Hans-Georg Soeffner
»Machen wir es mal grundsätzlich!«
Harald Welzer als Kolumnist
Erstes Paradox: Zur Sache
Da in Zukunft »alles« – im guten wie im schlechten Sinne – »anders sein könnte« (taz.FUTURZWEI, Heft 1/2017) und uns die Erbin der europäischen Aufklärung, die erste Moderne, mit »so wenig Zukunft […] wie niemals zuvor« (taz.FUTURZWEI, Heft 2/2017) im dystopischen Regen stehen lässt, wird etwas scheinbar beiläufig Verdecktes unversehens sichtbar: Hinter Harald Welzers FUTURZWEI verbergen sich mindestens drei Zukünfte: (1) das ernüchterte Zukunftsprojekt und die enttäuschte Fortschrittsidee der ersten Moderne; (2) die elende Zukunft, die wegen unserer Fahrlässigkeit dereinst schrecklich gewesen sein wird, und (3) die Zukunft, wie sie – dank angewandter Aufklärung – nicht schöner hätte gewesen sein können. An letzterer, an ZUKUNFTDREI, arbeitet Welzer, solange ich ihn kenne, pessimistisch und doch unverzagt, verärgert und doch guter Dinge.
Aber es ist ein Kreuz mit der Religion! Vor allem dann, wenn man die alte durch die neue, die Vernunftreligion, ersetzen will. Einerseits darf man in der nicht predigen, andererseits will man dennoch überzeugen. Einerseits verachtet man, zu Recht, das Moralisieren. Andererseits wünscht man sich Ansprechpartner mit »moralischer Substanz«: Man leidet an einer Moralisierungsallergie und fühlt sich als Aufklärer doch durch »eine gelebte Doppelmoral« zu immer neuen Auf- und Warnrufen herausgefordert. Wie aber – bei Gott oder beim Leibhaftigen – lässt sich ohne Moralisieren eine ethische Verpflichtung einfordern, »moralische Obdachlosigkeit« beklagen und zu mehr »moralischer Fantasie« aufrufen (taz.FUTURZWEI, Heft 2/2017), insbesondere, wenn es um existentielle Fragen geht?
Gerechtigkeits- und Freiheitsprobleme, ökologische und intellektuelle Krisen, der ins Stolpern geratene emanzipatorische Fortschritt und die Verteidigung einer freiheitlichen Demokratie prägen die Agenda von FUTURZWEI. So wie in Ernst-Wolfgang Böckenfördes verfassungstheoretischem Zirkel der freiheitliche Rechtsstaat seinen Bürgern nur dann Freiheit gewähren kann, wenn sich diese Freiheit »von innen her aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Heterogenität der Gesellschaft reguliert« (Böckenförde 1976), sieht auch Welzer die moralische Substanz in einer »sich von selbst verstehenden Wertebasis«: Sie ist der »Boden, auf dem der freiheitliche Staat gebaut ist (taz.FUTURZWEI, Heft 2/2017).«
Ähnlich zirkulär ist das Verhältnis zwischen moralischer Substanz und einer konkretisierten Pflichtenethik: zwischen der Maxime, dass du einerseits als Einzelner »nur nach derjenigen Maxime« handeln sollst, durch die du andererseits »zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werden kann« (so Kants kategorischer Imperativ). Es ist, wie Kant (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785) bereits widerwillig anerkan(n)t hat, ein Dilemma mit den Appellen an den Einzelnen. Denn die wirken nur, wenn etwas ebenso Triviales wie Grundlegendes berücksichtigt wird: »Man muß wollen können, daß eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde: dies ist der Kanon der moralischen Beurteilung derselben überhaupt.« Und im Anschluss daran muss man sagen wollen, was man denkt. Nur sollte man vorher gedacht haben.
Wie das Triumvirat Böckenförde, Kant, Valentin kämpft auch Welzer – sehr frei nach Schopenhauer – mit der Differenz zwischen einer »Welt als Wille« und einer »Welt als Vorstellung« (vgl. Schopenhauer 1819): letztlich mit einer Welt, in der eine gewollte Vorstellung nur dann realisiert werden kann, wenn aus vorgestelltem Wollen ein Können wird. Da er die Einzelnen erreichen und wachrufen will, antwortet Welzer auf das zirkuläre Dilemma und den dilemmatischen Zirkel des kategorisch-ethischen Imperativs mit einer spezifischen »Appellstruktur« (Wolfgang Iser) seiner Texte: Sie wollen jeden einzelnen Leser dazu aufrufen, wollen zu können, damit er tatsächlich kann.
Zweites Paradox: Zum Stil
Damit der Aufruf das Wollen fördert, müssen die Aufgerufenen das Gefühl haben, sie säßen neben dem Schreiber. Und dieser schriebe nicht, sondern spräche mit ihnen – und zugleich mit sich selbst. Etwa so: »Gerade lese ich in der Zeitung …« (taz.FUTURZWEI, Heft 2/2017). Daran schließt sich implizit die Frage an: »Sehen Sie auch, was ich sehe?«, verdeckt ergänzt um das bekannte pädagogisch aufklärerische Spiel: »Ich sehe was, was du nicht siehst.« Wenn der Schreiber den Leser in dieses fiktive Rede-, Frage-, Antwort-Spiel hineingezogen hat, kann er mit seiner geschickt als Rede verkleideten, vertexteten Rhetorik fröhlich direkt fortfahren: »Merken Sie was? Genau!«, und sich scheinbar spontan unterbrechen: »tja, ähm, also irgendwie …« oder »Ach ja! Da gibt es ja noch …«.
