Von Wahrheit und Wirklichkeit.
Wie Christen und Muslime miteinander leben können
Frank Heinrich, MdB
»Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit!« Dieser viel zitierte Satz, der wohl Kurt Schumacher, dem großen Sozialdemokraten und Widerpart Konrad Adenauers, zuzuschreiben ist, soll hier am Anfang stehen. Ich schreibe diesen Artikel als Mitglied des Deutschen Bundestages, als Politiker. Also versuche ich, die Wirklichkeit zu betrachten. Wer nach der Wirklichkeit fragt, der versucht eine Beschreibung. Es geht ihm – anders als bei der Frage nach der Wahrheit – weniger um eine Bewertung.
Die Frage nach der Wahrheit
Ein Glaubender, sei er Christ oder Muslim oder Jude, fragt nach der Wahrheit. Das ist eine dogmatisch-theologische Frage, eine Frage nach der Konfession, dem Bekenntnis. »Wie hältst du’s mit der Religion?«
Bekenntnisse werden verfasst, um den Glauben zu beschreiben und zu de-finieren, wörtlich: ihn zu begrenzen, ihn abzugrenzen vom Unglauben. Im Bekenntnis gibt es nur »ja oder nein«, »richtig oder falsch«, »gläubig oder ungläubig«. Der Christ betont: »Jesus sagt: ›Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich‹« (Johannes 14,6). Er bekennt: Jesus ist der eine und einzige Weg zu Gott. Mit anderen Worten: Alle anderen Wege sind falsch. Ein Muslim bekennt: »Allah ist der einzige Gott und Mohammed ist sein Prophet.« Das ist die »Schahāda«, das Bekenntnis, und die erste der fünf Säulen des Islam. Mit anderen Worten: Alle anderen Götter sind nicht die wahren Götter, alle anderen Propheten sind nur Vorläufer des einen endgültigen Propheten.
Diese beiden Positionen sind theologisch nicht vereinbar. Sie stehen sich diametral gegenüber. Um es ganz deutlich zu sagen: Für den bekennenden Christen ist der Muslim ein Ungläubiger, für den gläubigen Muslim ist der Christ ein Ungläubiger. Mag es auch viele Gemeinsamkeiten geben wie den Monotheismus, das abrahamitische Erbe, eine Wertschätzung vieler alttestamentlicher Traditionen und auch bestimmte ethische Grundüberzeugungen. Mag Lessing in seiner Ringparabel im Stück »Nathan der Weise« auch sehr plausibel die Begrenztheit der religiösen menschlichen Erfahrung aufgezeigt haben, und mag es auch dem postmodernen westlichen Zeitgeist entsprechen, eine »Wir-glauben-doch-im-Grunde-alle-gleich«-Überzeugung zu haben. Wer sowohl dem Christentum als auch dem Islam wirklich gerecht werden will, der darf vor dieser Einsicht nicht zurückschrecken: Beide sind ihrem Wesen nach exklusive Religionen, beide reklamieren das Heil für sich. Islam und Christentum schließen sich in der Frage nach der Wahrheit gegenseitig aus. Beide nehmen für sich in Anspruch, in ihrem Kern von Gott offenbart und damit unumstößliche Wahrheit zu sein.
Gewalt im Namen der Wahrheit
Für viele (westlich-europäische) Menschen mag das eine erschreckende Nachricht sein. Wir hören in den Nachrichten von »Islamisten« und »Dschihadisten«, von Entführungen durch die Boko Haram, von Enthauptungen durch den »Islamischen Staat« (IS), von Muslimen, die ihren Glauben mit Gewalt ausbreiten, und von einer zunehmenden Gewalt gegen Christen. Aus dem Wahrheitsanspruch wird ein Machtanspruch; Terror und Unterdrückung werden zu legitimen Mitteln der eigenen Mission. Das Christentum dagegen erleben wir als friedlich und aufgeklärt.
Ein Blick auf die Geschichte lehrt uns, dass das nicht immer so war: Der Islam kennt durchaus aufgeklärte Phasen. So wurden die Schriften der großen griechischen Philosophen, die erst den Weg zur europäischen Aufklärung bahnten, von muslimischen Gelehrten überliefert, während sie an christlichen Universitäten im Mittelalter streng verboten waren. Und das Christentum andererseits blickt auf eine wechselhafte, vielfach grausame Geschichte zurück. Neben den viel zitierten Kreuzzügen und Hexenverbrennungen war vor allem die frühe Geschichte der Mission an Gewalt kaum zu überbieten. Nach dem Motto »Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein« haben die Conquistadores unter den indigenen Völkern Amerikas gebrandschatzt, gemordet und vergewaltigt – und all das im Namen des christlichen Glaubens. Diese Geschichte gehört zum Christentum, davor dürfen wir die Augen nicht verschließen.
Genauso wenig können Muslime ihrerseits sagen, die Islamisten seien keine wirklichen Muslime. Bundestagspräsident Norbert Lammert betonte das bei der Gedenkstunde für die Opfer der Anschläge auf das Pariser Satiremagazin Charlie Hebdo. Auch der Islamismus gehört zum Islam. Wer die brutalen Seiten seiner Religion und seiner Geschichte abtrennt, der kann sie nicht verändern, sondern wird sie nur umso stärker radikalisieren.
