Vorwort
Vielleicht kennen Sie das Gefühl: Radiohören kann – ganz unabhängig von etwaigen sprachlichen Unzulänglichkeiten – bisweilen ein großes Ärgernis darstellen. Steht man beispielsweise in einem zwanzig Kilometer langen Autobahnstau aufgrund einer Totalsperre nach einem Lastwagenunfall und muss Lieder wie »Drive« von den Cars, »Life is a Highway« von Tom Cochrane oder »On the Road again« von Willie Nelson über sich ergehen lassen, dann braucht man schon eine ganze Menge Selbstbeherrschung, um nicht unmittelbare Gewalt gegen das Empfangsgerät anzuwenden. Dasselbe gilt für Situationen, in denen nahezu pathologisch gut gelaunte Moderatoren, die heutzutage selten eine Morgensendung, dafür aber umso häufiger eine »Morning-Show« moderieren, von Agenturen zugelieferte Witze erzählen, während man im morgendlichen Pendelwahnsinn bei Schneeregen hinter einem Streugutfahrzeug hertuckern muss.
Nun sind die Sender, beziehungsweise deren Entscheidungsträger, natürlich nicht für einen möglicherweise unpassenden Moment verantwortlich. Doch auch die fortschreitende Digitalisierung des Rundfunks, die es sogar dem Besitzer eines fünfundzwanzig Jahre alten Fiat Uno mit einer Viertelmillion Kilometer auf dem Tacho zumindest theoretisch ermöglicht, in Berchtesgaden den »Offenen Kanal Lübeck« rauschunterdrückt und glockenklar zu empfangen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten der bundesweit über vierhundert zugelassenen Stationen denselben belanglosen Mist spielen.
Aber warum erzähle ich Ihnen das? Nun, auch ich saß an einem trüben Freitagnachmittag vor einigen Jahren in meinem Wagen und navigierte mich ebenso entnervt durch den Berufsverkehr wie durch die Speicherliste meines Autoradios. War ich etwa dem neuen Titel von Justin Bieber gerade noch durch einen beherzten Druck auf die Programmwechseltaste entkommen, landete ich stattdessen wahlweise bei Miley Cyrus, Taylor Swift oder erneut bei Justin Bieber, wenn auch der junge Mann nun ein anderes Stück als soeben bei der Konkurrenz zum Besten gab. Nach weiteren verzweifelten Versuchen, dem gerade so angesagten wie austauschbaren, vorwiegend englischsprachigen Popmusik-Einerlei zu entkommen, erwischte ich durch Zufall einen Sender, in dem etwas Außergewöhnliches vor sich ging: Es wurde, ich konnte es kaum glauben, ernsthaft und ausdauernd geredet!
Mitten auf der hoffnungslos überlasteten Stadtautobahn geriet ich in eine unüberhörbar emotional aufgeladene Debatte über unsere Sprache. Gespannt wartete ich, ob das Gespräch zwischen einem Schriftsteller, einem Historiker und einem Germanistikprofessor durch das übliche, belanglose Hitparaden-Gedudel unterbrochen wurde, aber das war erstaunlicherweise nicht der Fall. Und so durfte ich eine geschlagene Stunde lang einem recht interessanten Diskurs darüber lauschen, ob unser gegenwärtiges Deutsch nun dem Untergang geweiht war oder noch Hoffnung bestand. Am Ende der Sendung herrschte weitgehend Einigkeit über Ersteres, und der Moderator verabschiedete sich mit dem Schlusssatz, dass dies eine Sondersendung anlässlich des morgigen »Tages der deutschen Sprache« gewesen sei. Ein Tag, von dem ich noch nie in meinem gesamten Leben gehört hatte.
Mit all den Aktions- und Gedenktagen war dies ja ohnehin so eine Sache: Ich wusste zwar aufgrund der Vorliebe meiner Frau, dass es immer im August einen »Weltkatzentag« gab. Ab und an las ich auf den letzten Seiten meiner Tageszeitung von einem »Tag des Wasserspülklosetts«, einem »Internationalen Tag der Handtasche« oder dem »Glühbirnenaustausch-Tag«. Es gab schlimme Krankheiten wie Krebs, Diabetes oder AIDS mit eigenen Gedenktagen und nach Ländern unterteilte Vorlieben, die an bestimmten Tagen zelebriert wurden – wie den schwedischen »Tag der Zimtschnecke«, den »Tag des Eierkuchens« in Frankreich oder den »Dan Kravate«, den kroatischen »Krawattentag«. Von einem »Tag der deutschen Sprache« aber, der immerhin seit 2001 an jedem zweiten Samstag im September begangen wurde, wusste und las ich noch nie etwas. Und weil ich davon ausging, dass ich mit dieser Wissenslücke nicht alleine war, wurde ich traurig. Ich fand, dass es sich hierbei im Gegensatz zum »Welttag der Schwertschlucker« (am jeweils letzten Samstag im Februar) um einen sehr sinnvollen Aktionstag handelte. Und diese Sinnhaftigkeit musste umso mehr betont werden, wenn man sich einfach nur mal in seiner näheren Umgebung umschaute und umhörte.
