aber kann und will sie nicht deuten – zumindest nicht im Beisein der TV-Zuschauer und Wähler. Die Botschaft einer Welt in Unordnung passt nicht zu Abraham Lincolns Diktum von »the last, best hope of earth«, das im »American Exceptionalism« zur Staatsräson geronnen ist. Amerika erkennt und spürt sich am besten in der eigenen Großartigkeit, die weder Relativierung noch Negation verträgt. »Unsere Kinder müssen wissen, dass sie Bürger der mächtigsten, besten und ehrenwertesten Nation in der Geschichte der Menschheit sind, der außergewöhnlichen Nation«, schreibt ein Mann wie Ex-Vizepräsident Dick Cheney in seinem jüngsten Buch. Wer ihm widerspricht oder ihn auch nur relativiert, hat im innerparteilichen Ränkespiel von Demokraten und Republikanern verloren. Zwischen den politischen Parteien ist ein Wettlauf in Gang gekommen, wer zur beeindruckenderen Realitätsverweigerung fähig ist. Der relative...