Als Barack Obama Anfang 2015 beim jährlichen National Prayer Breakfast die Aspekte der Gewalt in der Geschichte des Christentums erwähnte und in Bezug zu islamistischer Gewalt setzte, hagelte aus frommen Kreisen heftige Kritik auf ihn nieder. Man könne die Kreuzzüge nicht mit den Verbrechen der Islamisten vergleichen, hieß es. Denn schließlich sei das eine elementar im Koran selbst angelegt, während im andern Falle Menschen die Bibel verdreht hätten. Nun, wenn es denn so einfach wäre. Natürlich, der Koran spricht vom Dschihad, aber auch Jesus sagt, er sei »nicht gekommen, um den Frieden zu bringen, sondern das Schwert« (Matthäus 10,34). Anderseits bezeichnet der Koran Allah als den Allbarmherzigen, so wie auch die Bibel von der Güte Gottes spricht. Es kommt also darauf an, welche Sure beziehungsweise welchen Bibelvers man seiner Auslegung zugrunde legt. Das ist letztlich eine hermeneutische Frage. Wie verstehe ich die Heilige Schrift meiner Religion?
Mir sind Muslime begegnet, die unter Dschihad den inneren Kampf des Gläubigen verstehen, was wir als Christen auch Heiligung oder »den guten Kampf des Glaubens« (1. Timotheus 6,12) nennen. Ich bin allerdings der Überzeugung: Eine theologische Diskussion wird nur bedingt eine Annäherung bringen können. Eine Minimierung der jeweiligen Glaubensgehalte auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner wird keiner der beiden Religionen tatsächlich gerecht. Denn, wie gesagt, Muslime und Christen glauben nicht das Gleiche. Die Lösung für ein friedliches Miteinander von Christen und Muslimen liegt daher nicht in der Frage nach der Wahrheit. Sie liegt stattdessen in der Frage nach der Wirklichkeit.
Die Betrachtung der Wirklichkeit
Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Begriffen »Wahrheit« und »Wirklichkeit« geht auf den niederländischen Theologen und Islamwissenschaftler Jacques Waardenburg zurück. Seiner Einschätzung nach lässt sich Wahrheit ihrem Wesen nach nicht diskutieren, sondern nur bezeugen. Wo ein Wahrheitsanspruch in die Politik hineinschwappt, ist die Debatte beendet. Gewalt bahnt sich an. Diesen Wesenszug kennt jede Theokratie, nicht nur eine islamistische. Der Dreißigjährige Krieg ist beredtes Beispiel: Katholiken, Lutheraner und Reformierte haben sich im Namen der Wahrheit und ihrer Bekenntnisse gegenseitig umgebracht. Wirklichkeit hingegen lässt sich beschreiben und gestalten. Für Waardenburg, und ich stimme ihm darin zu, liegt damit die Chance für ein friedliches Miteinander der Religionen in der Wirklichkeit, in der Phänomenologie, der täglichen Erscheinungsform von Religion. Nur wer den anderen trotz anderer Glaubensauffassung im Alltag gelten lassen kann, wird Freiheit und Frieden möglich machen.
Wie sieht sie aber aus, diese Wirklichkeit?
Der damalige Bundespräsident Christian Wulff hat in seiner Rede zum zwanzigsten Jahrestag der deutschen Einheit am 3. Oktober 2010 versucht, sie zu beschreiben: »Zuallererst brauchen wir aber eine klare Haltung: ein Verständnis von Deutschland, das Zugehörigkeit nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichte oder einen Glauben verengt, sondern breiter angelegt ist. Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.«
Leider haben viele diese bemerkenswerte Rede nicht in ihrem vollen Wortlaut gehört oder gelesen, sondern nur das Zitat »Der Islam gehört zu Deutschland« wahrgenommen. Die Reaktionen waren heftig. Wie könne ein Bundespräsident eine solche These vertreten? Die deutsche Geschichte sei kulturell und politisch nur im Kontext der Aufklärung und des christlich-jüdischen Abendlandes zu verstehen. Der Islam dagegen sei weder historisch noch substanziell ein Teil Deutschlands. Volker Kauder brachte es auf die Formel: »Die Muslime gehören zu Deutschland, der Islam nicht«, denn der Islam sei nicht kulturprägend.
Was ist da geschehen? Warum blies Wulff ein solcher Gegenwind entgegen? Die Verwechslung der Kategorien Wahrheit und Wirklichkeit ist einer der Gründe. Der Bundespräsident hat versucht, die Wirklichkeit zu beschreiben. Seine Hörer dagegen meinten, er verkünde eine Wahrheit. Die Wirklichkeit ist: Vier Millionen Muslime leben in Deutschland. Die historische Wahrheit ist: Der Islam ist keine der unmittelbaren Wurzeln unserer Kultur – abgesehen von den überlieferten Texten der Philosophen und von vielen Erkenntnissen der Medizin oder der Mathematik, so etwa unserer Ziffern den arabischen Zahlen.
Fremdheit ist ein anderer der Gründe. »Mag sein, dass der Islam zu Deutschland gehört«, sagte ein Mann in einem Radiointerview, »mag sein, dass Wulff recht hat, aber ich fühle es nicht.« Das trifft nun mitten in die Wirklichkeit. Es...