Anforderungen und psychosoziale Schutzfaktoren
Die Arbeitswelt hat sich in den letzten Jahrzehnten beschleunigt, die Anforderungen sind vielschichtig und komplex – eine Herausforderung für die Psyche. Arbeitgeber, Führungspersonen wie auch Arbeitnehmende können dazu beitragen, dass die relevanten Schutzfaktoren Gewicht erhalten.
Arbeitswelt heute
Blitzschnell Entscheidungen treffen, zahllose E-Mails nach Prioritäten beantworten, Informationen zusammentragen und das Wichtigste auch gleich wieder herausfiltern – das ist heute für viele Arbeitsalltag. Und vielleicht geben wir gleichzeitig auch noch einem Arbeitskollegen Auskunft oder besprechen mit dem anderen Elternteil, wer den Nachwuchs von der Krippe abholt. Das ist Dichte pur und fordert unsere mentalen Fähigkeiten ohne Unterlass.
Das Dienstleistungs- und Informationszeitalter stellt besondere Anforderungen an die psychische Gesundheit – darauf sind wir schon im ersten Kapitel (Seite 24) kurz eingegangen. Fragt man Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, was sich sonst noch verändert hat, nennen sie Stichworte wie Transparenz, Optimierung, Dichte, Mobilität, Komplexität und einen grösseren Wahlspielraum. Alle diese Faktoren haben eine positive Seite, aber auch eine schwierige.
Transparenz, Optimierung
Schauen wir dies an einem konkreten Beispiel an. Sie sind bei einer Grossbank angestellt, sind dort zuständig für Hypotheken, haben viel Kundenkontakt. Sie arbeiten also im Dienstleistungsgewerbe, wie die Mehrheit der Arbeitenden heute. Wichtig für Ihre Tätigkeit ist Ihr Fachwissen, aber auch Ihre Beziehungsfähigkeit. Sie müssen gut auf Menschen zugehen können, Sie müssen Ihre Angebote den Bedürfnissen der Kunden anpassen können. Ihre Tätigkeit gab es bereits vor 30 Jahren, und doch ist der heutige Arbeitsplatz anders. Heute kann die Kundin oder der Kunde über das Internet Hunderte von Angeboten in Sekundenschnelle vergleichen, und Sie stehen diesbezüglich unter höherem Druck. Fachlich dürfen Sie sich keine Fehler erlauben, denn der Kunde kann heute jede Ihrer Aussagen online überprüfen. Ihr Arbeitgeber erwartet, dass Sie 120 % in die Beziehung zum Kunden investieren. Er misst die Kundenzufriedenheit. Kundinnen und Kunden können sich vielleicht sogar auf einem Webportal über Sie äussern: wie zufrieden sie waren mit Ihrer Dienstleistung, aber auch, ob ihnen Ihr Anzug gefallen hat oder nicht. Kommentare können unter der Gürtellinie sein, persönlich. Regelmässig erhalten Sie Statistiken darüber, wie viele Hypotheken Sie verkaufen und wie Sie im Vergleich zu anderen Verkäufern dastehen. Mit diesem Druck ist es für Sie klar, dass Sie abends Termine anbieten und E-Mails der Kundschaft auch am Wochenende beantworten.
Transparenz erhöht also den Druck in Bezug auf die Kundenkontakte, auf unser Wissen und unsere Fertigkeiten, auf die Leistung und den Erfolg. Als Kundinnen oder Vorgesetzte schätzen wir das, als Dienstleister und Arbeitnehmerinnen tun wir uns noch etwas schwer damit.
Informationen managen
Ihr Tag ist sehr dicht: Sitzungen, Kundenkontakte, administrative Arbeit, E-Mails. Das zwingt Sie, Ihren Arbeitstag zu optimieren, Leerräume gibt es praktisch nicht mehr. Der ganze Betrieb ist optimiert. Leerräume kosten. Ihr Tag fühlt sich vor allem mental sehr dicht an. Die ganze Zeit sind Sie am Verwerten und am Filtern von Informationen. Sie entscheiden sich ständig, ob Sie auf etwas eintreten wollen, was Sie mit einer Information machen, welche Sie ignorieren können.
Flexibilität, Komplexität
Sie haben aber auch viele Möglichkeiten. Um beim obigen Beispiel zu bleiben: Innerhalb der Bank können Sie eine neue Stelle suchen, oder Sie könnten zu einem Konkurrenzunternehmen gehen. Ihr geografischer Radius ist gewachsen; Sie könnten ohne weiteres in einer anderen Stadt in der Deutschschweiz arbeiten und pendeln. Sie haben aber auch weniger Sicherheit. Es kann sein, dass Ihre Bank die Entscheidung für Sie trifft, dass Sie nun nicht mehr in St. Gallen, sondern am Hauptsitz in Zürich arbeiten. Oder dass Sie gar keine Anstellung mehr haben.
Zugenommen hat auch die Komplexität. Der Entscheid, sich auf einen Teilbereich zu spezialisieren, um Ihre Karriere zu fördern, war im Frühling richtig. Nun wurde Ihr Arbeitgeber von einem ausländischen Unternehmen übernommen, die Ausgangslage wird sich möglicherweise rasch ändern. Und ein Jahr später ist das Ganze nochmals anders.
