Kapitel 1: Leistung, wenn’s drauf ankommt – und das immer wieder
Mit den Themen und Methoden der Sportpsychologie konfrontiert, erklärte ein Mitglied des deutschen Damen-Nationalteams im alpinen Skisport, verständnislos den Kopf schüttelnd, lapidar: »Im Wettkampf ist alles anders, das kann man nicht trainieren!«3 Zuvor war dem Team erklärt worden, das Ziel des sportpsychologischen Trainings bestehe darin, dass man seine Leistung, wenn es drauf ankomme – nämlich zum definierten Zeitpunkt – auch abrufen könne. Was im Training möglich sei, solle man möglichst auch unter Wettkampfbedingungen leisten können.
Doch ist im Wettkampf wirklich alles anders als im Training, wie diese Skifahrerin behauptete? Natürlich nicht, denn die relevanten Dinge (die Ski, der Untergrund, die geforderte Technik etc.) sind weitestgehend identisch mit den Gegebenheiten in der Trainingssituation. Die sportliche Aufgabe ist die gleiche, nur deswegen macht das tägliche Training überhaupt Sinn. Dennoch wird der Wettkampf von der Skifahrerin als etwas völlig anderes erlebt. Der Schlüssel liegt in der Aufmerksamkeit. Im Training sind die Situation und Umgebung vertraut, und selbst bei einem misslungenen Lauf ist nicht mit dramatischen Konsequenzen zu rechnen. Die Skifahrerin kann ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Relevante richten, auf die Tore, die Schneeverhältnisse, ihre Technik. Im Wettkampf dagegen lenken oft Störfaktoren wie Medien, Zuschauer und Fans von der eigentlichen Aufgabe ab. Die Aufmerksamkeit wird auf irrelevante Dinge gerichtet, zum Beispiel auf die Reaktion der Zuschauer oder Pressevertreter. Auch wenn die sportlichen Anforderungen im Training wie im Wettkampf die gleichen sind, führt die gedankliche Beschäftigung mit anderen Dingen dazu, dass der Wettkampf als etwas völlig anderes erlebt wird. Dies kann zu fatalen Leistungseinbußen führen.4
Man kennt das auch aus dem Alltag: Das Singen unter der Dusche ist keine mentale Herausforderung, vor dem Kollegium zu singen allerdings schon. Auch ganz banale Tätigkeiten, etwa das Gehen auf einem einen Meter breiten Gehweg, sind normalerweise kein Problem. Stellt man sich allerdings vor, auf einem einen Meter breiten Grat mit tiefen Abgründen links und rechts gehen zu müssen, wird dies zu einer angsteinflößenden und lähmenden Aufgabe.
Das Phänomen, dass die gleiche Aufgabe unter verschiedenen Rahmenbedingungen als etwas völlig Unterschiedliches wahrgenommen wird, ist bereits in der antiken Philosophie beschrieben worden. Auf den Griechen Epiktet (50–138 n. Chr.), einen Vertreter der stoischen Philosophie, geht der Satz zurück: »Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern unsere Sicht der Dinge.« Die Herausforderung »Wenn’s drauf ankommt« ist anscheinend eine Schwierigkeit, die schon sehr lange mit dem menschlichen Verhalten in Verbindung gebracht wird.
Für das Bestehen in einer Anforderungssituation ist also relevant, worauf die Aufmerksamkeit gelenkt wird und wie man das Wahrgenommene interpretiert und bewertet. Es ist eine mentale Herausforderung, die Aufmerksamkeit situationsangemessen optimal auszurichten. In der Situation des Wettkampfs gilt es, die Wahrnehmung auf jene Dinge zu fokussieren, die gleich bleiben und die mit der zu erledigenden Aufgabe zu tun haben. Doch mit der Wahrnehmung ist das so eine Sache. Bedeutet Wahrnehmung tatsächlich das Erfassen einer objektiven Wirklichkeit? Ist das, was wir von der Umwelt wahrnehmen, also sehen, hören, fühlen und riechen, tatsächlich die Wirklichkeit? An dieser Stelle helfen zum besseren Verständnis ein paar Grundlagen aus der Erkenntnistheorie.
