Einleitung
Manchmal sind wir von unserem Alltag so in Anspruch genommen, dass wir das Gesamtbild aus den Augen verlieren und vergessen, uns zu fragen, wer wir eigentlich sind und was wir im Leben anstreben. Wir arbeiten, ziehen unsere Kinder groß und erfüllen vielfältige Pflichten. Oft bedarf es erst eines einschneidenden Ereignisses, wie zum Beispiel einer lebensbedrohlichen Erkrankung, des Todes eines geliebten Menschen oder einer großen beruflichen Veränderung, damit wir über den Sinn unseres Lebens nachdenken. Wenn wir mit einer Tragödie konfrontiert werden, betrachten wir unser bisheriges Leben, überlegen, was wir hätten anders machen können, und fragen uns, welchen Sinn das alles hat. Erst in diesem Moment wird uns klar, was wir uns am meisten wünschen. Dann lernen wir uns selbst kennen und stellen fest, was uns wirklich wichtig ist.
Das war zumindest die Erfahrung, die ich im Jahr 1995 machte, als bei mir eine lebensbedrohliche Erkrankung diagnostiziert wurde. Das Ganze kam für mich völlig unerwartet. Anfangs, als ich mich ständig müde und erschöpft fühlte, dachte ich noch, es handele sich um eine Grippe, die in wenigen Tagen wieder vorbei wäre. Die Müdigkeit hielt jedoch an und so suchte ich schließlich einen Arzt auf. Er schleuste mich mit zunehmender Dringlichkeit durch immer neue Untersuchungen. Da ich als Professor an der Ohio State University of Medicine tätig war, war es für mich ein Leichtes, mich auf Abruf den angeordneten Untersuchungen zu unterziehen.
Nach einer radiologischen Untersuchung auf potenzielle Leberprobleme erschien ein junger Arzt in einem Laborkittel und sagte: »Sie brauchen eine neue Leber.« Ich fragte ihn, ob die Entfernung der eigenen Leber und die Transplantation einer fremden Leber überhaupt Überlebenschancen böten. »Das ist inzwischen Routine«, antwortete er. »Ihre Überlebenschance beträgt 90 Prozent.« Die Botschaft, dass das Risiko, die Transplantation nicht zu überleben,»nur« bei 10 Prozent lag, klang irgendwie beruhigend, also fragte ich ihn, wann der Eingriff stattfinden würde. »In ein paar Monaten«, sagte er mit einem Lächeln. »Aber verfallen Sie nicht in Selbstmitleid. Ich musste heute schon mehreren Patienten mitteilen, dass sie sterben werden. Sie haben zumindest eine Chance.«
Nachdem ich mit von diesem Schock erholt hatte, holte ich ein zweites und drittes ärztliches Gutachten ein und beschäftigte mich mit der Lektüre über Lebertransplantationen. Die zusätzlichen ärztlichen Gutachten bestätigten nicht nur, dass ich tatsächlich eine neue Leber brauchte, sondern deuteten überdies darauf hin, dass ich möglicherweise an Gallenkrebs litt. Gallenkrebs ist ein Todesurteil.
Was für eine Hiobsbotschaft! Ich versuchte, meine Situation möglichst objektiv zu betrachten, um mein weiteres Vorgehen zu planen. Ich hatte eine Vielzahl von Meinungen qualifizierter Fachärzte eingeholt, die zahlreiche Tests durchgeführt hatten. Und alle kamen zu demselben Schluss – Fehldiagnose ausgeschlossen. Die seltene Autoimmunerkrankung, an der ich litt, war nach übereinstimmender Aussage der Fachleute tödlich, wenn sie unbehandelt blieb, wobei die Behandlung genauso riskant war wie eine Lebertransplantation. Darüber hinaus hatte ich überhaupt keine Chance, wenn sich die dunklen Flecken auf den Aufnahmen tatsächlich als Gallenkrebs erweisen sollten. Ich hatte also ein Riesenproblem.
Eines Sonntags besuchte mich meine Frau im Krankenhaus und bemerkte, dass sich meine üblicherweise gelbliche Gesichts- und Hautfarbe (als Folge meines zunehmenden Leberversagens litt ich unter Gelbsucht) ins Grünliche verändert hatte. Sie rief eine Krankenschwester, die feststellte, dass meine Körpertemperatur über 39,5 Grad lag und weiter stieg. In dem Wissen, dass die grünliche Hautfarbe eine Ursache haben musste, rief sie den diensthabenden Stationsarzt, der mich ansah, als habe er einen Geist vor sich. Selbst der Dümmste hätte an seinem verzerrten Gesichtsausdruck ablesen können, dass mein Zustand nichts Gutes verhieß. »Wie ernst ist meine Situation?«, fragte ich. »Sie ist lebensbedrohlich«, antwortete er. Meine Temperatur war auf über 40 Grad gestiegen. »Sie sprechen hier mit einem Professor eines medizinischen Ausbildungsinstitut «, warnte ich ihn. »Wenn Sie mein Leben nicht retten, dann müssen Sie dem Dekan beibringen, dass niemand meine Studenten unterrichten und die aus Fördermitteln bezahlte Forschungsarbeit zu Ende führen wird. Also senken Sie bitte mein Fieber.«
Glücklicherweise verschlechterte sich mein Zustand nicht weiter. Als ich einige Stunden später aufwachte, war meine Temperatur auf 39 Grad gesunken und meine Hautfarbe hatte wieder ihre übliche gelbliche Tönung angenommen. Trotzdem musste ich weitere neun Tage im Krankenhaus verbringen, um ganz sicherzugehen, dass die Infektion vollständig abgeklungen war. So hatte ich viel Zeit, über den Sinn des Lebens nachzudenken.