DIE SCHWEIZERISCHE GESUNDHEITSBEFRAGUNG 2012
Im Auftrag des Bundesrates werden Arbeitnehmende in der Schweiz alle 5 Jahre durch das SECO befragt, zuletzt im Jahr 2012. Neu wurden in dieser letzten Befragung psychische Fak-toren stärker gewichtet. Die Befragung erlaubt aufgrund der Grösse mit 12 277 befragten Erwerbstätigen einen Vergleich zwischen Untergruppen wie verschiedenen Branchen.
Die Daten zeigen oder bestätigen viel Erfreuliches:
▪89,5 % der Erwerbstätigen bezeichnen ihren Gesundheitszustand als gut oder sehr gut.
▪78,9 % der Erwerbstätigen haben eine hohe oder sehr hohe Arbeitszufriedenheit.
▪Die Mehrheit der Mitarbeitenden verfügt über gesundheitsfördernde Ressourcen, die sich in vielen Bereichen mit den im Kapitel «Anforderungen und psychosoziale Schutzfaktoren» (siehe Seite 41) erwähnten Faktoren decken: 85,9 % erleben ihre Arbeit als sinnvoll, 72 % fühlen sich angemessen gewürdigt und 70,2 % fühlen sich unterstützt im Team.
Die Daten zeigen aber klar Schwierigkeiten auf:
▪8,7 % der Erwerbstätigen erleben sich als resigniert oder sehr resigniert. Bei Mitarbeitenden mit Migrationshintergrund sind diese Werte noch höher (von 12,5 % für Menschen aus Nord- und Westeuropa bis zu 26.9 % für Menschen mit nichteuropäischem Hintergrund).
▪16,9 % erleben sich als meistens oder immer gestresst bei der Arbeit, und 18,3 % empfinden sich als «emotional verbraucht».
▪Trotz der heutigen Kopflastigkeit der Arbeit haben körperliche Belastungen zugenommen. Die Daten zeigen, dass der körperliche Effekt der PC-basierten Arbeit unterschätzt wird.
Spannend sind vor allem die Vergleiche zwischen den Branchen:
▪Das Gastgewerbe weist in vier von sieben Bereichen psychischer Belastung die höchsten Werte aus (Zeitdruck, Verbergen von Gefühlen, Konflikte mit eigenen Werten, wenig Mitbestimmung). Zudem zeigt sich ein schwieriges Verhältnis von hoher Belastung und geringen schützenden Faktoren. Deshalb sind die Stresswerte in dieser Gruppe am höchsten.
▪Im Baugewerbe ist vor allem der Zeitdruck hoch, und die Anordnungen werden überdurchschnittlich häufig als widersprüchlich erlebt.
▪Erwerbstätige in der Banken- und Versicherungsbranche leiden vergleichsweise häufiger unter Arbeitsunterbrechungen.
▪Erwerbstätige im Gesundheits- und Sozialbereich haben viele Ressourcen, aber auch eine hohe psychische Belastung. Sie fühlen sich neben Mitarbeitenden im Unterrichtswesen am häufigsten emotional verbraucht, und auch Schlafstörungen sind hier am häufigsten.
▪In der Landwirschaft zeigen sich die höchste Arbeitszufriedenheit und die tiefsten Stresswerte, und auch andere Indikatoren psychischer Belastung sind tief.
INFO «Komplex» ist nicht das Gleiche wie «kompliziert». «Kompliziert» bedeutet, dass ein Problem knifflig ist. Hat man aber die Lösung, kann man sich zurücklehnen. «Komplex» hingegen heißt, dass Sie Ihre Entscheidungen laufend neu bewerten müssen. Ein komplexes Problem löst sich nie, es verändert sich andauernd.
Ein anderes Beispiel: Ihre Firma durchläuft eine größere Reorganisation. Kaum haben Sie sich an die neue Situation gewöhnt und sich angepasst, kommt eine neue Reorganisation. Es heisst, ständig auf der Hut zu sein, alle Varianten durchzudenken, laufend alles wieder und wieder zu evaluieren. Das fordert und ermüdet. Auf der anderen Seite ist es vielleicht auch stimulierend und inspirierend, all diese Freiheiten zu haben.
Vielfalt, Dichte
Dicht ist nicht nur der Arbeitstag, sondern auch Ihre Freizeit. Auch hier haben Sie viele Verpflichtungen, werden berieselt mit Informationen, sind gefordert, Dutzende von Entscheiden zu treffen. Allein die Auswahl eines Ferienhotels ist ein mittelgrosses Projekt. Sie finden so viele Informationen, Sie könnten sich tagelang einlesen, um das beste Hotel in der Toscana zu finden. Und was gewichten Sie wie? Dem Herrn Meier war das Zimmer offenbar zu klein. Was heisst das für Sie?
Oft haben Sie Mühe, allen Bedürfnissen gerecht zu werden. Ihr Arbeitgeber ist beispielsweise nicht sehr teilzeitfreundlich, besonders nicht Ihnen als Mann oder als Frau mit...