Der Erkenntnistheoretiker Heinz von Foerster, ein Vertreter des radikalen Konstruktivismus, hat den Satz formuliert: »Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners!«5 Nach der konstruktivistischen Philosophie ist Erkenntnis keine Abbildung einer objektiven Wirklichkeit, sondern eine Konstruktion, bei der etwas entsteht, das wir als Wirklichkeit akzeptieren.6 Wir haben gelernt, wie bestimmte Wahrnehmungen zu interpretieren sind, auch weil andere Menschen die Umwelt scheinbar genauso oder ganz ähnlich wahrnehmen wie wir. Wirklichkeit ist allerdings nicht vom Beobachter zu trennen.7
Das widerspricht der verbreiteten Vorstellung, dass die Augen, Ohren und Fingerkuppen die materielle Welt passiv wahrnehmen und so wiedergeben, wie sie ist (Erkenntnistheorie des Realismus).8 Dass dem nicht so ist, erkennt man bereits, wenn man sich mit der optischen Wahrnehmung des Menschen befasst. Denn beim Öffnen der Augenlider wird nicht etwa eine Art »Rollo« hochgezogen, um die Wirklichkeit zu erfassen. Aus der menschlichen Anatomie und Physiologie ist vielmehr bekannt, dass unsere Augen kein objektiv gegebenes Bild, sondern zwei leicht versetzte Bilder erstellen. Diese werden vom linken und vom rechten Auge erzeugt – die Voraussetzung für räumliches Sehen. Beide Bilder sind jeweils mit einem blinden Fleck versehen (die Stelle, an der der Sehnerv das Auge verlässt; hier sind keine Rezeptorzellen vorhanden) und werden »auf dem Kopf stehend« auf die Netzhaut (Retina) projiziert.9 Tatsächlich erfassen wir mit unseren Augen also zwei leicht versetzte Bilder, die auf dem Kopf stehen und in der Mitte ein Loch haben. Unser Gehirn konstruiert daraus ein harmonisches Bild der Welt um uns herum, welches wir für die Wirklichkeit halten. Dass unser Gehirn ein solches Bild konstruieren kann, basiert auf besonderen Fähigkeiten des Wahrnehmungssystems. Genetische Voraussetzungen in Verbindung mit langfristig und damit stabil angelegten Lern- und Erfahrungsprozessen haben diese Fähigkeit entwickelt. Der Wahrnehmungsleistung liegen somit Informationen zugrunde, die unser Gehirn bereits in der Vergangenheit als sinnvoll gespeichert hat.
Viele Beispiele von optischen Illusionen basieren auf diesem Phänomen, zum Beispiel die sogenannte Müller-Lyer-Täuschung (Abb. 1).10 Aufgrund von stabilen Erfahrungen des dreidimensionalen Sehens wird hier die mittlere Linie deutlich länger wahrgenommen, wenn die Pfeilspitzen nach innen zeigen.
Abb. 1: Müller-Lyer-Illusion
In den seltensten Fällen hinterfragen wir unsere gespeicherten Erfahrungen. Normalerweise passt unsere Wahrnehmung ja auch zu der Wahrnehmung anderer. Konstruktivisten nennen dies Trivialisierung – in der Erziehung und in den pädagogischen Einrichtungen der Gesellschaft wird einem beigebracht, wie man bestimmte Dinge wahrzunehmen hat.11 Kann man sich also sicher sein, dass man die Dinge genau so wahrnimmt wie eine andere Person? Solange man sich einig ist, spielt die Antwort keine Rolle. Denn Wahrheit ist ein sozialer Konsens.
Gleichwohl hält jeder Mensch seine eigene Wahrnehmung für die Wirklichkeit. Insofern ist Wahrnehmung immer ein individueller konstruktivistischer Prozess, und dementsprechend ist es – gerade in Anforderungssituationen – relevant, sich mit den Möglichkeiten, aber auch den Einschränkungen der eigenen Wahrnehmung auszukennen und die eigene Wahrnehmung adäquat zu interpretieren: Im Wettkampf ist eben doch nicht alles anders!
Die Wahrnehmung und Interpretation von Wettkampfsituationen verändert sich nochmals gravierend, wenn man bereits erfolgreich war und nun vor der Herausforderung steht, kontinuierlich erfolgreich zu sein. Auch das ist für viele von uns alltägliche Realität. Es reicht bei Weitem nicht aus, einmal erfolgreich zu sein. Es ist völlig normal, dass von uns erwartet wird, auch weiterhin mindestens genauso erfolgreich zu sein. Häufig resultiert also aus erfolgreichem Handeln auch die Erwartung – von einem selbst, der Umwelt, zum Beispiel Vorgesetzten, Freunden und Bekannten oder dem engsten Familienkreis –, diese individuelle Bestmarke erneut einzustellen oder gar zu überbieten.
Letztlich ist es gerade das, was den Sport so reizvoll und spannend für den Zuschauer macht. Es gibt den Favoriten, gewöhnlich denjenigen, der die aktuelle Bestmarke hält, und es gibt die Herausforderer, gegen die sich der Favorit erneut durchsetzen muss. Interessanterweise ist es für viele dominierende Favoriten auch so, dass ihnen der erneute Erfolg von den Zuschauern nicht gegönnt wird und deshalb der Gegner und Herausforderer angefeuert wird.
Es ist sehr viel schwieriger, kontinuierlich erfolgreich zu sein, als nur einmal der Beste gewesen zu sein. Und es gibt in der Tat viele Beispiele dafür, dass der plötzliche, einmalige Erfolg vergleichsweise gar nicht so schwer ist, ja manchmal fast unbeabsichtigt passiert.
Georg Hettich war zu seiner aktiven Zeit ein erfolgreicher Wintersportler. In der Sportart Nordische Kombination (bestehend aus Skisprung und Skilanglauf) war er lange Jahre Mitglied der Nationalmannschaft. Ihm war es jedoch niemals gelungen, einen Weltcupwettbewerb zu gewinnen. Bis zu den Olympischen Spielen 2006 in Turin. Als er hier überraschend die Goldmedaille gewann, sagte er unmittelbar danach in die Fernsehkameras: »Olympiasieger – ich dachte, das gibt es nur im Fernsehen, jetzt bin ich selber einer.«12 Er war von seinem guten Ergebnis sichtlich überrascht, denn er war gar nicht mit der Absicht zu den Olympischen Spielen gereist, dort die Goldmedaille zu gewinnen. Auch nach den Olympischen Spielen konnte er keinen weiteren Weltcup mehr gewinnen. Aber er hat mittlerweile erfolgreich ein Studium...