Im Angesicht des Todes versuchen wir zu verstehen, was mit uns geschieht. Wir suchen nach einem Sinn und beginnen, uns psychologisch auf den Tod vorzubereiten. Ich begann mein Schicksal zu akzeptieren, bis mir die ganze Tragweite der Auswirkungen auf die Beziehung zu meinen Kindern bewusst wurde. Meine Frau und ich hatten erst sehr spät Kinder bekommen und mein älterer Sohn war noch nicht einmal auf der Highschool. Als ich erkannte, dass meine Söhne mich vielleicht eines Tages brauchen würden, ich aber nicht mehr da wäre, um ihnen zu helfen, war der Tod keine Option mehr. Ich beschloss, zu leben. Egal welche medizinischen Torturen damit verbunden waren: Ich würde nach jedem Strohhalm greifen, um zu überleben.
Nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus ging ich in die Bibliothek, um mehr über meine Erkrankung zu lesen, und beriet mich mit zahlreichen Forschern. Dabei stieß ich auf einige neue, allerdings noch im experimentellen Stadium befindliche Behandlungsformen für meine Autoimmunerkrankung. Ich wählte mit größter Sorgfalt eine dieser Methoden aus und meldete mich sofort für die Behandlung an. Nach sechs Monaten begann sich meine Leberfunktion allmählich zu normalisieren.
Ich erinnere mich an meine persönliche Erfahrung, weil sie mich dazu veranlasst hat, darüber nachzudenken, was meinem Leben wirklich einen Sinn verleiht. Das wiederum war der Zündfunke für die Untersuchungen, welche die Grundlage dieses Buches bilden. Viele Forschung betreibende Psychologen sind davon ausgegangen, dass das menschliche Verhalten von dem Wunsch geleitet wird, sich wohlzufühlen – was ich als Lustprinzip bezeichne. Dieses Prinzip besagt, dass Menschen in erster Linie darauf bedacht sind, ihr Wohlbefinden zu steigern und Schmerzen zu vermeiden. Der einflussreiche Sozialpsychologe N. M. Bradburn hat gesagt, die Qualität des Lebens eines Menschen lasse sich daran bemessen, ob die positiven Gefühle die negativen Gefühle überwiegen.1 Laut Bradburn sind wir glücklich, wenn wir mehr positive als negative Gefühle haben, und unglücklich, wenn die negativen Gefühle dominieren.
Das Lustprinzip besagt, dass sich alle Handlungen eines Menschen durch die Berechnung von Freude und Leid erklären lassen. Es geht davon aus, dass Menschen Optimismus dem Pessimismus vorziehen, weil Optimismus ein größeres Wohlbefinden verursacht. Deswegen sehen sich Menschen auch lieber Filme mit einem Happyend an als solche mit einem traurigen Ende, auch wenn das Happyend im Einzelfall unrealistisch sein mag. Wie erklärt dieses Prinzip den Umstand, dass viele Menschen im Job langweiligen Tätigkeiten nachgehen? Es geht davon aus, dass eine solche Arbeit das geringere von zwei Übeln darstellt, weil für diese Menschen Arbeitslosigkeit voraussichtlich noch viel unangenehmer wäre als ihre derzeitige Tätigkeit.
Die Verfechter des Lustprinzips – auch Hedonisten genannt –, vertreten die These, die Natur bediene sich der Phänomene Freude und Schmerz, um uns dazu zu veranlassen, das zu tun, was für unsere Gesundheit und unser Überleben wichtig ist. Zum Beispiel löst die Natur bei uns ein Hungergefühl aus, um uns mitzuteilen, dass wir etwas essen müssen, und Durst als Signal, dass wir unserem Körper Flüssigkeit zuführen müssen. Da beide Gefühle – Hunger und Durst – unangenehm sind, werden wir dazu motiviert, zu essen und zu trinken, wenn unsere Gesundheit und unser Überleben dies erfordern.
Wenn also jeder Mensch darauf bedacht ist, sein Wohlbefinden zu steigern und Schmerzen zu vermeiden, warum verbringen Workaholics dann so wenig Zeit damit, sich zu entspannen, das Familienleben zu genießen oder Urlaub zu machen? Der Theorie des Lustprinzips zufolge liegt das daran, dass diese Menschen ihre Arbeit über alles lieben und sich rastlos fühlen, wenn sie nicht arbeiten können. Die Verfechter der Lustprinzip-Theorie argumentieren, Workaholics täten tatsächlich das, was ihnen ein Maximum an positiven Empfindungen beschere ...