Nachdem die Sendung vorüber war, fielen mir plötzlich all die sprachlichen Anspruchslosigkeiten und entsetzlichen Wortgebilde auf, die alleine entlang meines restlichen Heimwegs auf mich und andere anspruchslos gewordene Endverbraucher lauerten und denen ich vorher längst keine Beachtung mehr geschenkt hatte. Ich las auf großflächigen Plakaten von einem »Maximum Taste«, den man offenkundig erlebte, wenn man nur Pepsi-Cola trank. Ich musste mir Renaults »Créateur d’Automobiles« im Geiste übersetzen, um zu begreifen, dass da ein Automobilbauer allen Ernstes mit dem Wort »Automobilbauer« für sich warb. Und ich wunderte mich, warum die deutsche Lufthansa mitten in Deutschland damit prahlte, dass es »No better Way to Fly« gäbe, obwohl man mit ihr doch einfach »auf eine bessere Weise fliegen« hätte können. Mein Blick fiel auf Schilder von »Back Shops«, »Handy Stores«, »Designer Outlets«, »Hair Companys« oder »City Pubs«. Schlussendlich fuhr neben mir noch ein Lieferwagen mit örtlichem Kennzeichen, auf dessen Heckklappe der Spruch »From Store to Door« gedruckt war und der dann an der Ausfahrt zum »International Convention Center« unserer Stadt rechts abbog.
Zu Hause musste ich nachforschen, was es mit diesem »Tag der deutschen Sprache« auf sich hatte. Ich stieß auf gleich mehrere Initiatoren, die es sich zum Ziel machten, das Bewusstsein für unsere Muttersprache wieder zu stärken. Es ging ihnen darum, dass man nicht jeden sprachlichen Unsinn unkritisch übernehmen sollte, dass man zumindest die grundlegendsten Schreibregeln nicht vergaß und dass man wieder etwas mehr Augenmerk auf eine gepflegte Ausdrucksweise legen möge. Dabei stellte ich fest, dass ich mich rein sprachlich gesehen keinen Deut besser verhielt als die meisten anderen meiner Mitmenschen: Ich sah meine E-Mails durch und bemerkte einen erschreckenden Verzicht auf die Unterscheidung von Groß- und Kleinschreibung. Auch verwendete ich gedankenlos dutzendfach englische Begriffe in meinem Wortschatz und holte mir gelegentlich, ohne mich über die Bezeichnung zu ärgern oder auch nur darüber nachzudenken, ein Mietfahrrad bei »Rent a Bike«, wenn ich keine Lust hatte, mit der »Tram« zu fahren, wie unsere Straßenbahn auf den offiziellen Hinweisschildern genannt wurde, was mir gar nicht aufgefallen war. So konnte es nicht weitergehen.
Am folgenden Tag, dem eigentlichen Aktionstag, bemühte ich mich nach Kräften, meine Sprache zumindest diesem feierlichen Anlass entsprechend von Anglizismen und ähnlichem Lingualmüll zu befreien, was mir natürlich nur unzureichend gelang. Das stellte ich schon beim ungefähr dritten oder vierten »Okay, cool« meinerseits fest, und erst danach zwang ich mich, schlicht »Jawohl« zu sagen, wenn ich meinem Gesprächspartner zustimmen wollte. Auch boykottierte ich leider für die dringend benötigte Autowäsche weder den örtlichen Anbieter »Mr. Wash«, noch verzichtete ich anschließend auf den »Refill« meines »Coffee to go«, weil ich so müde war. Und auch die »Customer-Hotline« meines »Handy-Providers« rief ich am Nachmittag notgedrungen an, weil mein Mobiltelefon wieder einmal abspackte, wie man heutzutage zu sagen pflegte, wenn ein technischer Defekt vorlag. Immerhin verweigerte ich am Abend den »Blockbuster« auf Pro7, aber nur, weil wir bei Freunden zum Essen eingeladen waren.
Alles in allem schien es kein Wunder, dass der »Tag der deutschen Sprache« versandete. Unabhängig von der Allgegenwart der sprachlichen Beliebigkeit um uns herum gab es in meiner Heimatstadt keine Veranstaltung, keinen Zeitungsartikel und keine sonstigen Aktionen, die ein paar mehr Menschen Sinn und Zweck dieses eigentlich dringend notwendigen Tages hätten vermitteln können. Stattdessen las ich in der Lokalpresse einen ausführlichen Bericht über den Welt-Mettbrötchen-Tag, samt eines dazugehörigen Ratgebers, wie man Mett am besten im Kühlschrank aufbewahren sollte.
Also beschloss ich, ein Buch über das Thema zu schreiben – über die Sprache, nicht über die Mettwurst, versteht sich. Immerhin war ich Journalist und als solcher doch beruflich gewissermaßen mit meiner Muttersprache verwachsen. Und so entstand Bin ich denn der Einzigste hier, wo Deutsch kann?, dessen Fortsetzung Sie nun in den Händen halten. Ich schreibe das deshalb an dieser Stelle, weil mich der, nun ja, durchaus erfreuliche Erfolg des Büchleins einerseits dahingehend beruhigt hat, dass es doch noch einige andere Sprachinteressierte zu geben schien, die nicht alle Entgleisungen klaglos hinnehmen wollten. Andererseits hat sich, das muss man leider sagen, der Zustand unserer Sprache seitdem nicht wirklich verbessert. Und so erscheint die Zeit reif für dieses zweite Buch, in dem ich nicht versäumen möchte, darauf hinzuweisen, dass die nächsten »Tage der deutschen Sprache« am 8. September 2018, dem 14. September 2019 sowie dem 12. September 2020 stattfinden. Vielleicht tragen Sie sich diese Termine ja mal vorsorglich in den Kalender ein.
Sie müssen übrigens nicht den ersten Teil gelesen haben, um die folgenden Seiten zu verstehen. Die hier geschilderten sprachlichen Missgriffe stehen allesamt für sich, und wenn Sie nach der Lektüre immer noch keine Magen-, Kopf- oder Ohrenschmerzen haben von all den gedankenlos verwendeten...