Hat man sich erst einmal verfangen im Repertoire der Redesignale und des Regelwerks alltäglich gesprochener Sprache, so sitzt man, falls man sich nicht über die Hemdsärmeligkeit des schreibenden Redners ärgert, in Harald Welzers Boot und segelt mit ihm ins FUTURZWEI: in zu bekämpfende und zu wünschende Vorstellungen. Dabei versteckt sich der kategorische Imperativ hinter dem »kategorischen Konjunktiv« (Helmuth Plessner). Alles ist – konjunktivisch – möglich, aber nicht alles, insbesondere die Katastrophen, soll imperativisch wirklich werden können. Allerdings gilt bei dieser Schiffstour – wie generell auf Schiffen und Luftschiffen: Der Kapitän spricht mit Ihnen. Für Sie gilt dagegen die Regel: Nicht mit dem Bootsführer sprechen! Zuhören! – Merken Sie was? Sie haben es mit einem dialogisierten Monolog zu tun.
Aber dieser Monolog spricht – und das wärmt – in Ihrer Sprache: »ist [daher] super«, hasst wie Sie den »Konsumscheiß« und teilt mit Ihnen die Devise: »Scheiß auf die Rechten.« In dieser Sprache und ihrem Wertesystem fühlen Sie sich, tja, ähm, also irgendwie zu Hause. Hier herrscht keine »moralische Obdachlosigkeit«. Es geht um die gemeinsame Sache, und zwar »ohne double-speech. Ohne Zynismus. Ohne als Durchblickertum verkleidete Wendehalsigkeit, Typ FAZ-Feuilleton.« Genau: Der Text-Rhetor spricht nicht vom Rednerpult, von der Rostra, sondern sitzt, wie gesagt, neben Ihnen, seinen Zuhörern.
Und er weiß, dass man auch im sogenannten Umgangston nicht einfach so daherreden kann, wenn man überzeugen will. Zudem geht es nicht nur ums Überzeugen: Der Leser muss auch, Alltagssprache hin oder her, ästhetischen Genuss empfinden und sich an Forderungen oder Gegner erinnern können. Hier hilft die rhetorische ›Dreierliste‹. Beim Appell ist es ein Forderungsgleichklang: »Wir brauchen einen Realismus …« »Wir brauchen soziale Intelligenz …« »Wir brauchen eine zukunftsfähige Politik …« Bei den Gegnern reicht eine solche syntaktisch gedehnte Dreierliste nicht aus. Hier braucht’s ein Stakkato von Namen, das durch den Stabreim zum akustischen Fortissimo verstärkt wird: »Schulz, Scholz, Schäuble«, Politiker, die für FUTURZWEI verloren sind, weil »sie ihre Zukunft schon hinter sich haben«. Literaten lieben Alliteration: Sie setzt sich im Kopf fest und sorgt dafür, dass die gestabreimten Widersacher nicht vergessen werden.
Jetzt wäre zu erwarten, dass dem Forderungsgleichklang des ›Brauchens‹ ein weiterer Appell folgt. Die Erwartung wird zwar erfüllt, bietet aber eine Überraschung: Dem prognostizierbaren »Es gibt viel zu tun« folgt nicht etwa das absehbare »Packen wir’s an!«, sondern – ganz im Ton des ›kategorischen Konjunktivs‹ – die Aufforderung »Bieten wir’s an« – ohne Ausrufungszeichen. Dafür ist aus dem Ich, das »gerade in der Zeitung« liest, am Ende ein »Wir« geworden, in dem der schreibende Rhetor und seine lesenden Zuhörer zusammengeschlossen werden.
Drittes Paradox: Abgeklärte Aufklärung
Wiederum Kant definierte, wie hoffentlich alle Bürger unseres Landes in der Schule gelernt haben, Aufklärung als »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« (Kant 1977b). Dieser Definition ließ er den Aufruf folgen: »Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«, und zwar »ohne [Hervorhebung H-G.S.] Leitung eines anderen«, ohne »Seelsorger«, »Vormünder«, »Oberaufsicht«, die es, weil man sich an sie gewöhnt hat, jedem »einzelnen [Hervorhebung H-G.S.] Menschen schwer [-machen], sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten.«
Wie schon im ersten Paradox (s.o.) stößt man in Harald Welzers Kolumnen auf den befremdenden Sachverhalt, dass ein zwar gutwilliger, aber irgendwie träger Leser als Mündel durch einen agilen, intellektuellen Vormund dazu angehalten wird, »sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln« und seinen eigenen »sicheren Gang zu tun« (schon wieder Kant). Wie also kann man als Aufklärer...